| # taz.de -- Streit um Krisenverordnung: Deutschland lenkt im Asylstreit ein | |
| > Die Bundesregierung wird der umstrittenen Krisenverordnung der EU | |
| > zustimmen. Doch einige Details sind noch unklar, die Verhandlungen dauern | |
| > an. | |
| Bild: Die europäische Krisenverordnung ist für Amnesty International „Verra… | |
| Berlin taz | Deutschland stimmt einer geplanten Änderung des Europäischen | |
| Asylrechts samt [1][der umstrittenen Krisenverordnung] zu. Das hat | |
| Innenministerin Nancy Faeser (SPD) bei einem Treffen mit ihren | |
| Amtskolleg*innen in Brüssel erklärt. „Obwohl wir noch weiteren | |
| Änderungsbedarf hätten und auch darüber hinaus, werden wir heute unserer | |
| Verantwortung gerecht“, sagte Faeser am Donnerstag zum Auftakt der | |
| Verhandlungen. | |
| Die Krisenverordnung, mit der sich die EU gegen eine neue Flüchtlingskrise | |
| wappnen will, war bisher ein Streitpunkt in Brüssel. Die deutsche | |
| Außenministerin Annalena Bearbock (Grüne) hatte sich noch am Montag | |
| öffentlich dagegen ausgesprochen und gesagt, sie ziehe in der Sache mit | |
| Faeser an einem Strang. | |
| Bei einer Pressekonferenz mit dem italienischen Außenminister erklärte | |
| Baerbock am Donnerstag, die deutschen Vorschläge seien über Monate nicht | |
| aufgenommen worden. Nun hätten Faeser und sie ihre „Anliegen zu Humanität | |
| und Ordnung“ in den aktuell debattierten Kompromissvorschlag der | |
| EU-Ratspräsidentschaft hineinverhandelt. Sie hoffe, dass es dafür eine | |
| Mehrheit geben werde. Nach taz-Informationen geht es dabei unter anderem um | |
| die Absenkung von Mindeststandards bei der Unterbringung Geflüchteter. Der | |
| Ausgang der Verhandlungen war zu Redaktionsschluss noch unklar. | |
| In der Vergangenheit hatte Faeser erklärt, die deutsche Zustimmung zur | |
| Krisenverordnung an Bedingungen knüpfen zu wollen. Für die Bundesregierung | |
| sei wichtig, dass ein Mitgliedsland im Ausnahmefall „nicht leichtfertig in | |
| Anspruch nimmt, dann Standards abzusenken“. Zuerst müssten alle nationalen | |
| Maßnahmen ausgeschöpft sein. Wie das zu verhindern sein könnte und wer | |
| genau darüber entscheiden soll, ist aber noch nicht ganz klar. | |
| ## Grüne dementieren Machtwort | |
| Mehrere Medien hatten am Mittwoch berichtet, Bundeskanzler Olaf Scholz | |
| (SPD) habe in der Kabinettssitzung am Mittwoch ein „Machtwort“ gesprochen, | |
| um den Streit in der Koalition über die umstrittene Krisenverordnung zu | |
| beenden. „Wir werden [2][das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem] | |
| verabschieden, das einen Solidaritätsmechanismus zur Aufnahme und | |
| Verteilung von Flüchtlingen vorsieht“, erklärte Scholz am Donnerstag in | |
| einem Interview in der Wirtschaftswoche. Dies sei „ein Wendepunkt“ in der | |
| Asylpolitik. | |
| Viele Grüne dementieren allerdings, dass es dieses Machtwort des Kanzlers | |
| gegeben habe, und sind empört, dass das nun öffentlich anders dargestellt | |
| werde. Ein solches Verhalten „ohne Rücksicht auf den Koalitionspartner“ | |
| werfe „grundlegende Fragen auf, wie eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit | |
| diesem Kanzler aussehen soll, der offenbar versucht, seine Innenministerin | |
| zu schützen“, heißt es aus der Bundestagsfraktion. | |
| Es habe zwar Fortschritte in die richtige Richtung gegeben, sagte der | |
| Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt. „Unterm Strich ist das aber | |
| trotzdem kein gutes Ergebnis.“ In den weiteren Verhandlungen mit dem | |
| EU-Parlament müsse der Rat sich noch einmal deutlich bewegen: „Die Antwort | |
| der EU auf Krisensituationen können doch nicht Massenhaftlager für Männer, | |
| Frauen und Kinder sein“, sagte Marquardt der taz. | |
| Es müsse um eine faire Verteilung innerhalb der EU gehen, statt durch noch | |
| schlechtere Bedingungen an den Außengrenzen dafür zu sorgen, dass mehr | |
| Menschen weiter nach Deutschland fliehen müssen. Marquardt kritisierte auch | |
| den Kanzler: „Am Vorabend der Verhandlungen zu verkünden, dass man sowieso | |
| zustimmen wird, stärkt nicht gerade die deutsche Verhandlungsposition“, so | |
| Marquardt. | |
| Die Krisenverordnung fasst verschiedene Pläne zusammen, die in | |
| Ausnahmesituationen an den Außengrenzen gelten sollen. Konkret benannt | |
| werden „Krisensituationen“, Fälle „höherer Gewalt“ und Situationen, in | |
| denen Geflüchtete von anderen Staaten instrumentalisiert werden. Also etwa | |
| Situationen, in denen in kurzer Zeit viele Geflüchtete in der EU Asyl | |
| beantragen oder wie an der polnischen Grenze im Winter 2021, als das Regime | |
| in Belarus Geflüchtete über die EU-Grenze schickte, um politischen Druck | |
| auszuüben. In solchen Situationen sollen nach der Krisenverordnung | |
| Mindeststandards abgesenkt werden und Regeln ausgesetzt werden können. | |
| ## Menschrechtler*innen sind entsetzt | |
| So sollen unter bestimmten Umständen sehr viel mehr Geflüchtete sehr viel | |
| länger in die umstrittenen Prüfverfahren genommen werden können, die an den | |
| EU-Außengrenzen geplant sind. In Krisenfällen soll das Geflüchtete aus | |
| Staaten mit einer Anerkennungsquote bis 75 Prozent betreffen, im | |
| Instrumentalisierungsfall sogar alle. Die Verfahren sollen zudem auf bis zu | |
| 20 Wochen verlängert werden können. Das soll auch für unbegleitete Kinder | |
| und andere besonders vulnerable Gruppen gelten, für die es ansonsten | |
| eigentlich Ausnahmeregelungen gibt. | |
| Auch die Mindeststandards für die Unterbringung Geflüchteter sollen in | |
| solchen Situationen deutlich niedriger sein. Außerdem ist gar die | |
| Möglichkeit vorgesehen, Geflüchtete an der Grenze einfach abzuweisen, ihnen | |
| also ihr Recht auf Asyl schlicht zu verwehren. | |
| Kritiker*innen bemängeln nicht nur, dass damit die Rechte der | |
| Geflüchteten drastisch eingeschränkt werden und ihnen großes Elend droht, | |
| sondern auch, dass damit [3][eine Art dauerhafter Ausnahmezustand an den | |
| Außengrenzen zementiert würde]. Zudem könnte die Verordnung es Staaten wie | |
| Griechenland ermöglichen, Pushbacks einfacher zu legitimieren und zu | |
| verschleiern. Solche Aktionen, bei denen Geflüchteten das Asylrecht | |
| verweigert wird und sie zurückgezwungen werden, sind klar illegal. | |
| Pro Asyl zeigte sich entsetzt über den Kurswechsel der Bundesregierung. | |
| Ihre Zustimmung in Brüssel „wäre ein Geschenk für die rechten Hardliner in | |
| Europa“, erklärte die Organisation. „Dass der Bundeskanzler nun die | |
| Zustimmung erzwingt, zeigt, dass in der Bundesregierung menschenrechtliche | |
| Erwägungen nichts mehr zählen sollen.“ | |
| ## Kritik von links und rechts | |
| Die Vize-Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, Julia | |
| Duchrow, sprach von „Verrat an den Rechten von Menschen auf der Flucht“. | |
| Die Pläne würden „die bestehenden Herausforderungen der europäischen | |
| Asylpolitik nicht lösen, sondern weiter verschärfen und den | |
| rechtsstaatlichen Zerfall der Europäischen Union vorantreiben“. | |
| Auch die Linke im Bundestag kritisierte den deutschen Kurswechsel scharf. | |
| Dieser werde damit begründet, dass es endlich ein gemeinsames und | |
| einheitliches europäisches Asylsystem brauche, sagte deren fluchtpolitische | |
| Sprecherin Clara Bünger. Dabei gebe es diese längst, es werde nur von | |
| vielen Staaten unterlaufen. „Statt sich für die Einhaltung der bestehenden | |
| Gesetze einzusetzen, trägt die Bundesregierung nun dazu bei, dass deren | |
| Unterschreitung legalisiert wird“, so Bünger. | |
| Scharfe Kritik an den Änderungen des Europäischen Asylrechts übte aber auch | |
| der ungarische Regierungschef Viktor Orbán. „Brüssel will uns den | |
| gescheiterten Migrationspakt vor den kommenden Europawahlen (im Juni 2024) | |
| in den Rachen schieben“, kritisierte er im Kurzbotschaftendienst X, ehemals | |
| Twitter. Ungarn hatte mit Polen und weiteren Ländern zuletzt auch gegen den | |
| Krisenmechanismus gestimmt. | |
| Aktualisiert am 28.09.2023 um 16:09 Uhr. d. R. | |
| 28 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
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| ## AUTOREN | |
| Daniel Bax | |
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| Dinah Riese | |
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