# taz.de -- Die andere Poptheorie: Ich verstehe kein Wort, was für ein toller … | |
> Homeschooling is saving money: Plädoyer für eine strategische Unkenntnis | |
> vom Thema Songwriting und das Recht auf Pathos im Pop. | |
Bild: Adriano Celentano, Meister des Unverständlichen | |
Vor einiger Zeit war ich eingeladen, am Bochumer Institut für Popmusik der | |
Folkwang-Universität etwas zum Thema „Songtexte“ vorzutragen. Am | |
schwierigsten war, mein Hochstapler:innensyndrom im Zaum zu halten | |
und mir nicht anmerken zu lassen, dass ich mich als Vortragende für eine | |
Fehlbesetzung hielt. Stattdessen zwängte ich mich in das Korsett einer | |
souveränen Autorität zum Thema und plädierte für ein ausgewogenes | |
Verhältnis von Text und Musik. | |
Dabei solle das eine niemals das andere dominieren, sondern sie sich | |
gegenseitig als gleichberechtigte Freunde stützen (als sei das immer | |
möglich oder in jedem Fall wünschenswert); ich sprach über den sorgfältigen | |
Aufbau eines musikalisch interpretierten Textgewebes; und darüber, wie | |
überhaupt nur die hyperromantische Epoche mit ihrem Geniekult und ihrem | |
Gewese um Inspiration daran schuld sei, dass Leute heute noch annehmen | |
können, so ein Songtext sei etwas anderes als das Produkt eines | |
gleichförmigen und letztlich eher uninspirierten Prozesses nach Schema F. | |
„Was schaut ihr so erstaunt?“, schrie ich das Publikum an, „ihr seid es | |
doch, die eine Universität besuchen, um das Songtexten zu lernen!“ Die | |
Studierenden der Popmusik guckten immer trauriger, aber ich hielt es in | |
diesem universitären Kontext für angebracht, die Entzauberung | |
voranzutreiben. Wer sich der Täuschung bewusst ist, kann schließlich nicht | |
mehr enttäuscht werden. | |
## Die Mär | |
Spätestens, als ich dazu ansetzte, die Mär vom authentischen persönlichen | |
Erlebnis als alleinigem Ausgangspunkt eines ordentlichen Songtexts zu | |
verbreiten, merkte ich, wie ich Selbstverleugnungsausschlag bekam. Ich ließ | |
das ganze Konstrukt erschöpft in sich zusammenfallen und verließ wortlos | |
den Raum. | |
Eigentlich hatte ich nicht die Bohne Ahnung, wie man einen guten Songtext | |
schreibt. Dafür konnte ich einen guten Songtext erkennen: „My Face“, aus | |
der Feder von US-Singer-Songwriter John Hartford: „My face, I don’t mind it | |
/ I live here behind it / Quite tightly it’s wedged / ’tween my ears / It | |
acts like a wall over which lies the world / So they can’t read my hopes | |
and my fears …“ | |
Das ist ein 1-a-Songtext: rührend, elegant, auch lustig; leichtfüßig, dabei | |
doch deep mit einem Hauch von Melancholie; dazu versetzt mit feinen | |
Metaphern und angenehm unaufdringlichen Unter-, Neben- und | |
Zwischenbedeutungen. | |
Wie man das hinbekommt? Keine Ahnung. Wahrscheinlich muss man dafür ein | |
Folk-, Blues und Countrysänger wie John Hartford sein. | |
## Die Skepsis | |
Aber zurück zu meinem schönen Scheitern am Institut für Popmusik, das mit | |
zwei Dingen zusammengehangen haben mag: zum einen tief verwurzelte, | |
inzwischen auch etwas altbackene Skepsis gegenüber der Akademisierung von | |
Popmusik, zum anderen – ein Kardinalfehler! – das Zugeständnis an | |
vermeintliche Erwartungen, auch diese wiederum dem Institutskontext | |
geschuldet und vielleicht ebenso der Tatsache, dass ich | |
Literaturwissenschaftlerin bin. | |
Da sollte man doch mit jedem Textgenre sicher jonglieren können. Kann man | |
bestenfalls auch. Aber eben von der anderen, der | |
Rezipient:innenseite aus. | |
Stattdessen hätte ich darauf vertrauen sollen, dass es schon einen Grund | |
gehabt haben wird, dass man mich zu diesem Thema eingeladen hat. Und ich | |
hätte eben davon erzählen sollen, dass ich in Bezug auf Songwriting immer | |
erstaunlich naiv geblieben bin und meistens darauf vertraue, dass sich Text | |
und Musik schon finden werden und mich überhaupt nicht dazu brauchen. Macht | |
ihr beiden Slacker mal, sage ich, ich komm dann später dazu. | |
## Das Nichtverstehen | |
Und ich hätte davon erzählen sollen, dass ich nicht nur nicht wirklich | |
verstehe, wie ich selbst Texte komponiere, sondern dass dieses | |
Nichtverstehen bei mir neben einer stets unterschwelligen Ambivalenz | |
gegenüber den Dingen die treibende Kraft für Songschreiben überhaupt ist. | |
Und das nicht nur im Rückblick auf den Schreibprozess, sondern vor allem | |
beim Schreiben selbst: Das Ich, das die Welt nicht verstehen kann – in | |
meiner Welt lässt sich ohne dieses Gefühl und dem Abarbeiten daran kein | |
einziger Songtext und kein einziges Stück Musik zustande bekommen. | |
Nichtverstehen und Popsongtexte gehen ja schon auf einer ganz anderen, | |
weniger existenziellen Ebene wunderbar zusammen. Man denke nur daran, wie | |
der Text in der Pop- und Rockmusik dazu neigt, sich nicht nur aus | |
rhythmischen Erwägungen, sondern auch in kreativen Notlagen an die | |
strukturalen Eigenschaften der Musik anzupassen. | |
Das können Momente sein, in denen gewissermaßen der Unsagbarkeitstopos | |
regiert – „a feeling in my head that I can’t describe“. „YeahYeahYeah… | |
heißt es dann, und „Hopple-di-Pop“, „I caught sight of her | |
rumpty-tump-tum“, „I goes up to the door with my rap-tap-tap“. | |
„A-woo-bop-a-loo-bop“, „Hmm-bob“, „Tutti-Frutti“, „Rama-lama-ding… | |
und „Ri-Fol-the-Diddle-all-day“. | |
## Das Falschverstehen | |
In den Flegeljahren von Pop und Rock ’n’ Roll hatten diese Nonsense-Words | |
oft eine konkrete, außertextliche Funktion: Sie sollten vermeintliche | |
Unanständigkeiten verschleiern. Man wollte schließlich im Radio gespielt | |
werden. Was das Nichtverstehen von Songtexten betrifft, gibt es auch noch | |
eine tolle Unterkategorie, nämlich das Falschverstehen. Verhörer, im | |
US-Englisch auch „Mondegreens“ genannt. Ein Beispiel wäre: „Rettet die | |
Robben“ statt [1][„Let there be Rock“ im gleichnamigen Stück von | |
Tocotronic]. | |
Ich selbst wiederum habe als beginnende Englisch-Lernerin voller Inbrunst | |
die Zeile „Sing majeously“ im Smiths-Song „Asleep“ mitgesungen. Erst sp… | |
stellte sich heraus, dass es „Sing me to sleep“ heißen soll und leider | |
nicht „Sing majeously“. Nicht dass „majeously“ im Englischen eine Bedeu… | |
hätte … | |
Das, wiederum, lässt mich an einen Song von Adriano Celentano aus dem Jahr | |
1973 denken. Er heißt „Prisencolinensinainciusol“ und ist komplett in einem | |
Fantasieenglisch verfasst, auf das selbst englischsprachige Hörer:innen | |
hereingefallen sein sollen. Tenor: Ich verstehe kein Wort, was für ein | |
toller Song! | |
## Banal aber wichtig | |
Letztlich läuft es ja immer auf die Frage hinaus: Was geht im Pop? Und die | |
Antwort muss naturgemäß lauten: Alles. Es geht darum, Beschränkungen – wie | |
eben auch die der Sprache – zu überschreiten. Dazu gehört auch das | |
Durchbrechen von Selbstbeschränkung und Autozensur, etwas, das ich mir | |
selbst immer wieder sagen muss. Es klingt banal, ist aber so unfassbar | |
wichtig. | |
Vielleicht ist das der wichtigste Tipp im Hinblick aufs Songschreiben. Die | |
Grenzen, die ich mir in Bezug auf mein eigenes (in diesem Fall eben: | |
musikalisches/textliches) Handeln setze – aus Angst; aus falsch | |
verstandener Ehrfurcht vor was auch immer; weil ich denke, ich kann es | |
nicht; weil ich denke, ich darf es nicht; weil ich denke, andere denken; | |
weil man es so macht; weil man es so nicht macht –, diese Grenzen haben die | |
Neigung, sich pestartig auszubreiten und alle anderen Bereiche zu | |
kontaminieren. | |
Pop im besten Sinne (um mal den größeren Bogen zu schlagen) ist die | |
Aufhebung dieser Beschränkungen. | |
## Die pathetische Note | |
Damit ende ich auf einer ziemlich pathetischen Note, aber auch das ist Pop: | |
Das Einfordern eines Rechts auf Pathos. Ebenso wie das eines Rechts auf | |
Bathos (nicht Karl Bartos), wie das Gegenteil genannt wird, das | |
Auf-dem-Boden-Herumrutschen und Sich-lächerlich-Machen; diese seltsame, | |
schöne und irritierende Gleichzeitigkeit von Selbsterniedrigung und | |
Selbsterhöhung, die in der Kunst im Allgemeinen, aber besonders in der | |
Popmusik möglich ist. Dieses Ich-Sein und Etwas-anderes-Sein, das | |
gleichzeitig existiert, ohne dass das eine das andere verrät. | |
Und überhaupt: die Koexistenz und Interaktion solcher Widersprüche und | |
Paradoxa und das quasi versöhnliche Aushalten von ihnen. Genauso wie die | |
Akzeptanz des Nichtverstehens und des produktiven, inspirierenden | |
Potenzials des Nichtverstehens. Diese Bereitwilligkeit, etwas | |
Nicht-Verständliches (oder Nicht-gleich-Verständliches) zu akzeptieren – | |
diesen vielbeschworenen unauflösbaren Rest –, all das ist in diesem Maße, | |
glaube ich, tatsächlich nur in der Musik möglich. | |
Und das ist es, was ich den Studierenden am Institut für Popmusik hätte | |
sagen sollen. | |
7 Jun 2025 | |
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## AUTOREN | |
Ebba Durstewitz | |
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