| # taz.de -- Postkoloniale Popwelt: Haltungsfragen um Israel | |
| > In der englischsprachigen Popwelt verschränkt sich die generelle | |
| > Protesthaltung mit postkolonialem Weltbild. Was folgt daraus 2024, auch | |
| > hierzulande? | |
| Bild: Wären sie doch bei ihren Songs über Jobcenter geblieben: Sleaford Mods … | |
| Musik verbindet einander fremde Menschen auf unterschiedlichste Weise. | |
| Sie stärkt das Interesse an der jeweils anderen, unbekannten Welt und | |
| fördert den gegenseitigen Respekt. Das quasidiplomatische Bemühen um | |
| fantasieanregenden und völkerverständigenden Austausch hat mit den | |
| [1][Ereignissen des 7. Oktober einen herben Dämpfer] bekommen. Denn das | |
| Morden der Hamas ist auch in der Welt der Musik angekommen und verlangt | |
| nach einem Bekenntnis. | |
| Sag mir, wo du stehst? Haltung war im Pop früher eher lockere Abmachung, | |
| manchmal auch Gratismut oder hohler Radical Chic. Was schon mit der | |
| Coronapandemie begann und nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die | |
| Ukraine endemisch wurde – eine zunehmende, durch Social Media angetriggerte | |
| Polarisierung –, darauf folgt nun die Einsicht, dass mit gefährlichem | |
| Halbwissen in der Musik kein Staat mehr zu machen ist. Mit dem Angriff der | |
| Hamas wurden Falschinformationen zur harten Pop-Währung. | |
| „Es geht um die einfache Frage, ob man solidarisch zu Menschen steht, die | |
| seit 75 Jahren dem Siedlerkolonialismus ausgesetzt sind und nun einen | |
| Genozid erfahren. Deshalb werde ich immer an ihrer Seite stehen.“ Dazu das | |
| Symbol eines gebrochenen Herzens und der Slogan „Free Palestine“. Diese | |
| Mitteilung postet die Londoner Künstlerin Nabihah Iqbal eine Woche nach dem | |
| Überfall der Hamas auf Instagram. | |
| Dazu hat sie private Fotos hochgeladen, auf einem davon ist Iqbal Arm in | |
| Arm mit einem Begleiter zu sehen, sie ballt eine Faust. Der Begleiter hält | |
| ein Plakat mit dem Slogan „Gaza. End the Siege“. Beendet die Besatzung von | |
| Gaza. Es wirkt, als hätte Israel am 7. Oktober das Palästinensergebiet | |
| angegriffen. | |
| ## Einseitige Haltung angloamerikanischer Popstars | |
| Und als Soundtrack unter die Fotos, die sie mit mehreren | |
| Begleiter:innen auf einer propalästinensischen Demo in London zeigt, | |
| legt die Künstlerin „Get Up, Stand Up“ von Bob Marley, einen Reggae-Song | |
| aus den 1970ern, der fürs „Rebellische“-Allerlei herhält. Dem Massaker der | |
| Hamas waren mehr als 1.200 Israelis zum Opfer gefallen, darunter auch | |
| Menschen, die ein Musikfestival besucht hatten. Keine Silbe verliert Iqbal | |
| darüber. | |
| Ein Beispiel von unzähligen für die einseitige Haltung angloamerikanischer | |
| Popstars beim Nahostkrieg. Nabihah Iqbal hat als gefragte | |
| Nachwuchskünstlerin mehr als 40.000 Follower:innen. [2][Auch in der taz | |
| erhielt ihr Debütalbum eine lobende Kritik.] Es ist mühselig geworden, auf | |
| fragwürdige politische Meinungsäußerungen von Popstars hinzuweisen, es sind | |
| schlicht zu viele, man kann daran verzweifeln, oder man sitzt es einfach | |
| aus. Oder sollte man es einfach nicht so ernst nehmen? Macht das die Dinge | |
| besser? | |
| In der angloamerikanischen Popsphäre ist die Solidarität mit den | |
| Palästinensern grenzenlos. Darin verschränkt sind ein | |
| antiimperialistisches und postkoloniales Weltbild mit einer generellen | |
| Protesthaltung. Durch propalästinensische Solidarität drückt sich auch | |
| Opposition zur eigenen Regierung aus. Egal ob britischer Indie, US-HipHop | |
| oder Dancefloor weltweit, Israel gilt vielen als Besatzungsmacht, seine | |
| Bewohnern:innen sind in dieser Perspektive weiße Kolonisatoren. | |
| Sie werden gleichgesetzt mit Juden in der angloamerikanischen Sphäre, die | |
| als Weiße gelten, egal welche Hautfarbe sie haben. Die Hamas als politische | |
| und militärische Instanz gibt es scheinbar überhaupt nicht. Es gibt nur | |
| die palästinensische Flagge als Symbol, inzwischen ubiquitär, wie das | |
| Konterfei von Che Guevara auf Kaffeebechern. | |
| ## Hauptsache, gegen Israel! | |
| Mitte November gastierte das [3][britische Soulpunkduo Sleaford Mods] in | |
| der spanischen Hauptstadt Madrid. In der zweiten Hälfte des Konzerts wirft | |
| jemand aus dem Publikum ein Palästinensertuch auf die Bühne, die Band geht | |
| daraufhin aus Protest von der Bühne und beendet den Auftritt vorzeitig. Nun | |
| setzt ein Shitstorm ein, woraufhin die beiden Musiker äußern, dass sie | |
| Gewalt auf beiden Seiten des Nahostkriegs ablehnen. | |
| In den britischen Medien werden Sleaford Mods nun besonders heftig | |
| attackiert. Zunächst bekunden sie, dass sie sich nicht mehr zu dem Thema | |
| äußern werden. Inzwischen wurde bekannt, dass Sleaford Mods nun auch bei | |
| der Initiative „Artists for Palestine“ unterschrieben haben. Offensichtlich | |
| wurde der Druck der englischen Popöffentlichkeit, sich eindeutig | |
| propalästinensisch positionieren zu müssen, zu groß. Möglicherweise hat das | |
| Duo auch Angst davor gehabt, ökonomisch und sozial ausgegrenzt zu werden. | |
| Andere gehen in ihrer blinden Unterstützung sogar noch weiter, etwa der | |
| renommierte Londoner Internet-Radiosender NTS. Bereits am 11. Oktober hat | |
| er einen ganzen Sendetag lang sein Programm unterbrochen und trat aus | |
| Solidarität mit den Palästinensern in den „Generalstreik“. Diesen Beistand | |
| bekundete NTS auf seinem Insta-Account mit der grünen Flagge, wie sie auch | |
| die radikalislamische Hamas verwendet. | |
| Es gab zwar Einzelne, die den Sender auf diesen bizarren Umstand | |
| hingewiesen haben, auch kritische Stimmen, die die Aktion als Fehler | |
| bezeichneten, aber der Shitstorm hielt sich in Grenzen. Dass der | |
| unabhängige Sender NTS im Sommer verkauft wurde, und zwar an Investoren wie | |
| Universal Music und den britischen Popstar Peter Gabriel, auch davon nahm | |
| so gut wie niemand Notiz. [4][Hauptsache, gegen Israel!] | |
| ## Britische Doppelmoral | |
| Aber warum schweigt Popengland dann beim Bürgerkrieg im Sudan, einer | |
| Spätfolge der britischen Kolonialherrschaft in Ostafrika? Englands | |
| Kolonialpolitik in Ägypten und dem britischen Mandat von „Palästina“ haben | |
| ebenfalls mit zur Lage der Palästinenser beigetragen. Aber darum geht es | |
| nie im gegenwärtigen Protest. | |
| Der schottische Aristokrat und Sozialist R. B. Cunninghame Graham hat | |
| schon im 19. Jahrhundert die Doppelmoral seiner Landsleute charakterisiert: | |
| „Das heuchlerische britische Herz schlägt für alle, nur nicht für die, die | |
| vom eigenen Imperium in Blut getränkt werden.“ | |
| Immerhin, der britische Popstar Brian Eno, einer der prominentesten | |
| Unterstützer der Anti-Israel-Lobby BDS, hat bei seinem Konzert Ende Oktober | |
| in Berlin vornehm geschwiegen. Dafür hetzte er dann wenige Tage später in | |
| Utrecht niederländische Fans von der Bühne runter mit den Worten auf, in | |
| Deutschland dürfe man nichts mehr gegen Israel sagen. Eno verwendet | |
| Begriffe wie „Genozid“ und „Apartheid“ im Zusammenhang mit Israel | |
| inflationär. | |
| Sie halten in den Kampagnen von Anti-Israel-Lobbys wie „Artists For | |
| Palestine“ als Begründung her, Israel das Existenzrecht abzusprechen. So | |
| sind aus England importierte Aufkleber in Berlin aufgetaucht, auf denen | |
| steht „There’s no pride in Israels Apartheid“, mit der Regenbogenflagge a… | |
| Hintergrund. Der Protest gegen Israel ist durch Pop angloamerikanisiert und | |
| wird immer stumpfer. | |
| Was folgt aus dieser [5][Entwicklung eigentlich für Deutschland?] Laut | |
| Beschluss der Bundesregierung vom Mai 2019 dürfen Veranstaltungen mit | |
| BDS-Bezug keine Förderung erhalten. Was passiert, wenn nun eingeladene | |
| angloamerikanische Künstler:innen sich eindeutig äußern, BDS-Positionen | |
| verbreiten oder aktiv von der Bühne zum Hass gegen Israel aufrufen? | |
| Das Berliner Elektronikfestival [6][CTM hat sich zuletzt vorbildlich | |
| für die ukrainische Diaspora] eingesetzt, Veranstaltungsreihen zum Krieg in | |
| der Ukraine konzipiert. Gerade auch Elektronikkünstler:innen aus dem | |
| arabischen Raum gab CTM eine Bühne. | |
| Kurz nach dem 7. Oktober hat CTM das Statement verbreitet, man betrauere | |
| die Opfer des 7. Oktober auf israelischer und palästinensischer Seite und | |
| wünsche sich ein Ende des Blutvergießens. Ende Januar 2024 wird CTM seine | |
| 25. Jubiläumsausgabe feiern. | |
| Co-Kurator Jan Rohlf teilt der taz auf Anfrage mit: „Für unsere Ausgabe | |
| 2024 stehen ein Schwerpunkt zu neuer Musik aus Irland im Fokus und | |
| zahlreiche neue Projekte und Premieren. Wir befassen uns natürlich mit den | |
| Entwicklungen in Nahost und sind bemüht, uns weiterzubilden. Ob es im | |
| Festival dazu eine spezifische Veranstaltung geben wird, wissen wir noch | |
| nicht.“ | |
| Nachfragen nach der roten Linie, was Meinungsäußerungen von eingeladenen | |
| Künstler:innen und Moderator:innen anbelangt, beantwortet Rohlf so: | |
| „BDS setzt sich nicht klar für eine gemeinsame Zukunft für Juden/Israelis | |
| und Palästinenser ein und widerspricht unserer Auffassung von Kulturarbeit | |
| und dem Auftrag, den wir uns selbst gegeben haben, nämlich Räume für | |
| Begegnung, Austausch, Dialog, Diskurs, Kennenlernen bereitzustellen und | |
| offen zu halten. | |
| Je mehr Konflikte und Kontroversen in Gesellschaft und Communitys, umso | |
| komplizierter wird es, diesen Auftrag einzulösen.“ CTM habe bereits einen | |
| Verhaltenskodex erarbeitet, der nun erneut geprüft und weiterentwickelt | |
| werde. „Sollte sich jemand diskriminierend verhalten, wird das unsere | |
| Grundlage sein.“ | |
| Der Kölner Musikkurator Thomas Gläßer sieht sowohl die BDS Bewegung | |
| kritisch als auch die BDS-Resolution des Bundestages und ihre Auswirkungen | |
| auf den Kulturbetrieb – und verweist dabei auch auf die Expertise des | |
| wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages. Er selbst hat noch keine | |
| Veranstaltungen abgesagt oder Künstler*innen ausgeladen, beobachtet bei | |
| etlichen Kolleg*innen aber eine größere Vorsicht. Als rote Linie für | |
| seine eigene kuratorische Arbeit nennt Gläßer das bürgerliche Strafrecht, | |
| in dem Antisemitismus als Volksverhetzung geahndet wird. Im Interview mit | |
| der Kölner Stadtrevue räumt Gläßer selbstkritisch ein, „es scheint bei | |
| Kurator:innen im Westen häufig eine politisch romantisierende, | |
| voreilige Identifikation mit dem Globalen Süden zu geben, eine verzweifelte | |
| Suche nach dem revolutionären Subjekt“. | |
| Ziel für 2024 ist mehr Realismus. Dann kommt auch ein Austausch [7][durch | |
| Musik zustande, in dem Hetze keinen Platz] hat. | |
| 29 Dec 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Antisemitismus-an-US-Eliteunis/!5977408 | |
| [2] /Neues-Album-von-Nabihah-Iqbal/!5931205 | |
| [3] /Neues-Album-der-Sleaford-Mods/!5922231 | |
| [4] /Antisemitismus-in-Grossbritannien/!5974011 | |
| [5] /Nahost-Konflikt-im-Berliner-Clubleben/!5964150 | |
| [6] /Clubszene-in-der-Ukraine/!5909513 | |
| [7] /Liraz-ist-aus-Israel-und-singt-auf-Farsi/!5974385 | |
| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
| ## TAGS | |
| Musik | |
| Popmusik | |
| Popkultur | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| BDS-Movement | |
| Postkolonialismus | |
| Verschwörungsideologie | |
| Großbritannien | |
| Punk | |
| Konzert | |
| Antisemitismus | |
| HipHop | |
| CTM | |
| CTM Festival Berlin | |
| CTM Festival Berlin | |
| BDS-Movement | |
| Kolumne Blast from the Past | |
| Antisemitismus | |
| Antisemitismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Punkband Amyl and the Sniffers auf Tour: Die eigenen Engel auf der Haut | |
| Sie spielen nihilistischen Krawall für alle. Die Punkband Amyl and the | |
| Sniffers aus Melbourne kommt mit ihrem Album „Cartoon Darkness“ auf Tour. | |
| Album und Konzert von Julia Holter: Höhenflüge und offene Fragen | |
| Die Kalifornierin Julia Holter kommt mit ihrem neuen Album für ein Konzert | |
| nach Berlin. Obwohl sie sich „Strike Germany“ angeschlossen hatte. | |
| Postkoloniale Theorie und Antisemitismus: Die dunkle Kehrseite | |
| Die Postcolonial Studies stehen seit dem 7. Oktober wieder verstärkt in der | |
| Kritik. Die Frage ist, wie antisemitisch sie sind. Eine Analyse. | |
| Politische Rapperin Noname in Berlin: Flow mit hoher Geschwindigkeit | |
| Die US-amerikanische Rapperin Noname spart kaum mit Kritik. Beim Konzert in | |
| Berlin war ihre Solidarität mit Palästina kein Thema. | |
| CTM Festival in Berlin: Die Revolution tanzen | |
| Pisitakun Kuantalaeng erforscht Protestsongs und macht sie zu Clubtracks. | |
| Beim Festival CTM präsentiert er sein Projekt „The Three Sound of | |
| Revolution“. | |
| Avantgardejazz-Gitarrist:in Jules Reidy: Meditation über Verletzlichkeit | |
| Künstler:in Jules Reidy erweitert das Klangspektrum der Gitarre – und ist | |
| eines der Aushängeschilder des Festivals CTM in Berlin. | |
| CTM und die Antisemitismusklausel: Parole und Karriere | |
| Das Berliner CTM-Festival startet in der kommenden Woche. Ein paar Künstler | |
| haben angekündigt, es wegen der Bekenntnispflicht der IHRA zu bestreiken. | |
| Kritik an Musikmagazin „The Wire“: Keine Epiphanie | |
| Plötzlich mittendrin im weltpolitischen Geschehen: Das britische | |
| Musikmagazin „The Wire“ veröffentlicht einen Text des Musikers Gaika zum | |
| Nahostkrieg. | |
| Antisemitismus in Großbritannien: Ein einziger Leidensporno | |
| Unermüdlich demonstrieren Menschen in Großbritannien auf | |
| Pro-Palästina-Kundgebungen. Und die BBC setzt auf Emotionen, nicht auf | |
| Fakten. | |
| Antisemitismus an US-Eliteunis: Nicht ein Wort über die Hamas | |
| Seit dem 7. Oktober wird Antisemitismus auf dem US-amerikanischen Campus | |
| sichtbar. Ein einseitiges Weltbild gibt es in der Lehre schon lange. | |
| Kulturschaffende über Antisemitismus: „Dämonisierung von Juden“ | |
| „Artists Against Antisemitism“ machen Front gegen Judenhass. Musiker Torsun | |
| und Schauspielerin Sandra Kreisler erklären, warum dies überfällig ist. |