# taz.de -- Soziologe Hartmut Rosa über Corona: „Wir sind in einem Versuchsl… | |
> Die Corona-Pandemie zwingt uns, alles neu zu denken, sagt der Soziologe | |
> Hartmut Rosa. Unsere Gesellschaft könne sich neu erfinden – und hätte es | |
> nötig. | |
Bild: Einfach mal anhalten und die schönen Kirschbäume anschauen | |
taz: Herr Rosa, wo erreichen wir Sie mit unserem Anruf? | |
Hartmut Rosa: Im Schwarzwald. | |
Haben Sie die [1][Empfehlungen der Kanzlerin] befolgt und sind nicht nach | |
Jena gefahren? | |
Es ist dort wirklich alles abgesagt und das meiste geschlossen worden. Das | |
ist eine historisch einzigartige Situation, dass sich der Kalender leert | |
statt füllt. Meistens ist es ja so, dass die Lücken noch mit irgendwelchen | |
Terminen zugestopft werden. Im Moment ist es andersrum: Ich streiche diesen | |
Termin, jenen Termin, diesen Flug … | |
Müssen Sie jetzt umdenken? | |
Ja, und zwar weil es etwas Neues ist. Aber ich vermute, ich bin nicht der | |
Einzige, der plötzlich einen anderen Alltag hat. | |
Sie sind derjenige, der mehr über Entschleunigung geredet hat als viele | |
andere. In Ihrem Buch „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ haben | |
Sie den Verlust an Resonanzerfahrung im Zusammenhang mit einer sich stetig | |
beschleunigenden Welt beschrieben. | |
Ja, und nun haben wir definitiv eine Form der Zwangsentschleunigung, dabei | |
leben wir weiterhin in einer Gesellschaft, die sich eigentlich nur durch | |
Steigerung in ihrer Struktur erhalten kann. Wenn man so etwas anhält, zahlt | |
man in der Regel einen hohen Preis. Den müssen wir sicher noch bezahlen. | |
Wir leben in einer Realität, die auf Steigerung, Dynamik, Wachstum geeicht | |
ist – und die ist nun hinfällig. | |
Weil uns ein Virus dazwischengekommen ist. | |
Der zerfrisst zwar nicht die Flugzeuge oder macht die Schienen kaputt. | |
Vielmehr sind wir es selbst, die in Erahnung, Vermutung, teilweise auch | |
Beobachtung einer Gefahr [2][diese gewaltige Maschine anhalten]. So ein | |
radikales Anhalten hatten wir noch nie. Was dabei herauskommt, steht völlig | |
in den Sternen. | |
Wenn man sich solche Krisenszenarien vor Monaten ausgemalt hätte, wäre man | |
vermutlich auf die Idee gekommen, dass alle hysterisch und aufgeregt sind. | |
Dabei geht doch alles sehr vernünftig ab. | |
Panik ist nicht wirklich zu sehen, da stimme ich zu. Ich mache mir aber ein | |
bisschen Sorgen, dass sich möglicherweise etwas Ähnliches wiederholen kann | |
wie bei der Flüchtlingskrise 2015. Damals, Sie erinnern sich, waren die | |
ersten Reaktionen ja wirklich überwältigend, menschlich und der Situation | |
angemessen. | |
Man konnte richtig begeistert sein! | |
In der Tat, Solidarität, Nächstenliebe und Willkommenskultur an jedem | |
Bahnhof und man dachte: Das ist doch mal ein Zeichen, ein Aufbruch der | |
Gesellschaft. Es hat aber nicht lange gedauert. Und heute haben wir den | |
totalen Verlust der Solidarität und sogar des Mitgefühls mit den Leuten, | |
die an der griechisch-türkischen Grenze stehen. Daher bin ich mir nicht | |
sicher, wie nachhaltig das ist, was wir da gerade an Disziplin, Solidarität | |
und Vernunft sehen. Wir haben eine Ausnahmesituation, die sich ambivalent | |
anfühlt. | |
Welche Zwiespältigkeiten empfinden Sie? | |
Auf der einen Seite haben wir diesen notorischen, lange eingeübten | |
Aktivitätsdrang: Die Welt wird zum Aggressionspunkt, man muss ganz viele | |
Dinge tun. So eine Haltung verschwindet ja nicht von heute auf morgen. Sie | |
verlagert sich aber derzeit fast ganz in die digitale Welt. Da rasen die | |
Ströme immer noch, man denkt, man muss mal diesen Bekannten hier | |
anschreiben, sich dort erkundigen, den Guardian checken, die New York | |
Times, die sozialen Medien. | |
Dem steht eine massive Verlangsamung im realen physischen Leben gegenüber. | |
Wo man sich einerseits stillgestellt und ausgeschlossen fühlt, andererseits | |
plötzlich neue Formen von Solidarität und neue Formen von Zugewandtheit | |
entdeckt. | |
Das überrascht Sie wirklich? | |
Nein. Darauf will ich ja schon länger hinaus, mit dem, was ich schreibe. | |
Dass das Hamsterrad sich dreht und dies immer schneller tut, das zwingt uns | |
in einen Aggressionsmodus gegenüber der Welt. Dadurch verschließt man sich | |
gegenüber Wahrnehmungen aller Art. Akustische Signale, optische, solche von | |
Nachbarn: Wer und was auch immer mir begegnet, ich blende sie aus, weil ich | |
es ja eilig habe und ein Ziel verfolge, effizient sein muss. | |
Und jetzt plötzlich gibt es fast nichts mehr zu tun. Meine Welt ist | |
räumlich und zeitlich sehr eingeschränkt auf den unmittelbaren Nahbereich: | |
Ich kann nicht weit weg gehen und nicht weit in die Zukunft planen. Ich | |
nenne das eine radikale Weltreichweitenverkürzung. Und dann öffnet man sich | |
wieder in einen Modus, den ich als Resonanzmodus beschreibe, nämlich: | |
hören, wahrnehmen und antworten, ohne auf etwas Bestimmtes hinauszuwollen, | |
ohne optimieren zu müssen. | |
Dieses Resonanzmoment ist aktuell der gemeinsame, oder? | |
Im Grunde bin ich überzeugt davon, dass nur in Resonanzbeziehungen und | |
-momenten Neues entstehen kann. Und deshalb würde ich durchaus sagen, wir | |
sind in einem kollektiven Resonanzmoment. In einer Situation, in der wir | |
alle hinhören, uns füreinander und die Welt öffnen und eine Antwort finden | |
können. Und da kann, im Sinne von Hannah Arendt, vielleicht etwas kollektiv | |
Neues entstehen. Die Gesellschaft kann sich neu erfinden. Und ja, sie hätte | |
es bitter nötig. | |
Die Krise als Chance, wie es bei manchen schon heißt? | |
Wenn man nach optimistischen Deutungen der Lage sucht, würde ich sagen, | |
genau darin liegt die Chance: Dass man neue Formen der Erfahrung des | |
In-der-Welt-Seins und Miteinander-Umgehens erlebt, von denen wir vielleicht | |
auch profitieren oder zehren können, wenn die ökonomischen Konsequenzen, | |
die unerfüllbaren Steigerungszwänge zuschlagen. | |
Der radikale, auch ökomische Stopp in unserer auf Steigerungslogik | |
aufgebauten Gesellschaft, macht Ihnen das Angst? | |
Die Sorge ist natürlich, [3][dass die Arbeitsplätze verloren gehen], die | |
öffentlichen Haushalte ins Ungleichgewicht geraten, das Gesundheitssystem | |
nicht aufrechterhalten werden kann. Die Frage ist, wie diese Art von | |
Gesellschaft, die wir ja etabliert haben, mittelfristig oder langfristig | |
leben kann mit einem derart reduzierten Tempo. Da muss man sich | |
institutionelle Veränderungen einfallen lassen, aber vielleicht ist diese | |
jetzt viral ausgelöste Krise genau der Punkt, an dem wir einen Übergang | |
schaffen. | |
Ich meine, seit dem Club-of-Rome-Bericht Anfang der siebziger Jahre träumt | |
man davon irgendwie, die Zahl der Emissionen zu reduzieren oder diesem | |
Wachstumswahnsinn irgendwelche Riegel vorzuschieben. Und wir waren dazu | |
vollständig unfähig, kluge Bücher, Konferenzen, taz-Konferenzen und | |
anderes, haben sich dieses Wachstumszwangs oder der Steigerungslogik | |
angenommen, die Klimakrise bedroht uns immer stärker – und es hat sich | |
überhaupt nichts verändert. Aber das Virus schafft es im Handumdrehen, | |
diese riesige Maschine anzuhalten. Das ist absolut faszinierend. | |
Eine Krise ohne Feind? | |
Das Virus ist der Feind, nicht nur der französische Präsident Emmanuel | |
Macron hat ihm den Krieg erklärt. Dieser Feind repräsentiert das | |
gesellschaftlich Unverfügbare: Wir haben das wissenschaftlich nicht im | |
Griff, wir können es medizinisch nicht bearbeiten, es gibt keine Impfung, | |
wir können die Ausbreitung politisch nicht stoppen, es gibt keine | |
Regulierung, die ökonomische Konsequenz wird immer finsterer. | |
Das finde ich wirklich interessant, das beschäftigt mich theoretisch im | |
Moment am meisten. Weil ich die Krise ein bisschen so lese wie das letzte | |
Kapitel meines Buches über Unverfügbarkeit, das den Titel trägt: „Die | |
Rückkehr der Unverfügbarkeit als Monster“. | |
Ein anonymisierter Prozess, oder? | |
Hinter unserem Rücken kriecht Unverfügbarkeit in alle alltagspraktischen | |
Ebenen des Lebens hinein. Weil wir den Virus nicht hören, nicht riechen, | |
nicht schmecken. Plötzlich wissen wir nicht, ob die Klinke oder der | |
Geldschein, den wir berühren, einen potenziell tödlichen Keim mit sich | |
trägt. Es ist schon ein Feind im Spiel, aber zum Glück hat dieser Feind | |
momentan keine nationale oder politische oder personelle Komponente. | |
Wie lange kann die Gesellschaft so etwas durchhalten? | |
Im Moment ist es ja so, dass die meisten Leute, gerade die Jüngeren, sagen: | |
Eigentlich bin ich nicht gefährdet, aber ich verhalte mich solidarisch mit | |
den Älteren und den Schwachen … | |
… jedenfalls die allermeisten. | |
Die Frage ist, wie sich das langfristig auswirkt. Da bin ich nicht so | |
überzeugt, dass die Corona-Erfahrung ausreicht, um uns plötzlich in durch | |
und durch zivilisierte Menschen zu verwandeln. Wir sollten nicht blauäugig | |
sein. | |
25 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
Edith Kresta | |
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