# taz.de -- Thüringens neuer Ministerpräsident: Fassungslosigkeit in Berlin | |
> Der Dammbruch in Thüringen wird zur Belastung für die Groko. Vizekanzler | |
> Olaf Scholz hat „ernste Fragen“ an die Spitze der CDU. | |
Bild: Kevin Kühnert inmitten einer kleinen Demonstration vor der CDU-Zentrale … | |
BERLIN taz | Die Schwüre in Berlin, in Thüringen niemals mit der AfD zu | |
kooperieren, sie hallen noch in den Ohren. „Die Debatte über Gespräche mit | |
der AfD ist irre“, sagte CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak im November 2019. | |
Die CDU habe dazu auf dem Parteitag 2018 einen Beschluss gefasst. „Und die | |
Meinung der CDU hat sich nicht geändert. Punkt, aus. Ende der Durchsage.“ | |
FDP-Chef Christian Lindner legte sich ebenfalls fest. „Für die FDP ist eine | |
Zusammenarbeit mit Linker und AfD ausgeschlossen“, sagte er im Oktober. | |
Sein Argument: Beide Parteien wollten die Wirtschafts- und | |
Gesellschaftsordnung in Deutschland verändern. | |
Tja. Und nun? Die entschiedenen Sprüche sind perdu, ignoriert und kalt ad | |
absurdum geführt [1][von den Thüringer Landesparteien]. Die Wahl des | |
FDP-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU, FDP und | |
AfD schickt am Mittwoch Schockwellen durch die Republik. Christdemokraten | |
und Liberale heben einen der ihren mithilfe der Rechtsradikalen ins Amt, um | |
den Linken Bodo Ramelow zu verhindern. | |
„Dammbruch“, „Ruchlosigkeit“, „historischer Tiefpunkt“, lauten fass… | |
Kommentare bei SPD, Grünen und Linken. Das Foto, auf dem | |
[2][AfD-Rechtsaußen Björn Höcke Kemmerich per Handschlag] gratuliert und | |
sich dabei leicht verneigt, wird in die Geschichtsbücher eingehen. | |
## Mit Rechtsradikalen regieren geht dann doch? | |
Von Christian Lindner stammt der legendäre Satz: „Es ist besser, nicht zu | |
regieren, als falsch zu regieren.“ Er sagte ihn, als er 2017 die | |
Verhandlungen über ein Jamaika-Bündnis beendete. Aber mit Rechtsradikalen | |
regieren, das geht dann doch? | |
Am Nachmittag gibt der FDP-Vorsitzende ein Statement ab. Er sagt, dass die | |
Landtagsfraktion in eigener Verantwortung handle, dass Freiheit und | |
Weltoffenheit jenseits von AfD und Linken der Wählerauftrag der FDP seien. | |
„Wer in geheimer Wahl unseren Kandidaten unterstützt, das liegt nicht in | |
unserer Macht.“ Und, das vor allem, er bringt Neuwahlen ins Spiel. „Sollten | |
sich Union, SPD und Grüne einer Kooperation mit der neuen Regierung | |
fundamental verweigern, dann wären baldige Neuwahlen zu erwarten und aus | |
meiner Sicht auch nötig.“ | |
Andere in der FDP formulieren schärfer. Sie verstehe Kemmerichs Wunsch, | |
Ministerpräsident zu werden, schreibt Marie-Agnes Strack-Zimmermann, | |
Abgeordnete und Mitglied des Bundesvorstands, auf Twitter. „Sich aber von | |
jemandem wie Höcke wählen zu lassen, ist unter Demokraten inakzeptabel und | |
unerträglich.“ Es sei ein schlechter Tag für sie als Liberale. | |
## Kein Mucks aus dem Konrad-Adenauer-Haus | |
Und die CDU? Bei der Bundespartei herrscht erst einmal Schockstarre. Nach | |
dem Fiasko von Erfurt dringt eine verdammt lange Weile kein Mucks aus dem | |
Konrad-Adenauer-Haus; dort ist man fassungslos über die taktische | |
Kaltblütigkeit des Thüringer Landesverbands. Dessen Landesvorsitzender Mike | |
Mohring hatte noch in der Schlussphase des Wahlkampfs auf einer | |
taz-Veranstaltung vollmundig AfD-Spitzenkandidat Björn Höcke als Nazi | |
bezeichnet. „Mit denen werden wir nicht zusammenarbeiten.“ | |
Ein Versprechen an die WählerInnen, das nun gebrochen wurde. Ganz kurz vor | |
dem Tag der Erfurter Ministerpräsidentenwahl sollen sich die Thüringer | |
CDU-Fraktionsmitglieder darauf verständigt haben, im dritten Wahlgang für | |
den FDP-Kandidaten zu stimmen. Auch um den Preis, Bodo Ramelow von Höckes | |
Gnaden zu verhindern. Ein deutlicher Hinweis auf Mohrings Führungsschwäche; | |
der Landesvorsitzende verfügt ganz offensichtlich über keine | |
Richtlinienkompetenz unter seinen Leuten. | |
Der Außenpolitiker und frühere CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz ist | |
erschüttert. Gegenüber der taz sagte er: „Es muss klar sein, dass die CDU | |
nicht in eine FDP-geführte Minderheitsregierung eintritt, die von der AfD | |
toleriert wird.“ Das Ergebnis müsse ja unter Beteiligung der völkisch | |
nationalistischen AfD zustande gekommen sein. Derlei Kooperationen | |
verbietet die CDU. Polenz fordert Konsequenzen: „Die CDU sollte | |
Ministerpräsident Kemmerich auffordern, so schnell wie möglich Neuwahlen | |
herbeizuführen.“ | |
Am Abend tritt dann doch noch Paul Ziemiak vor die Presse. Der | |
CDU-Generalsekretär findet deutliche Worte. Die FDP habe „mit dem Feuer | |
gespielt und heute Thüringen und unser ganzes Land in Brand gesetzt“. Den | |
CDU-Landesverband greift er frontal an. Die dortigen Abgeordneten hätten | |
billigend in Kauf genommen, dass „ein neuer Ministerpräsident auch mit den | |
Stimmen von Nazis wie Herrn Höcke“ gewählt werden konnte. „Das Beste für | |
Thüringen wären Neuwahlen. | |
## Fortbestand der Großen Koalition gefährdet | |
Angesichts der Forderung von SPD-Chefin Saskia Esken nach einem | |
Koalitionsgipfel könnte er da recht behalten: Die Vorgänge von Erfurt | |
gefährden den Fortbestand der Großen Koalition. „Das hat Auswirkungen weit | |
über Thüringen hinaus“, stellt auch Vizekanzler Olaf Scholz fest. „Es | |
stellen sich für uns sehr ernste Fragen an die Spitze der Bundes-CDU, auf | |
die wir schnelle Antworten verlangen.“ Was in Erfurt passiert sei, sei kein | |
Zufall, sondern eine abgekartete Sache. | |
Scholz dürften Fragen wie diese vorschweben: Was wird die Bundes-CDU tun? | |
Muss sie nicht ihre Parteifreunde in Thüringen davon abhalten, in die | |
Regierung einzutreten, um glaubwürdig zu bleiben? Muss sie nicht mit | |
Ausschlussverfahren drohen? SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil spricht von | |
einem Tiefpunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte, „nicht nur für | |
Thüringen, sondern für ganz Deutschland“. | |
Die Antworten aus CDU und CSU kamen prompt. Annegret Kramp-Karrenbauer, | |
derzeit in Strasbourg, sagte unmissverständlich: „Das Verhalten der CDU im | |
dritten Wahlgang geschah ausdrücklich gegen die Empfehlungen, Forderungen | |
und Bitten der Bundespartei. Am Abend empfiehlt das CDU-Präsidium | |
einstimmig Neuwahlen in Thüringen. | |
CSU-Chef Markus Söder spricht von einem „inakzeptablen Dammbruch“. Die CDU | |
erleide durch die Parteifreunde in Thüringen einen Glaubwürdigkeitsverlust. | |
Ebenso die Liberalen: „Die FDP hat sich bei Jamaika verweigert, aber bei | |
dieser Aktion jetzt mitgemacht“, sagte ein sichtlich empörter Söder. „Dass | |
am Ende jemand mit fünf Prozent zum Ministerpräsidenten wird, zeigt, dass | |
auf dieser ganzen Aktion kein Segen liegen wird.“ | |
## Keine Zusammenarbeit mit der AfD | |
Die Grünen fordern Kemmerich auf, sein Amt „unverzüglich“ niederzulegen. | |
„Das ist ein Pakt mit Rechtsextremen“, heißt es in einer Erklärung, die d… | |
Partei- und Fraktionsvorsitzenden Annalena Baerbock, Robert Habeck, Katrin | |
Göring-Eckardt und Anton Hofreiter gemeinsam veröffentlichen. Bundes-CDU | |
und Bundes-FDP hätten beschlossen und x-mal behauptet, dass es keine | |
Zusammenarbeit mit der AfD geben werde. Lege Kemmerich das Amt nicht | |
nieder, müssten CDU und FDP auf Bundesebene die Thüringer Landesverbände | |
ausschließen. „Sonst sind ihre Worte und Unvereinbarkeitsbeschlüsse keinen | |
Pfifferling mehr wert.“ | |
Parteichef Robert Habeck kritisierte die Wahl des FDP-Politikers Thomas | |
Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen als „Kulturbruch“ und | |
forderte ihn zum sofortigen Amtsverzicht auf. CDU und FDP in Thüringen | |
hätten bewusst einen Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD gewählt, | |
erklärten die Spitzen von Partei und Fraktion am Mittwoch in Berlin. „Wir | |
sind entsetzt von der Ruchlosigkeit und Verantwortungslosigkeit von CDU und | |
FDP in Thüringen.“ | |
5 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Anja Maier | |
Ulrich Schulte | |
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