| # taz.de -- Die Woche in Thüringen: Tolle Tage in Erfurt | |
| > Im Rheinland wird Karneval, im Süden Fastnacht gefeiert. Was in Thüringen | |
| > passiert, erinnert auch an Prunksitzungen. Tagebuch aus einem Tollhaus. | |
| Bild: Mike Mohring, Noch-Fraktionschef der CDU in Thüringen, übertritt die ro… | |
| Früher wurde Thüringen vor allem mit Wald und Bratwurst in Verbindung | |
| gebracht. Seit dem 5. Februar ist es anders. Da wurde zum ersten Mal seit | |
| dem Ende der Nazidiktatur wieder ein Mann durch die Stimmen einer | |
| rechtsextremen Partei zum Ministerpräsidenten gewählt. Thomas Kemmerich, | |
| FDP. Er gewann mithilfe von AfD und CDU gegen den Kandidaten der Linken, | |
| Bodo Ramelow. | |
| Möglich wurde die Wahl durch Arithmetik, Abgrenzungsbeschlüsse und das | |
| Ausblenden der Wirklichkeit. Die Arithmetik im Thüringer Landtag ist | |
| derzeit so, dass die extrem rechte AfD und die Linke zusammen die absolute | |
| Mehrheit haben. Die Abgrenzungsbeschlüsse der CDU verbieten aber eine | |
| Zusammenarbeit mit beiden Parteien. Dass die Linke im Oktober mit 31 | |
| Prozent stärkste Kraft wurde, blendete die CDU jedoch aus, und beharrte | |
| darauf, dass die rot-rot-grüne Regierung mit Bodo Ramelow abgelöst werden | |
| müsse. Um jeden Preis. | |
| Zwar trat Kemmerich schon 72 Stunden später nach massivem Druck wieder | |
| zurück. Seitdem ist Thüringen in der Krise und sucht einen Ausweg – mit | |
| immer neuen Überraschungen. Wendungen und Volten. | |
| ## Montag, 17. Februar | |
| Thüringer Landtag, erster Stock, vor dem großen Sitzungssaal sind Kameras | |
| aufgebaut. Drinnen treffen sich die Spitzen von Linken, SPD und Grünen mit | |
| einer Vierergruppe der CDU. Mike Mohring, Landes- und Fraktionschef auf | |
| Abruf, ist nicht dabei. Gegen acht geht unter den Journalisten vor der Tür | |
| das Gerücht um, dass nicht darüber verhandelt wird, wie die CDU Bodo | |
| Ramelow zum Ministerpräsidenten wählt, dass alles anders sei. | |
| Tatsächlich, um 22 Uhr tritt Ramelow vor die Presse und verkündet, er | |
| verzichte auf eine erneute Kandidatur. [1][Er schlägt vor, dass Christine | |
| Lieberknecht], Ramelows Vorgängerin von der CDU, Thüringen vorübergehend | |
| mit drei rot-rot-grünen Minister*innen regiert. Sie soll von einem zuvor | |
| aufgelösten Landtag gewählt werden und dann binnen 70 Tagen Neuwahlen | |
| vorbereiten. | |
| Das ist ein Coup. Und ein Angebot, das die CDU schwer ablehnen kann. | |
| Die vier CDUler hat Ramelow so kalt erwischt. Sie sollen, hört man, in der | |
| Sitzung blass geworden sein. Mario Voigt, einer der vier, sagt dann in die | |
| Kameras, dass er glaube, das Wichtigste sei, dass die AfD nicht stärker | |
| werde. Voigt ist Kommunikationsexperte und Professor für digitale | |
| Transformation in Berlin, Vizeparteichef und wahrscheinlich Mohrings | |
| Nachfolger. | |
| Ramelow bietet der CDU damit einen Ausweg aus ihrer vertrackten Lage, in | |
| die sie das miese Wahlergebnis, der Unvereinbarkeitsbeschluss und ihre | |
| fatale Wahl am 5. Februar, als sie mit der AfD für den FDP-Mann Kemmerich | |
| stimmte, bugsiert haben. Doch die CDU will Neuwahlen auf jeden Fall | |
| vermeiden, Stimmenverluste drohen. Die Linke dagegen steht in Umfragen | |
| glänzend da. Auch das gehört zu Ramelows Kalkül. | |
| Das Drama in dem die CDU jetzt steckt, ist: Mohring, der CDU-Chef auf | |
| Abruf, und Lieberknecht sind sich in inniger Feindschaft verbunden. Ramelow | |
| und Lieberknecht, beide vom Christentum erfüllt, sind sich dagegen in | |
| Freundschaft zugeneigt. | |
| ## Dienstag, 18. Februar | |
| Am Dienstagvormittag verschickt die CDU-Fraktion eine dürre | |
| Presseerklärung. „Bodo Ramelows Vorschlag haben wir mit Interesse | |
| aufgenommen. Dass Bodo Ramelow für sich erkannt hat, dass es derzeit im | |
| Thüringer Landtag keine Mehrheit für ihn gibt, begrüßen wir.“ Was | |
| allerdings die CDU für sich erkannt hat, bleibt ihr Geheimnis. | |
| Im Landtag sind wieder die Kameras aufgebaut, die CDU Fraktion tagt. Als | |
| Generalsekretär Raymond Walk kurz aus dem Saal kommt, wird er von | |
| JournalsitInnen umringt. „Der Vorschlag von Bodo Ramelow ist nicht | |
| akzeptabel“, sagt er. Unter Journalisten kursiert bald das Gerücht, die CDU | |
| mache einen Gegenvorschlag. Lieberknecht ja, aber nur mit einer vollen | |
| Regierung und späteren Neuwahlen. | |
| Dann wird die Sitzung unterbrochen weil Mohring und Voigt zu Lieberknecht | |
| fahren. Das ist für Kenner der Thüringer CDU eine bizarre Vorstellung: | |
| Mohring und Voigt, die beiden könnten sich doch schon seit Jahrzehnten | |
| nicht leiden. | |
| Während die ReporterInnen noch auf die Rückkehr der CDUler warten, tagt im | |
| ersten Stock des Landtags auf Drängen des noch amtierenden | |
| Ministerpräsidenten Kemmerich von der FDP der Ältestenrat – ganze zwölf | |
| Minuten lang. Warum, versteht außer ihm kaum jemand. Drinnen, so erzählen | |
| Mitglieder später, soll Kemmerich beklagt haben, dass er keine Minister | |
| habe. Vor seinem Rücktritt hat er keine berufen, jetzt kann er es nicht | |
| mehr. Draußen vor der Tür sagt Kemmerich dann, breitbeinig und in | |
| Cowboystiefeln, dass die Landesregierung arbeitsfähig und er gegen | |
| Neuwahlen sei. Das klang auch schon mal anders. | |
| Unten ist wenig später die Sitzung der CDU-Fraktion beendet, Mohring und | |
| Voigt geben kurze Statements ab. Sie verkünden, was als Gerücht vorher die | |
| Runde gemacht hat. | |
| Am Abend dann tagen sie wieder, drei Stunden lang. Eine Einigung gibt es | |
| nicht, aber die Gespräche darüber, wie man eine Übergangsregierung bilden | |
| und Neuwahlen herbeiführen kann, platzen auch nicht. „Wir bleiben im | |
| Gespräch“, sagt Linkenchefin Hennig-Wellsow, als sie abends mit müdem | |
| Gesicht vor die Kameras tritt. Bis Freitag soll eine Einigung stehen. | |
| ## Mittwoch, 19. Februar | |
| „Guten Morgen in Thüringen, wieder ein neuer Tag in Absurdistan“, so | |
| begrüßt Linken-Chefin Susanne Hennig-Wellsow am Morgen die JournalistInnen. | |
| Manche sehen so aus, als wären sie über Nacht gar nicht weg gewesen. Kurz | |
| zuvor hatte die Thüringer Allgemeine berichtet, dass Lieberknecht ihre | |
| Zusage zurückgezogen hat, wegen der Schacherei ihrer Parteifreunde. | |
| Die CDU-Fraktion trifft sich um halb zehn. Auf der Tagesordnung: die | |
| desolate Lage Thüringens und die desolate Lage der Thüringer CDU. Acht | |
| Abgeordnete haben einen Antrag eingebracht, damit ihr Fraktionschef Mike | |
| Mohring die Vertrauenfrage stellt. Sie wollen ihn endlich loswerden. | |
| Um halb zwei geht die Tür des Bernhard-Vogel-Saals auf. Mohring tritt an | |
| die Mikrofone. Er wirkt ernst, aber zuversichtlich. Die Vertrauensfrage gab | |
| es nicht, Mohring bleibt Chef, bis die Fraktion am 2. März einen neuen | |
| Vorstand wählt. Er werde nicht wieder antreten. Dass ein Rücktritt fällig | |
| sei, weil er für das ganze Desaster maßgeblich mitverantwortlich sei, wie | |
| ein Journalist es in einer Frage formuliert, sieht er nicht. | |
| Mohring sagt auch, dass der Unvereinbarkeitsbeschluss des Bundesparteitags, | |
| zwar richtig sei, „aber er stößt auf die Lebensrealität in Thüringen.“ … | |
| die Gespräche mit Rot-Rot-Grün gehe die CDU am Nachmittag nun mit einem | |
| neuen Vorschlag. Welchem, will er nicht sagen. Doch er zitiert | |
| Lieberknecht, die zusammengefasst habe, welche Möglichkeiten bleiben: „Wer | |
| keine Neuwahlen will, muss Bodo Ramelow zu einer Mehrheit im Landtag | |
| verhelfen.“ Vier CDU-Stimmen braucht es dafür. Später wird durchsickern, | |
| dass genau darüber gesprochen wird. Das hätte man schon früher haben | |
| können. | |
| Kurz nach drei, dritter Stock, vor dem Fraktionssitzungssaal der SPD: | |
| „Beratung. Bitte NICHT stören“ steht an der Tür. Hier trifft sich eine | |
| Arbeitsgruppe von Rot-Rot-Grün und CDU in kleiner Runde, zehn Leute. Sie | |
| sollen durchdeklinieren, wie man zu einer handlungsfähigen Regierung ohne | |
| AfD-Stimmen komme. Entscheidungen soll es erst am Freitag geben. [2][Die | |
| Sitzung zieht sich hin.] Irgendwann kommt eine Mitarbeiterin der | |
| Landtagskantine zu den JournalistInnen und fragt, wer noch etwas Warmes zu | |
| essen wolle, müsse es jetzt holen. Tellerweise werden Würstchen und | |
| Buletten mit Kartoffelsalat herausgetragen. | |
| Gegen acht ruft jemand: „Sie kommen.“ Während der Linke Steffen Dittes | |
| schon erläutert, man habe „vier Vorschläge mit mehreren Varianten“ geprü… | |
| drücken sich die vier Vertreter der CDU im Hintergrund an das Geländer der | |
| Treppe, als wollten sie möglichst nicht gesehen werden. | |
| Im Kern strittig, sagt Dittes, sei vor allem der Wahltermin. Varianten von | |
| vor der Sommerpause bis in zwei Jahren werden diskutiert. Als Dittes fertig | |
| ist, schaut SPD-Mann Tiefensee zu den CDUlern, ob Voigt vor ihm reden will. | |
| Der winkt ab. Als er nach SPD und Grünen doch an die Mikrofone muss, sagt | |
| er: „Beiden Seiten ist klar, dass man aufeinander angewiesen ist.“ Auf | |
| hartnäckige Nachfragen, ob die CDU bereit sei, Ramelow mitzuwählen, weicht | |
| er aus, sagt „vielen Dank“, geht. Das wirkt wie Flucht. | |
| Am Abend dann sitzt Mohring bei Markus Lanz im Studio und redet sich um | |
| Kopf und Kragen. Irgendwann reicht es selbst dem sonst ruhigen Lanz: „Man | |
| muss dann schon glaubwürdig in die Opferrolle schlüpfen.“ | |
| ## Donnerstag, 20. Februar | |
| Am Donnerstag treffen sich Rot-Rot-Grün und die CDU wieder auf | |
| Arbeitsebene. Man spricht lange. Der Wunsch, sich unter Demokrat*innen zu | |
| einigen, wächst in Thüringen. Denn in der Nacht zuvor hatte ein bewaffneter | |
| Rassist in Hanau neun Menschen erschossen. | |
| ## Freitag, 21. Februar | |
| Morgens treffen sich die Fraktionsspitzen von Linken, Grünen und SPD zu | |
| Vorverhandlungen. Derweil bauen die Journalist*innen ihre Kameras in der | |
| ersten Etage des Landtags auf. Nachdem sich Rot-rot-grün besprochen hat, | |
| stärken sich die Linken in der Kantine. Bodo Ramelow scherzt leutselig mit | |
| Mitarbeiter*innen. Zu den Verhandlungen sagt er nichts; er bestellt | |
| Mini-Eisbein auf Schlachtekraut. | |
| Es gibt zu diesem Zeitpunkt keine neuen Personalideen und Vorschläge, | |
| lediglich Varianten des bereits bekannten: entweder schnelle Neuwahlen, bis | |
| hin zu einer Minderheitsregierung und Neuwahlen im Jahr 2022. Immer | |
| häufiger fällt auch das Wort: Tolerierung. | |
| Wenn Bodo Ramelow tatsächlich zum Chef einer rot-rot-grünen | |
| Übergangsregierung gewählt würde, und zwar für einen längeren Zeitraum, | |
| dann müsste sich die CDU im Gegenzug verpflichten, nicht nur nicht mit der | |
| AfD zusammenzuarbeiten, sondern Rot-Rot-Grün bei festgelegten Projekten | |
| sogar zu unterstützen. So will es zumindest die Linke. | |
| Man gehe mit dem Willen zur Einigung in den Tag. Doch die Vorbehalte in der | |
| CDU gegen die Tolerierung einer von der Linken geführten | |
| Minderheitsregierung sind groß. Das würde, meinen CDUler, die eigene | |
| Handlungsfähigkeit sehr einschränken. | |
| Um 12.30 Uhr treffen die Emissäre aller vier Fraktionen ein. „Wir hoffen, | |
| dass wir am Ende des Tages wenigstens ein gemeinsames Ziel beschreiben | |
| können“, sagt die Vorsitzende der Linken Susanne Hennig-Wellsow den | |
| Journalist*innen. | |
| Auch um Matthias Hey, dem Fraktionsvorsitzenden der SPD, bildet sich eine | |
| Journalistentraube. Hey spricht von Neuwahlen, von Haltung und von einem | |
| großen Schritt für die CDU. Hinter ihm schleichen die vier Männer von der | |
| CDU in den Saal: Mario Voigt, Volker Emde, Raymond Walk und Andreas Bühl. | |
| Sie nehmen am Kopf des Verhandlungsvierecks Platz. | |
| Anvisiertes Verhandlungsende: 20 Uhr. | |
| 21 Feb 2020 | |
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| Sabine am Orde | |
| Anna Lehmann | |
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