# taz.de -- Pro-Asyl-Juristin über neue EU-Verordnung: „Ein ständiger Ausna… | |
> Die EU-Staaten haben sich auf einen harten Kurs in der Asylpolitik | |
> geeinigt. Nun könnte es noch schlimmer kommen, befürchtet Wiebke Judith | |
> von Pro Asyl. | |
Bild: Kein Durchkommen für Geflüchtete: Grenzschutzbeamte an der griechisch-t… | |
taz: Frau Judith, erst Anfang Juni haben die EU-Innenminister sich auf | |
[1][eine drastische Verschärfung der gemeinsamen Asylpolitik] geeinigt. | |
Jetzt schlagen Pro Asyl und andere Menschenrechtsorganisationen schon | |
wieder Alarm, diesmal wegen der sogenannten Krisenverordnung. Warum? | |
Wiebke Judith: Im Juni haben sich die EU-Innenminister*innen auf die großen | |
Linien verständigt, mit der viele der schlechten Praktiken der letzten | |
Jahre in Recht gegossen werden sollen. Eine besonders gefährliche | |
Verordnung stand da aber noch nicht zur Debatte. Die wird derzeit unter den | |
EU-Staaten verhandelt und von der spanischen Ratspräsidentschaft | |
vorangetrieben: Mit der Krisen- und Instrumentalisierungsverordnung könnte | |
an den EU-Außengrenzen bald ständig eine Art Ausnahmezustand herrschen. | |
Für die Schutzsuchenden dürfte sich die Situation damit noch weiter | |
verschlechtern – weit über das hinaus, worauf sich die | |
EU-Innenminister*innen schon geeinigt haben. Es droht die Verschärfung der | |
Verschärfungen. | |
Was genau steht in der neuen Verordnung? | |
Der Entwurf fasst bisher getrennte Pläne für verschiedene Szenarien | |
zusammen. Es geht um Ausnahmeregeln, die dann gelten sollen, wenn an den | |
Außengrenzen eine Krise eintritt, ein anderer Staat Geflüchtete | |
instrumentalisiert oder in Fällen „höherer Gewalt“. Dann sollen zum | |
Beispiel deutlich mehr Geflüchtete in die neuen Grenzverfahren genommen | |
werden können als bisher geplant. | |
In diese Schnellverfahren [2][unter Haftbedingungen] sollen nach der | |
Einigung vom Juni eigentlich nur solche Geflüchteten kommen, die aus | |
Ländern stammen, deren Asylanerkennungsquote unter 20 Prozent liegt. Und | |
unbegleitete Kinder sind ganz ausgenommen. | |
Diese Ausnahmen werden mit der Krisenverordnung hinfällig. In Krisenfällen | |
sollen Asylbewerber*innen aus Staaten mit einer Anerkennungsquote bis | |
75 Prozent in die Grenzverfahren kommen, im Instrumentalisierungsfall sogar | |
alle. Es ist ziemlich unrealistisch, dass alleinfliehende Kinder hier in | |
der Praxis ausgenommen wären. | |
Außerdem sollen die Verfahren bis zu 20 Wochen dauern dürfen und die | |
Unterbringungsstandards massiv abgesenkt werden. Letztlich kann es mit | |
Asylgrenzverfahren und Abschiebungsgrenzverfahren bis zu 10 Monate Haft | |
geben. Katastrophale Bedingungen sind so programmiert. | |
Grenzübergänge sollen aber auch ganz geschlossen werden können und die | |
präventive Überwachung gestärkt werden, um Grenzübertritte zu verhindern. | |
Und auch die Registrierung neuer Asylgesuche soll laut der Verordnung um | |
Wochen verzögert werden können. Das deckt und legitimiert die Praxis | |
illegaler Pushbacks, weil Betroffene einfach nicht mehr im System | |
auftauchen. So kann man sich nur sehr schwer wehren. | |
Krise, Instrumentalisierung, höhere Gewalt – Was verbirgt sich hinter | |
diesen Bezeichnungen für Situationen, in denen die Verordnung gelten soll? | |
Als Krise gilt laut der Verordnung die Situation, in der eine sehr große | |
Anzahl von Menschen einen Asylantrag stellen will, sodass das | |
Aufnahmesystem in Gefahr ist. Die Kommission meint damit wohl eine | |
Situation wie 2015, als über eine Million Syrer*innen in die EU flohen. | |
Mit Instrumentalisierung ist dagegen ein Fall gemeint, wie wir ihn an | |
Grenze nach Belarus haben. | |
Der belarusische Diktator Alexander Lukaschenko flog Geflüchtete ein und | |
[3][schickte sie über die Grenze nach Polen, Litauen und Lettland], um | |
Druck auf die EU auszuüben… | |
Genau. Ein anderes Beispiel wäre wohl die Situation an der Grenze zwischen | |
Griechenland und der Türkei im Februar und März 2020 gewesen. Der türkische | |
Präsident Recep Tayyip Erdoğan nutzt Geflüchtete immer wieder, um die | |
EU-Staaten zu erpressen. | |
Das Fatale bei dem Ansatz der Krisenverordnung ist, dass die Maßnahmen | |
ausgerechnet gegen die schutzsuchenden Menschen zielen, die in solchen | |
Fällen oft zwischen zwei Staaten in Grenzregionen zerrieben werden. Der | |
Ausnahmezustand an der europäischen Grenze zu Belarus hat zu mehreren Toten | |
und unsagbarem Leid geführt – das kann und darf nie akzeptiert werden. | |
Und die „höhere Gewalt“? | |
Was damit gemeint ist, wird einfach nicht definiert. Das ist | |
hochproblematisch. Woher sollen wir am Ende eigentlich noch wissen, welches | |
Recht wo und warum gilt? | |
Braucht es aber nicht Möglichkeiten, um auf Extremfälle an den | |
EU-Außengrenzen reagieren zu können? | |
Wenn die EU-Staaten gut auf Krisen und überhaupt die Aufnahme von | |
Schutzbedürftigen vorbereitet wären, dann wäre das nicht nötig. Nehmen wir | |
die Situation an der Grenze zu Belarus. Die Krise dort wurde ja erst | |
dadurch hervorgerufen, dass Polen kein Schutzsystem für die Geflüchteten | |
hat und der EU ein funktionierender Verteilmechanismus fehlt. Wenn die | |
Asylbewerber*innen einfach aufgenommen und verteilt würden, wäre man | |
ja gar nicht erpressbar. | |
Im Übrigen gibt es auch jetzt schon im Recht gewisse Vereinfachungen in | |
Ausnahmesituationen – aber eben noch eng umrissen und auch nur so vom | |
Gerichtshof der Europäischen Union akzeptiert. | |
Wie stehen die Chancen, dass die Verordnung tatsächlich beschlossen wird? | |
Eine Entscheidung soll es am Mittwoch, 26. Juli, auf Ebene der ständigen | |
Vertreter in Brüssel geben. Dass die Regierungen der EU-Staaten inzwischen | |
zu sehr harten Schritten bereit sind, haben wir schon im Juni gesehen. Die | |
deutsche Bundesregierung muss dieses Mal aber eine rote Linie ziehen und | |
darf die Krisenverordnung – jetzt und später – nicht akzeptieren. | |
21 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Frederik Eikmanns | |
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