| # taz.de -- Neues Album von Nabihah Iqbal: Utopie auf dem Dancefloor | |
| > Euphorie beim Tanzen, freie Liebe, alte Literatur und der Hall im Bad der | |
| > Oma – das alles verbindet die Musik der Londoner Künstlerin Nabihah | |
| > Iqbal. | |
| Bild: „Dreaming and dancing“: Musikerin Nabihah Iqbal | |
| Manche Dinge passieren aus gutem Grund, heißt es. Nabihah Iqbal hört diese | |
| Lebensweisheit derzeit ziemlich oft, wenn sie über ihr neues Album | |
| „Dreamer“ spricht – zynischerweise in Zusammenhang mit zwei der schlimmst… | |
| Ereignissen ihres Lebens. | |
| Erstens dem Einbruch in ihr Londoner Studio, bei dem die komplette | |
| Produktionsarbeit an ihrem zweiten Album verloren ging und somit vernichtet | |
| wurde. Und zweitens einem Anruf ihrer Großmutter aus Pakistan. „Sie | |
| erzählte mir weinend, dass mein Großvater eine Hirnblutung erlitten hatte“, | |
| berichtet die britische Produzentin und Musikerin aus London. Im Ernst: Wo | |
| soll da der gute Grund sein? | |
| Nabihah Iqbal packte jedenfalls nach dem Anruf die Koffer und flog | |
| kurzerhand nach Pakistan. Das war im März 2020, kurz vorm Corona-Lockdown. | |
| Statt zweier geplanter Wochen blieb sie zwei Monate im Geburtsland ihrer | |
| Eltern. | |
| Die 35-Jährige macht nicht nur Musik, sie ist auch als DJ aktiv, hält | |
| Vorträge über Musik und betreut [1][eine eigene Sendung beim britischen | |
| Netzradiosender NTS]. In Karatschi, der größten Stadt Pakistans, stöberte | |
| sie durch die Plattenläden, kaufte eine Sitar und ein Harmonium, eins der | |
| am meisten verbreiteten Instrumente der traditionellen indischen und | |
| pakistanischen Musik. | |
| Damit begann Iqbal, die Musik ihres Albums noch einmal ganz von vorne zu | |
| komponieren, dieses Mal nicht am Computer im Studio, sondern mit analogen | |
| Instrumenten: Plötzlich fand sie sich mit dem Harmonium auf dem Fußboden im | |
| Badezimmer ihrer Großeltern wieder, in einem Raum mit hohen Decken und | |
| Marmorwänden. | |
| ## „Echo“ auf Urdu | |
| „Das Echo darin ist unglaublich. Irgendwann kam meine Großmutter rein und | |
| hat gefragt, was ich da mache. Ich habe versucht, es ihr zu erklären, | |
| kannte aber das Wort für ‚Echo‘ auf Urdu nicht.“ Dabei spielen Hall und | |
| Echo auch auf „Dreamer“, Iqbals zweitem Soloalbum, eine große Rolle. Nicht | |
| nur ihr Harmonium jagt sie durch verschiedene Hall- und Effektgeräte, auch | |
| die Synthesizer und ihre oft gesprochen eingesetzte Stimme sind so | |
| verfremdet, bis sie von weit her bis zu uns herüberwehen. | |
| Während das verfremdete Harmonium elliptisch den Musikreigen des Albums | |
| eröffnet und auch wieder beschließt, ist die Sitar genau in der Mitte | |
| platziert. In „Lilac Twilight“ schichtet Iqbal akustische Gitarren und die | |
| Sitar übereinander, es ist das einzige Stück, das ohne Verfremdungseffekte | |
| bleibt, und das erste Mal, dass sie überhaupt Instrumente aus ihrem | |
| kulturellen Pakistani-Erbe in ihrer Musik verarbeitet, erzählt Iqbal der | |
| taz am Telefon aus London. | |
| Und doch muss man sie suchen, diese beiden Instrumente, zwischen den | |
| Synthesizern, Effektgeräten und Drums, die mal an den düsteren | |
| 80er-Jahre-Pop [2][von New Order,] mal an amtliche elektronische Club-Beats | |
| erinnern. | |
| Auch in der dancy Komposition „Gentle Heart“ umspielen sich Beats und | |
| Synthesizer sowie Iqbals softe, ätherisch klingende Stimme. „I’m dreaming | |
| and dancing / Dancing and dreaming“, singt Iqbal und beschreibt die | |
| Erlebnisse eines Sommerabends, zusammen mit Menschen zu tanzen, ohne sich | |
| über etwas Sorgen zu machen. | |
| ## Tanzen wie in Trance | |
| Der Dancefloor bleibt für diese Musikerin ein utopischer Ort, ein sicherer | |
| Raum für alternative Vorstellungen. „Oh ja, auf jeden Fall! Der Dancefloor | |
| ist einer dieser Orte der kollektiven Musikerfahrung. Niemand kann so recht | |
| erklären, warum Musik auf bestimmte Weise wirkt. Ich glaube, das geht auf | |
| etwas Ursprüngliches zurück. In Pakistan war ich in Lahore auf einer | |
| Sufi-Zusammenkunft, als die Leute durch die Musik high wurden. Alle tanzen | |
| und schütteln sich, wie in Trance zu lauten, intensiven Trommeln.“ | |
| Die Essenz davon sei dasselbe wie im Soundgewitter auf der Tanzfläche eines | |
| Clubs: „Es geht darum, sich einfach in der Musik zu verlieren.“ | |
| Schon ihr Debütalbum „The Weighing of the Heart“ von 2017 war nach einem | |
| ägyptischen Mythos benannt. „Dreamer“ interpoliert nun unter anderem | |
| klassische englische Literatur von Thomas Hardy aus dem späten 19. | |
| Jahrhundert. In Hardys Roman „Tess“ erlebt ein junges Mädchen aus ärmeren | |
| Verhältnissen jedes erdenkliche Unglück, denn sie bringt einen kärglichen | |
| Alltag in einer Welt zu, die nicht für sie gemacht ist. „This world | |
| couldn’t see us / This world couldn't keep us“, sprechsingt Iqbal im | |
| gleichnamigen Song, der mit dem Doppelsuizid zweier Liebender endet. | |
| ## In einem anderen Raum | |
| Iqbal verschränkt den Text über die Unfreiheit eines englischen Mädchens | |
| aus dem Viktorianischen Zeitalter mit Gedanken zur Freiheit der Liebe in | |
| der Gegenwart: „Manchmal fühlt es sich so an, als wäre echtes Glück niemals | |
| möglich. Weil unsere Gesellschaft dafür nicht angelegt ist. Millionen | |
| Menschen genießen gar nicht die Freiheit, das zu tun, was sie am liebsten | |
| möchten. Selbst eine Gesellschaft wie unsere ist nicht so frei, wie man | |
| vielleicht glauben will.“ | |
| Ihre Texte klingen dabei wie epische Langgedichte, die in einer poetischen | |
| Kryptik über der ätherischen Produktion schwebt. Doch scheint die Liebe in | |
| verschiedenen Formen immer wieder eine Rolle zu spielen: „I knew it was | |
| love / And I felt it was glory / But you’ve never told me / The end of the | |
| story / Feel the power“, singt Iqbal in „Sunflower“. | |
| Auch den Albumtitel „Dreamer“ verdankt Nabihah Iqbal einer literarischen | |
| Primärquelle: „Es war das erste Mal, dass mich ein Gedicht zum Weinen | |
| gebracht hat“, erinnert sie sich und erwähnt einen Text von Arthur | |
| O’Shaughnessy. Der britische Autor und Zoologe beschreibt in „Music Makers�… | |
| den Sinn von Musik, eine alternative Welt zu erschaffen. | |
| Genau das gelingt auch Nabihah Iqbal mit ihrem neuen Album „Dreamer“, das | |
| diesen Gedanken mit der Welt des Traums verschränkt: „Musik kann dich an | |
| einen anderen Ort transportieren – ganz ähnlich wie ein Traum.“ | |
| 6 May 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.nts.live/shows/nabihah-iqbal | |
| [2] /New-Order-mit-neuem-Album/!5237046 | |
| ## AUTOREN | |
| Diviam Hoffmann | |
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