# taz.de -- Parteitag in Berlin: SPD zieht rote Linien | |
> Die Sozialdemokraten stärken der Parteiführung und Olaf Scholz den | |
> Rücken. Sie geben dem Kanzler aber auch Hausaufgaben mit. | |
Bild: Aufbruch nach links? Die SPD-Elite (Mützenich, Klingbeil, Scholz, Esken,… | |
BERLIN taz | Am Freitagnachmittag bricht auf dem SPD-Parteitag die Revolte | |
aus. Es geht um Zeile 1.066 bis 1.073 des Leitantrags, den die | |
Parteiführung eingebracht hat. Dort wird gefordert, angesichts der jüngsten | |
Krisen die allerhöchsten Einkommen stärker zur Verantwortung zu ziehen. | |
Auch eine Reform der Erbschaftssteuer will die SPD angehen. Aber Tim | |
Klüssendorf aus Schleswig-Holstein geht das nicht weit genug. Der | |
32-Jährige tritt ans Rednerpult und bringt den Antrag ein, auch eine | |
einmalige Vermögensabgabe in den Antrag aufzunehmen. Sie sei notwendig in | |
einem gesellschaftlichen Klima, „wo es en vogue ist, 50 Euro dem | |
Bürgergeldempfänger wegzunehmen, aber nicht, an die 1,5 Millionen | |
Millionäre in diesem Land zu gehen“. Das dürfe die SPD nicht zulassen. | |
Eine einmalige Vermögensabgabe, wie sie Klüssendorf vor einem Jahr für die | |
Parlamentarische Linke entworfen hat, könnte bis zu 300 Milliarden Euro in | |
die Staatskasse spülen. Die Antragskommission des Parteitags hatte | |
empfohlen, den Antrag abzulehnen, auch die Parteispitze fand die Forderung | |
zu riskant. Schließlich soll der Leitantrag auch das Fundament für das | |
künftige Bundestagswahlprogramm sein, da will man nicht schon im Vorfeld | |
allzu viel Angriffsfläche bieten. Aber der Parteitag traut sich – und | |
stimmt dafür, die Vermögensabgabe in den SPD-Forderungskatalog aufzunehmen. | |
Klüssendorf ist der Held der Parteilinken. „Du Rebell“, klopft ihm ein | |
Delegierter im Vorbeigehen auf die Schulter. | |
Aber es bleibt bei diesem Aufstand im Kleinen. Drei Tage hat sich die SPD | |
in einer Berliner Messehalle getroffen, zum ersten Mal seit vier Jahren | |
wieder in Präsenz. Das Wetter ist widrig, die Umfragen sind es auch. Nur | |
noch 14 Prozent der Wahlberechtigten würden derzeit die SPD wählen, | |
lediglich jede Fünfte vertraut dem Kanzler – Tiefstwerte zur Halbzeit der | |
Legislaturperiode. Doch im rot ausgeleuchteten Plenarsaal rücken die über | |
600 Delegierten und ihre Gäste zusammen. | |
Es gab Zeiten, da war der Parteivorsitz eine Art Schleudersitz. Aber diese | |
scheinen vorbei zu sein. Saskia Esken und Lars Klingbeil, die die Partei | |
seit zwei Jahren gemeinsam führen, werden mit je über 80 Prozent in ihren | |
Ämtern bestätigt, für Kevin Kühnerts Verbleib als Generalsekretär stimmen | |
sogar über 90 Prozent der Delegierten. Und auch Olaf Scholz, der Kanzler, | |
der sich trotz Haushaltsverhandlungen die gesamten drei Tage Parteitag | |
gibt, bekommt zur Begrüßung warmen Applaus und nach seiner Rede Standing | |
Ovations. | |
## Ohne Schlips und Zettel | |
Die Rede des Kanzlers war mit Spannung erwartet worden. Würde Scholz seiner | |
Partei Orientierung geben? Die Verunsicherung spüren sie besonders an der | |
Basis. Marion Weike, 64, ist aus Nordrhein-Westfalen angereist, war zwanzig | |
Jahre lang Bürgermeisterin der Kleinstadt Werther. Vielen Leuten ginge es | |
relativ gut, sagt sie. Trotzdem herrsche viel Verunsicherung. „Die Leute | |
dürfen nicht den Eindruck haben, dass der Staat versagt.“ Der | |
Fachkräftemangel sei ein großes Problem. Kitas wären am Rande der | |
Auslastung, einige hätten nur noch vier Tage in der Woche geöffnet, auch | |
weil viele Flüchtlinge aus der Ukraine mit ihren Kindern gekommen seien. | |
Sie kenne Menschen, die jetzt die AfD wählen, „von denen man das nie | |
gedacht hat“. | |
Stefan Schneidt, 23, stimmt ihr zu. Der Jungunternehmer ist | |
Juso-Vorsitzender im Kreis Gütersloh. Viele Leute wüssten nicht, was in der | |
Welt passiere, so sein Eindruck: „Viele sind so überfordert, dass Fakten | |
gar nicht mehr ankommen.“ Gerade jetzt müsse man ganz viel mit den Menschen | |
sprechen. Und Elvan Korkmaz-Emre, 38, wünscht sich von ihrer Partei und der | |
Ampel mehr Geschlossenheit. „Wenn etwas schiefläuft, dann ist Olaf Scholz | |
schuld“, lacht sie. Die SPD müsse in der Koalition das Ruder stärker in die | |
Hand nehmen. | |
Scholz, nicht gerade berühmt für mitreißende Reden, nimmt die | |
Herausforderung an. Er tritt nur mit einem Zettel und ohne Schlips ans | |
Rednerpult und versichert der SPD: [1][„Es wird in dieser Situation keinen | |
Abbau des Sozialstaats geben.“] Der Saal jubelt. Scholz schlägt den großen | |
Bogen vom russischen Angriff auf die Ukraine über die Energiekrise zum | |
Krieg in Gaza, er blickt nach vorn auf den klimaneutralen Umbau der | |
Wirtschaft und auf die nötigen Investitionen in Klimaschutz – man könne es | |
nicht so machen wie die letzte Regierung, „dass man immer in schwierigen | |
Situationen neue Klimaziele formulierte und dann hinterher erschöpft von | |
diesem Vorgang alle Tätigkeiten einstellte“. | |
Im Grunde sagt Scholz nicht viel Neues und verrät auch nicht, wie die | |
Lösung im Haushaltsrätsel aussieht. Aber er trifft den sozialdemokratischen | |
Ton, etwa als er die Mindestlohnkommission und ihre Minimalerhöhung des | |
Mindestlohns gegen die Stimmen des Arbeitnehmerlagers rügt – „war nicht in | |
Ordnung“ – und über die Ampel lästert: „Manches von dem, was da so pass… | |
ist, hätte ich echt nicht gebraucht.“ Aber was Deutschland auch nicht | |
brauche, seien Leute, die nicht mehr ihre Arbeit machen. Soll heißen: Die | |
Ampel arbeitet weiter. Das wollen auch die Delegierten. Scholz kann sich | |
gestärkt fühlen, Kaffee aus Recyclingbechern mit Scholz-Konterfei waren der | |
Renner. | |
Einen Auftrag geben ihm die Genoss:innen aber doch mit für die | |
[2][Haushaltsverhandlungen] mit Finanzminister Christian Lindner und | |
Wirtschaftsminister Robert Habeck, die am Sonntagabend nach | |
Redaktionsschluss weitergingen: Kein Abbau des Sozialstaats, dafür die | |
Schuldenbremse auch 2024 aussetzen. Begründung: der Krieg in der Ukraine, | |
der auch im nächsten und im übernächsten Jahr weitergehen könne. Politisch | |
sei damit die Voraussetzung für eine Notsituation gegeben, heißt es im | |
einstimmig verabschiedeten Antrag. Zuvor hatte Scholz sich unter ebenso | |
großem Applaus dazu bekannt, die Ukraine weiter zu unterstützen, „mit | |
finanziellen Mitteln und mit Waffenlieferungen“. Lindner gab Scholz später | |
auf X Recht: „Die Unterstützung der Ukraine ist eine Investition auch in | |
unsere Sicherheit.“ Ein erster Hinweis auf ein vorsichtiges Einlenken im | |
Haushaltsstreit? | |
Die SPD hingegen weiß, was sie will: Neben einem klaren Bekenntnis zum | |
Sozialstaat, der mit der einen Hand kräftig in den Umbau der Wirtschaft, in | |
Bildung und in Infrastruktur investiert und mit der anderen umverteilt, | |
will sie auch einen anderen Tonfall in der Migrationspolitik. Die Aussage | |
von Scholz im Spiegel, „Wir müssen jetzt endlich in großem Stil | |
abschieben“, hatte viele, vor allem jüngere Genoss:innen erbost. Der | |
Streit über die [3][Migrationspolitik] war auf den Samstagabend gelegt | |
worden, als viele Delegierte nach stundenlangen Antragsberatungen schon | |
leicht ermattet waren. | |
Trotzdem wurde es hitzig. Niedersachsens Ministerpräsident [4][Stephan | |
Weil] und Thüringens Innenminister Georg Maier stiegen in den Ring, um | |
diesen restriktiveren Kurs mit weniger Leistungen für | |
Asylbewerber:innen und entschlosseneren Abschiebungen zu verteidigen. | |
Viele Kommunen seien überfordert, warnte Maier. Serpil Midyatli, | |
SPD-Vorsitzende aus Schleswig-Holstein, hielt dagegen: Wenn es zu wenig | |
Wohnungen gebe, müsse man mehr bauen und nicht auf Flüchtlinge schimpfen. | |
Am späten Abend stimmt der Parteitag dann einem Leitantrag der | |
Parteiführung zu, in den rund 60 Änderungsanträge eingearbeitet wurden. Der | |
Familiennachzug wurde wieder aufgenommen, die Seenotrettung solle „nicht | |
kriminalisiert“, sondern unterstützt und bei abgelehnten Asylbewerbern die | |
freiwillige Ausreise bevorzugt werden, statt diese abzuschieben. Doch die | |
ganz große Revolte blieb auch bei diesem Thema aus. Die Anträge der Jusos, | |
die Grenzschutzagentur [5][Frontex] abzuschaffen, dem Gemeinsamen | |
Europäischen Asylsystem samt Außenlagern an den Grenzen nicht zuzustimmen | |
und Abschiebungen in den Irak sofort auszusetzen: alle weggestimmt. Bei | |
aller Wärme und Solidarität im Saal – die SPD ist als Kanzlerpartei vor | |
allem eins: wahnsinnig diszipliniert. Das trifft auch auf das Ziel zu, 2 | |
Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Bundeswehr zu reservieren. Trotz | |
der Haushaltslage bekräftigten es die Delegierten, wenn auch mit sehr | |
knapper Mehrheit, im Leitantrag zur Außenpolitik. | |
Auch verabschiedete sich die Partei offiziell von ihrer alten | |
Russlandpolitik. Er habe das imperiale Denken Putins komplett unterschätzt, | |
bekannte Fraktionschef Rolf Mützenich. Und auch Parteichef Klingbeil tat | |
Buße. „Es ist ein Fehler gewesen, sich vom System Putin nicht früher zu | |
distanzieren.“ Heute müsse es darum gehen, „Sicherheit vor Russland zu | |
organisieren“. Nun beinhaltet diese Entspannungspolitik auch, dass | |
Deutschland international „Führung auf Augenhöhe auch in militärischen | |
Fragen“ zeigen soll. So steht es im Leitantrag. Dass der Vorsitzende des | |
Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth, ein Verfechter des | |
realpolitischen Kurses, nicht mehr in den Parteivorstand gewählt wurde, mag | |
auch ein letztes Aufbäumen gegen diesen neuen Kurs gewesen sein. Der | |
[6][Krieg in Gaza] schien dagegen weit entfernt. Es blieb dem neuen Chef | |
der türkischen Oppositionspartei CHP, Özgür Özel vorbehalten, als | |
Gastredner einen sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen zu fordern. | |
Scholz dagegen hatte auf dem Parteitag zuvor unter langem Jubel gesagt, | |
„Deutschland steht an der Seite Israels“. | |
Als die Delegierten am Sonntagmittag das Messegelände verlassen, gehen die | |
meisten beschwingt nach Hause. Nein, die Internationale haben sie nicht | |
noch einmal angestimmt, das passierte schon auf dem Parteiabend am Samstag | |
um Punkt Mitternacht. Aber Tim Klüssendorf aus Schleswig-Holstein findet: | |
„Die Partei hat gezeigt, dass sie was will und nicht nur Kanzlerwahlverein | |
wie die Union ist.“ | |
10 Dec 2023 | |
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