# taz.de -- Regierungskrise in Thüringen: Ein Bundesland steht still | |
> Wie kommt das Land Thüringen wieder zu einer funktionierenden Regierung? | |
Bild: Blieben seit der Regierungskrise in Erfurt leer: vier Thüringer Sitze im… | |
## 1. Wie geht es jetzt weiter? | |
Schwer zu sagen, denn im Thüringer Landtag gibt es derzeit fast täglich | |
Überraschungen. Doch seit am Mittwochmorgen der Versuch gescheitert ist, | |
eine Übergangsregierung unter der [1][früheren CDU-Ministerpräsidentin | |
Christine Lieberknecht] zu bilden, bleiben eigentlich nur noch zwei | |
Optionen: Neuwahlen oder eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung, die mit | |
Hilfe der CDU ins Amt kommt. | |
Man kann also sagen: Thüringen ist zurück auf „Los“. Da die CDU Neuwahlen | |
unbedingt verhindern will, diese aber ohne ihre Stimmen nicht zu erreichen | |
sind, bleibt eigentlich [2][nur die zweite Variante]. Dafür aber müssten | |
vier Abgeordnete der CDU bei einer erneuten Ministerpräsidentenwahl für den | |
Linken Bodo Ramelow stimmen, was ein Beschluss des Bundesparteitags | |
eigentlich untersagt – [3][weshalb die CDU das bisher ausgeschlossen] hat. | |
Doch schon an jenem verhängnisvollen 5. Februar, als schließlich FDP-Mann | |
Thomas Kemmerich mit den [4][Stimmen von CDU, FDP und AfD gewählt wurde], | |
hatte Ramelow zunächst zwei Stimmen mehr bekommen, als Rot-Rot-Grün hat. | |
Am Mittwochnachmittag nun kam eine kleine Verhandlungsrunde von | |
Rot-Rot-Grün und CDU erneut zusammen, bei Redaktionsschluss tagte sie | |
noch. Doch Beschlüsse soll es ohnehin erst am Freitag geben, wenn die große | |
Runde wieder zusammenkommt. Mike Mohring, der allerdings [5][Fraktionschef | |
auf Abruf] und an den Verhandlungen selbst nicht beteiligt ist, sagte, die | |
CDU wollte dort einen neuen Vorschlag unterbreiten. Worin dieser bestehe, | |
sagte er nicht. | |
Doch er betonte, dass Lieberknechts Analyse klug sei und sie richtig | |
zusammengefasst habe, welche Möglichkeiten nun bleiben. Lieberknecht hatte | |
gesagt: „Wer keine Neuwahlen will, muss Bodo Ramelow zu einer Mehrheit im | |
Landtag verhelfen.“ Ramelow jedenfalls ist weiterhin bereit, sich einer | |
erneuten Ministerpräsidentenwahl zu stellen – wenn es dafür eine Mehrheit | |
im Landtag ohne AfD-Stimmen gibt. | |
## 2. Warum braucht Thüringen überhaupt eine Regierung? | |
Die Landesregierung, das sind der oder die Ministerpräsident:in und | |
sieben Minister:innen, die politischen Chefs der Verwaltung. Sie fällen | |
strategische Entscheidungen, entscheiden über Fördermittel und verhandeln | |
mit dem Finanzministerium über den Haushalt (siehe weiter unten). | |
Außerdem sind sie die Ansprechpartner:innen für die Bundesregierung und | |
ihre Kolleg:innen in den anderen Bundesländern. Während die Verwaltung das | |
Land weiterhin verwaltet, sind diese politischen Posten derzeit unbesetzt. | |
Aktuell gibt es nur ein ordentliches Regierungsmitglied, nämlich Thomas | |
Kemmerich, der sich auch nicht um alles kümmern kann und [6][nach seinem | |
Rücktritt] nur mehr geschäftsführend im Amt ist. | |
## 3. Was fällt nun alles flach? | |
Alle politisch-strategischen Entscheidungen, etwa darüber, ob im Harz | |
künftig Gips abgebaut werden soll oder nicht, können nicht getroffen | |
werden. Zudem fehlen Ansprechpartner:innen für die Bundesregierung und die | |
anderen Bundesländer. Thüringens vier Sitze im Bundesrat blieben vergangene | |
Woche leer. Die Verhandlungen mit dem Bund, etwa über die Kosten [7][für | |
Altlasten aus dem Kali- und Salzbergbau], aber auch über ein | |
Aufnahmeprogramm für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge, sind | |
ausgesetzt. Die Öffentlich-Rechtlichen machen sich gerade Sorgen um ihre | |
Rundfunkbeitrage – denn [8][der neue Staatsvertrag] kann nur einstimmig von | |
allen 16 Ministerpräsident:innen beschlossen werden. | |
## 4. Steht wenigstens der Haushalt? | |
Für das laufende Jahr gibt es einen Haushalt. Derzeit wird der Haushalt für | |
das Jahr 2021 vorbereitet. Das Thüringer Finanzministerium hat gerade | |
Briefe an alle Ministerien verschickt, die ihren Bedarf anmelden sollen. | |
Normalerweise ist der Bedarf höher als die Ressourcen. Also würden | |
anschließend die Minister:innen verhandeln und einen gemeinsamen | |
Haushaltsentwurf beschließen. | |
Nach dem gesetzten Zeitplan sollte der im Juni in den Landtag eingebracht | |
werden. Das wird wohl nicht klappen. Wird kein Haushalt verabschiedet, | |
dürfen nur noch gesetzlich festgelegte Aufgaben aus der Staatskasse bezahlt | |
werden. Jegliche Fördermittel an freie Träger fielen weg. | |
## 5. Kann der Bund intervenieren? | |
Auch wenn die Einlassungen der Bundeskanzlerin nach der Wahl Kemmerichs zum | |
Ministerpräsidenten („[9][Das Ergebnis muss wieder rückgängig gemacht | |
werden]“) einen anderen Eindruck erweckt haben mögen: Nein, der Bund darf | |
nicht intervenieren, wenn sich ein Bundesland in einer Regierungskrise | |
befindet. Natürlich dürfen Merkel und andere Bundespolitiker:innen Druck | |
ausüben. | |
Wie Thüringen aber wieder zu einer funktionierenden Regierung findet, | |
schreibt allein die Landesverfassung vor. Konkret: Entweder der Landtag | |
wählt Ramelow in einem zweiten Versuch doch noch zum Ministerpräsidenten. | |
Oder die Parteien einigen sich auf Neuwahlen. Dazu wäre im Landtag eine | |
Zweidrittelmehrheit der 90 Abgeordneten nötig. Um die wird gerade gerungen | |
(siehe Frage 1). | |
Im Grundgesetz heißt es entsprechend, dass die Bundesländer ihre inneren | |
politischen Angelegenheiten selbst ordnen – solange die verfassungsmäßige | |
Ordnung des Landes den Grundsätzen von Demokratie und Rechtsstaat | |
entspricht (Artikel 28). Ausnahmen sind Gesetze des Bundes und der EU. Eine | |
– nicht angeforderte – Intervention des Bundes oder gar der Bundeswehr | |
erlaubt das Grundgesetz nur, falls eine „Naturkatastrophe oder der | |
Unglücksfall das Gebiet mehr als eines Landes“ gefährdet (Artikel 35). | |
Für die CDU mag die Thüringer Regierungskrise ein bundesweiter Unglücksfall | |
sein – laut dem Grundgesetz ist sie es nicht. Ach ja: Für den Fall, dass | |
Höckes AfD eines Tages in Erfurt an der Macht sein und in Thüringen Hand an | |
Demokratie und Rechtsstaat legen sollte, dann darf der Bund nicht nur | |
intervenieren – er muss. | |
## 6. Was macht eigentlich der Mann mit der Glatze? | |
Das wüssten in Thüringen viele auch gerne. In der Staatskanzlei ist der | |
FDP-Mann, der vor zwei Wochen mit den Stimmen seiner Partei, aber eben auch | |
von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten gewählt worden ist, selten zu | |
sehen, an der Sitzung des Bundesrates hat er nicht teilgenommen. Auch zu | |
den Gesprächen, die derzeit Rot-Rot-Grün und CDU führen (siehe Frage 1), um | |
einen Ausweg aus dem Schlamassel zu finden, den Kemmerich mit der Annahme | |
seiner Wahl angerichtet hat, ist die FDP trotz Einladung nicht gekommen. | |
Am Dienstag aber tauchte der [10][54-Jährige mit der markanten Glatze], der | |
Inhaber einer Friseurkette ist, im Landtag auf. Er hatte auf eine Sitzung | |
des Ältestenrats gedrungen. Dieser kam daher um halb vier zusammen, zwölf | |
Minuten später war die Zusammenkunft vorbei, viele der Mitglieder verließen | |
kopfschüttelnd den Saal. Kemmerich habe ein Statement abgegeben, sagte | |
Landtagspräsidentin Birgit Keller vor der Tür. „Über das Wording befragen | |
Sie ihn bitte selbst.“ | |
Wenig später baut Kemmerich sich vor der Tür auf, breitbeinig und in | |
Cowboystiefeln wie immer, und spricht von Verantwortung und einem | |
transparenten Verfahren, sagt, dass die Landesregierung, die auf | |
Spitzenebene aus ihm allein besteht – MinisterInnen gibt es ja nicht –, | |
arbeitsfähig sei. Und dann spricht er sich gegen Neuwahlen aus: „Wir können | |
nicht so lange wählen lassen, bis das Ergebnis sich einstellt, das uns | |
allen passt.“ Bei seinem Rücktritt hatte er noch für schnelle Neuwahlen | |
plädiert. Laut Umfragen droht der FDP, an der Fünfprozenthürde zu | |
scheitern. | |
## 7. Hat Thüringen keine anderen Probleme? | |
Doch, eigentlich ziemlich viele. Eine alternde Bevölkerung, niedrige Löhne, | |
Lehrermangel – die Liste der Probleme des Freistaats ist auch ohne | |
Regierungskrise lang genug. Die meisten von ihnen sind struktureller Natur: | |
Ein Drittel der Arbeitnehmer sind [11][im Niedriglohnsektor] beschäftigt. | |
Laut Paritätischem Armutsbericht lebt fast ein Fünftel der Thüringer | |
Bevölkerung in Armut. Mit einer Armutsquote von 18,9 Prozent liegt der | |
Freistaat damit im Bundesländer-Vergleich auf Platz zwölf. | |
Auf den hinteren Rängen liegt Thüringen ebenfalls bei der Altersstruktur: | |
Der durchschnittliche Thüringer ist 47,2 Jahre alt. Nur Sachsen-Anhalt hat | |
eine leicht ältere Bevölkerung. Das Thüringer Landesamt für Statistik | |
prognostiziert, dass das 2-Millionen-Einwohner-Bundesland bis 2040 etwa | |
280.000 Einwohner weniger haben wird. | |
Eine weitere Herausforderung für Thüringen: der Lehrermangel im Land. Wer | |
diesen verschuldet hat, war ein heiß diskutiertes Thema im Wahlkampf. Fest | |
steht: Der Freistaat braucht mehr Lehrer. Die Gewerkschaft Erziehung und | |
Wissenschaft Thüringen beklagt eine zu hohe Arbeitsbelastung der Thüringer | |
Lehrkräfte und fordert zusätzliche 2.500 unbefristete Stellen. | |
## 8. Gibt es denn auch gute Nachrichten aus Thüringen? | |
Ja, die gibt es. Am vergangenen Samstag haben mehr als 18.000 Menschen in | |
Erfurt gegen die Wahl von Kemmerich zum Ministerpräsidenten demonstriert – | |
und das, obwohl die aufrechten Demokrat*innen der Region zeitgleich damit | |
beschäftigt waren, einen rechtsextremen Aufmarsch in Dresden zu blockieren. | |
Spoiler: Auch das hat geklappt. Die Marschroute der Neonazis wurde | |
erheblich verkürzt. | |
Gute Nachrichten meldet auch der Thüringen-Stand auf der [12][Grünen | |
Woche]. Mehr als 32.000 Bratwürste wurden dort verspeist. Kein Wunder, | |
schließlich sind sie als regionale Besonderheit von der EU geschützt. | |
Erfreuliches hört man zudem aus der thüringischen Baubranche und dem | |
boomenden Gesundheitssektor. Sie beglückten das Bundesland mit einem | |
Wirtschaftswachstum von 0,6 Prozent im ersten Halbjahr 2019. Damit liegt | |
Thüringen über dem Bundesdurchschnitt. | |
Winterliches Glück melden Landeskinder aus dem russischen Sotschi. Toni | |
Eggert und Sascha Benecken holten WM-Gold im Rennrodeln. Last but not | |
least: Der Thüringer Kopf von Combat 18 ist seine Gruppe los. Der | |
rechtsextreme Zusammenschluss wurde Ende Januar [13][von Bundesminister | |
Horst Seehofer verboten] und zerschlagen. | |
19 Feb 2020 | |
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