| # taz.de -- Wie sehr verändert uns Corona?: Der Seismograf | |
| > Zwischen Eis essenden Menschen auf einem Platz in der Stadt sah ich einen | |
| > Hund. Er schien zu bemerken, dass etwas anders ist. | |
| Bild: Irritieren die Abstandsregeln auch die Tiere? Hund in einer leeren Fußg�… | |
| Ein Platz. Ein Fenster, daraus wird Eis gereicht. Vanille, Erdbeere, | |
| Karamell. Die Leute stehen an. Zwei Meter. Ein Mensch. Zwei Meter. Mit Eis | |
| auf der Zunge gibt es kein schöneres Früher oder besseres Später. Nur | |
| Erdbeere, Vanille. Sonnenlicht. Ein Tag, der in bester Ordnung scheint. | |
| Ein Mann hat kein Eis in der Hand. Er trinkt ein Bier, trägt einen | |
| Strohhut. Er lächelt verschmitzt. Er sieht aus wie ein Abenteurer, ein | |
| Überlebender wie in den Weltuntergangsfilmen, den es auf wundersame Weise | |
| nie erwischt. Der wie eine Katze auf alle vier Pfoten fällt. | |
| Um den Mann läuft ein Hund, mittelgroß, mit braunem, zotteligem Fell. Der | |
| Mann schaut den Hund an und den Platz, als würde er sich ein Bild ansehen. | |
| Als hätte er einen inneren Abstand zu all dem Abstand um ihn. Sein Hund | |
| läuft im Kreis. Die ganze Zeit. Eine Runde um die nächste, er weicht den | |
| Menschen aus, kommt an sie heran, läuft zum Mann und wieder von ihm fort. | |
| Der Mann schüttelt den Kopf, lacht: „Der Hund ist verrückt geworden“, sagt | |
| er. | |
| „Seit ein paar Wochen ist das so. Seitdem das mit Corona ist. Der spürt die | |
| Angst der Leute. Dass die Menschen anders sind, dass sie sich komisch | |
| verhalten.“ Der Hund dreht eine weitere unruhige Runde. Ein Lauf ohne Ziel, | |
| als wolle er etwas suchen und gleichzeitig loswerden. Dabei ist doch auf | |
| dem Platz gerade alles gut. Aber nichts ist gut. Der Hund läuft im Kreis. | |
| Der Hund dreht durch. | |
| „Normalerweise ist er nicht bissig“, sagt der Mann. „Aber jetzt schnappt … | |
| manchmal. Die Hunde, die schmecken das. Tiere spüren die Atmosphäre.“ Der | |
| Hund schnüffelt auf dem Boden, zuckt mit dem Kopf. „Der Hund ist von meiner | |
| Freundin. Als sie gestorben ist, habe ich ihn übernommen. Ich wollte ihn | |
| eigentlich nicht. Aber ich wollte ihn auch nicht ins Tierheim geben. Da | |
| hätten sie ihn bald eingeschläfert.“ | |
| Ein anderer Mann kommt hinzu. Der Mann mit dem Hut erzählt wieder von | |
| seiner Freundin, dem Tod, dem Hund, der seit dem Virus die Angst spürt. So | |
| entspannt er wirkt, so sehr scheint es ihn doch zu beschäftigen, was mit | |
| dem Hund ist, seinem Gefährten. Der nun wie ein Seismograf auf die | |
| feinstofflichen Schwingungen reagiert. Wie Kanarienvögel, die früher mit in | |
| die Minen genommen wurden, weil die Arbeiter durch ihr Verhalten früher | |
| bemerkten, wenn der Sauerstoff knapp wurde. Was für eine Gefahr nimmt der | |
| Hund gerade wahr? | |
| „Er ist ’ne Straßenkötermischung“, sagt der Mann. „Der ist irgendwo a… | |
| Treppe gezeugt worden.“ Er grinst. „Er ist 15 Jahre alt. Lang lebt er nicht | |
| mehr.“ Was wird mit dem Mann sein, wenn der Hund stirbt? Der Hund, der die | |
| letzte lebendige Verbindung zu seiner Freundin ist. Er läuft ja jetzt schon | |
| fort vom Mann. Als würde er nach einer neuen Verbindung suchen. Wie ein | |
| Handy, das den Empfang ortet und ortet und doch nirgendwo andockt. | |
| Es gibt Untersuchungen zu einem sogenannten morphogenetischen Feld, das | |
| alle Lebewesen miteinander verbinden soll. Dass sie unabhängig voneinander | |
| Schwingungen spüren und sich deswegen über Distanzen hinweg ähnlich | |
| verhalten. Der Hund wirkt wie ein Symptom dieser unsichtbaren Atmosphäre. | |
| Die Nähe zwischen Mensch und Mensch ist gestört. Die Codes, die | |
| Körpersprache, die Alltagsrituale, auf die wir uns verlassen konnten. Die | |
| Körper ordnen sich nun anders im Raum. Unsere Mimik ist verdeckt. Wie | |
| „ver-rückt“ uns das alles wirklich? Wie sehr? Und wie nachhaltig? | |
| Vielleicht irritiert den Hund ja weniger, dass sich die Menschen anders | |
| verhalten, sondern vor allem, wie sie sich „zu-einander“ verhalten. In den | |
| letzten Wochen haben die Maßnahmen ein neues soziales Korrektiv geschaffen. | |
| Menschen beginnen sich gegenseitig in ihrem Verhalten zu korrigieren, und | |
| auch zu denunzieren, wenn sie nicht den Codes entsprechen. Das Virus | |
| breitet sich aus, auch wenn wir das Virus nicht haben. Wir haben uns alle | |
| mit seinen erweiterten Symptomen angesteckt. | |
| Der Hund macht noch größere Runden. Er hört nicht mehr auf den Mann. Der | |
| Hund, von dem es heißt, dass er der loyalste Freund des Menschen sei, | |
| entfernt sich. Der Mann trinkt sein Bier, er lächelt, als würde er es | |
| akzeptieren. Er lässt ihn, er korrigiert ihn nicht. Als spürte er, es ist | |
| Zeit, dass der Hund so lebt, wie er leben will. | |
| 17 May 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Christa Pfafferott | |
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