# taz.de -- Seenotretterin über Meloni: „Italiens Regierung führt einen Kri… | |
> Marie Banck wurde mit ihrem Schiff „Nadir“ von Italien festgesetzt. Auch | |
> an der Bundesregierung übt sie Kritik. | |
Bild: „Jeder Tag, an dem ein Schiff nicht im Einsatz ist, kann Menschenleben … | |
taz: Frau Banck, vor knapp zwei Wochen wurde das zivile | |
Seenotrettungsschiff „Nadir“, auf dem Sie sich befinden, von der | |
italienischen Küstenwache festgesetzt. Insgesamt 20 Tage darf die „Nadir“ | |
nicht weiterfahren, außerdem droht ein Bußgeld in Höhe von bis zu 10.000 | |
Euro. Wie kam es zu der Festsetzung? | |
Marie Banck: Wir hatten gerade 112 Menschen von einem seeuntüchtigen | |
Holzboot gerettet. Viele von ihnen waren dehydriert, seekrank und brauchten | |
medizinische Versorgung. Die italienische Küstenwache hat uns dann den | |
schriftlichen Befehl erteilt, den Hafen von Lampedusa anzusteuern. Nachdem | |
wir mehrere Stunden in Richtung Lampedusa gefahren waren, hat uns die | |
Behörde per Funk aufgefordert, besonders schutzbedürftige Menschen an ein | |
Schiff der Küstenwache zu übergeben. Die übrigen Menschen sollten wir nun | |
doch in einen anderen Hafen, ins 22 Stunden entfernte Sizilien, bringen. | |
Wir hatten erhebliche Sicherheitsbedenken. | |
taz: Welche? | |
Banck: Bei dem damaligen Seegang und dem vollen Deck wäre es nicht | |
ungefährlich gewesen, von einem Schiff aufs andere überzusteigen. Besonders | |
für ohnehin physisch geschwächte Menschen. Im schlimmsten Fall kann man | |
dabei ins Wasser fallen oder sich Gliedmaßen zwischen den beiden Booten | |
einklemmen. Außerdem wären durch die Übergabe Familien getrennt worden. | |
Diese Bedenken haben wir der Küstenwache mitgeteilt. | |
taz: Wie hat die reagiert? | |
Banck: Sie hat uns angewiesen, Lampedusa weiter anzusteuern. Zu einer | |
Übergabe kam es also nicht. Dort angekommen, haben wir den Hafenmeister, | |
der zur Küstenwache gehört, angefunkt und erneut um Erlaubnis gebeten, in | |
den Hafen einzulaufen. Diese hat er uns per Funk erteilt. Nachdem die | |
geretteten Menschen von Bord gegangen sind, haben wir am nächsten Morgen | |
erfahren, dass wir den Hafen nicht mehr verlassen dürfen. | |
taz: Die italienische Küstenwache wirft Ihnen vor, deren Anweisungen | |
missachtet zu haben, und argumentiert, dass Sie die libysche und tunesische | |
Küstenwache nicht kontaktiert hätten, obwohl Sie dazu verpflichtet gewesen | |
wären. Haben Sie maritimes Recht verletzt? | |
Banck: Nein. Wir haben versucht, sowohl die libysche als auch die | |
tunesische Küstenwache zu kontaktieren. Das Problem ist: die | |
Telefonnummern, die dort hinterlegt sind, funktionieren oft gar nicht, die | |
Behörden sind zudem nicht kooperationsbereit. Die sogenannte Küstenwache in | |
Libyen verfolgt nicht das Ziel, Menschen zu retten. Vielmehr werden | |
Schutzsuchende abgefangen und verschleppt. In Libyen droht ihnen häufig | |
Haft und Folter. Weder Tunesien noch Libyen können als sicherere Häfen für | |
Schutzsuchende gelten. | |
taz: [1][Anfang 2023 hat die von der rechtsextremen Fratelli d’Italia | |
geführte Regierung das sogenannte Piantedosi-Dekret verabschiedet], auf | |
dessen Grundlage auch die „Nadir“ festgesetzt wurde. Was bedeutet das | |
Gesetz für Rettungsmissionen? | |
Banck: Das Dekret behindert die zivile Seenotrettung erheblich. Seit | |
Einführung müssen Schiffe nach einer Rettung sofort den von der Küstenwache | |
zugewiesenen Hafen ansteuern. Selbst wenn ein Schiff Platz für weitere | |
hundert Menschen hätte, muss es seine Patrouille abbrechen, sogar wenn nur | |
eine einzelne Person gerettet wurde. Außerdem weisen die italienischen | |
Behörden den Rettungsschiffen häufig nicht den nächstgelegenen Hafen zu, | |
sondern einen, der mehrere Tage Fahrt entfernt ist. Dadurch verlieren | |
Rettungsschiffe viel Sprit, Zeit und Geld. Für die geretteten Menschen ist | |
die unnötig lange Reise auf See extrem belastend. | |
taz: Die italienische Regierung argumentiert, dass es auch für NGOs klare | |
Regeln brauche, das Gesetz solle Ordnung schaffen. Ist das nicht | |
grundsätzlich ein berechtigtes Vorhaben? | |
Banck: Der Vorwurf, Schiffe der zivilen Seenotrettung würden sich nicht an | |
Regeln halten, ist völlig aus der Luft gegriffen. Wir halten uns strikt an | |
maritimes und internationales Recht. Das Piantedosi-Dekret ist ein in | |
Gesetzesform gegossenes Repressionsinstrument und ordnet sich in die | |
europäische Abschottungspolitik ein. Die italienische Regierung will nicht | |
für Ordnung sorgen, sie führt einen Krieg gegen Migration. | |
taz: In welchem Ausmaß wurden Rettungsaktionen durch das Piantedosi-Dekret | |
bisher behindert? | |
Banck: [2][Die NGO SOS Humanity hat ausgerechnet, dass Schiffe der zivilen | |
Seenotrettung innerhalb eines Jahres 374 Tage am Einsatz gehindert wurden], | |
weil sie weit entfernte Häfen ansteuern mussten oder festgesetzt wurden. | |
Jeder Tag, an dem ein Schiff nicht im Einsatz ist, kann Menschenleben | |
kosten. | |
taz: Die „Nadir“ ist schon seit 2021 auf Rettungsmissionen unterwegs. Es | |
ist das erste Mal, dass das Schiff festgesetzt wurde. Warum gerade jetzt? | |
Banck: Für uns kam das überraschend. Bisher wurden Segel- und Kleinschiffe | |
wie die Nadir meist verschont. Außerdem wurden seit einigen Monaten keine | |
Rettungsschiffe mehr festgesetzt. Anderseits war uns klar, dass die | |
italienische Regierung sich darauf vorbereitet, zivile Seenotrettung noch | |
schärfer zu kriminalisieren als bisher. | |
taz: Inwiefern? | |
Banck: Im Oktober und Dezember wurden Gesetzesänderungen beschlossen, die | |
die Regeln weiter verschärfen. Dazu gehört etwa das sogenannte | |
Flussi-Dekret, durch das Schiffe häufiger und länger festgesetzt werden | |
können. Meine Einschätzung ist: Unsere Festsetzung war nur der Auftakt im | |
nächsten Kapitel staatlicher Repression gegen zivile Seenotrettung. So | |
wurde kurz nach uns auch die „Sea Eye 5“ im Hafen festgesetzt. Die Aktion | |
folgt einem ähnlichen Muster: Die italienischen Behörden haben dem Schiff, | |
das gerade 65 Menschen von einem Schlauchboot gerettet hatte, einen weit | |
entfernten Hafen zugewiesen. Die Crew hatte Sicherheitsbedenken und bat um | |
die Zuweisung eines näher gelegenen Hafens. An Bord befanden sich mehrere | |
Schwerverletzte, für die die lange Seereise eine große Gefahr bedeutet | |
hätte. Nach langem Warten stimmten die Behörden zwar zu, setzten das Schiff | |
dann aber im Hafen fest. Diese Festsetzungen sind eindeutig politisch | |
motiviert. | |
taz: Die „Nadir“ liegt nun schon seit fast zwei Wochen im Hafen, die ersten | |
Tage in Lampedusa, jetzt im Hafen von Empedocle, Sizilien, in dem Sie den | |
Rest der 20 Tage festgesetzt sind. Wie sehen die Tage an Bord aus? | |
Banck: Wir sind sehr frustriert. Über Funk bekommen wir mit, dass es gerade | |
jetzt viele Notfälle gibt. Aktuell machen sich viele Menschen auf den Weg | |
übers Mittelmeer, weil die Wetterbedingungen nach längerer Zeit wieder | |
stabil sind. Vor ein paar Tagen wurde uns ein Fall gemeldet, bei dem | |
Menschen für mehrere Tage auf einer verlassenen Ölplattform verbringen | |
mussten. Eine Frau hat dort ihr Kind zur Welt gebracht. Wir wissen, dass | |
wir im Einsatz gebraucht werden, müssen aber im Hafen ausharren. Wir | |
versuchen Arbeiten am Schiff zu erledigen und verständigen uns intern über | |
mögliche rechtliche Schritte. | |
taz: Wie könnten staatliche Akteure die zivile Seenotrettung unterstützen? | |
Banck: Wir fordern, dass Seenotrettung nicht mehr hauptsächlich zivilen | |
Akteuren überlassen wird. 2015 waren Schiffe mehrerer EU-Staaten im | |
Mittelmeer präsent und haben Menschen in Not gerettet. Inzwischen klafft | |
dort eine politisch gewollte Lücke, die die zivile Seenotrettung mit ihren | |
begrenzten Kapazitäten nicht füllen kann. Außerdem braucht es Geld. | |
[3][2022 hatte die Ampelregierung beschlossen, private Seenotrettung für | |
vier Jahre mit insgesamt 8 Millionen Euro zu unterstützen.] Das ist zwar | |
keine große Summe, war aber ein starkes Zeichen. Unter Schwarz-Rot wird es | |
so was wohl nicht mehr geben. Zudem hat die Spendenbereitschaft seit 2015 | |
deutlich abgenommen. Der Staat muss sich endlich selbst für eine | |
funktionierende Seenotrettung einsetzen. | |
taz: Auch staatliche Akteure könnten wohl nicht jedes Seeunglück | |
verhindern. | |
Banck: Wovon wir wirklich träumen sollten, sind sichere Fluchtrouten. Ohne | |
die rassistische Grenzpolitik der EU gäbe es die Probleme, mit denen die | |
zivile Seenotrettung konfrontiert ist, nicht. | |
20 Jun 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Vorwuerfe-gegen-Italien-bei-EU-Kommission/!5944839 | |
[2] https://sos-humanity.org/wp-content/uploads/2024/06/2024_Report_Menschlichk… | |
[3] /Fluechtlingspolitik-im-Haushaltsausschuss/!5894549 | |
## AUTOREN | |
Joscha Frahm | |
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