# taz.de -- Mietenwatch Gentrifizierungskiez: Wenn der Wedding wirklich kommt | |
> Trotz Armut liegen die Angebotsmieten in Humboldthain Nordwest bei über | |
> 20 Euro. Der Verdrängungsdruck auf die Mieter ist enorm. | |
Bild: Im Wedding gerät was ins Rutschen | |
BERLIN taz | „Der Wedding kommt – das war lange ein Running Gag“, sagt | |
Philipp Gertner auf dem Bürgersteig in der Gerichtstraße. Gertner ist mit | |
seinen zurückgegelten Haaren, der Designerbrille und einer rot-schwarz | |
karierten Jacke eine auffällige Erscheinung. Retrolook. Ebenfalls Retro, | |
aber doch ganz anders ist das Viertel um ihn herum: Humboldthain Nordwest. | |
Das Gebiet zwischen den S-Bahnhöfen Wedding und Gesundbrunnen gehört zu den | |
ärmsten der Stadt. Unsanierte Häuser, viele leere Geschäfte und viel | |
befahrene Straßen prägen das Bild. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. | |
Zur anderen Hälfte gehören Gertner und sein Projekt in der Gerichtstraße: | |
Im Hinterhof eines über 100 Jahre alten Fabrikgebäudes betreibt er die | |
Fabrik 23: Großzügige Lofts für Film- und Fotoproduktionen und private | |
Events. „Til Schweiger hat schon hier gedreht“, sagt Gertner. Momentan wird | |
der Hof der Fabrik 23 renoviert. 20 Millionen Euro werden investiert, doch | |
die „Fassade bleibt, wie sie früher war, auch die Einschusslöcher“. | |
Seit zehn Jahren ist Gertner vor Ort. Während die Fabrik vor allem von | |
außerhalb gebucht wurde, habe sich in der direkten Umgebung lange nichts | |
getan. Den „Kick-off“, wie er es nennt, habe der Kiez erst mit den neuen | |
Nachbarn erlebt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo einst das | |
Stadtbad Wedding war, steht seit vergangenem Jahr ein klotziges | |
Neubauensemble: das Studio B2 bietet möblierte Studentenwohnungen für | |
Kinder reicher Eltern. | |
„Studio B2, das neue Gesicht für zentrales Wohnen, fügt sich in die | |
Nachbarschaft ein – und steht doch ganz für sich selbst. Studentenwohnen | |
mit Mehrfachnutzen: Es stellt dringend gesuchte Wohnungen für Berlin | |
bereit. Und es bietet eine Anlageform mit erfreulicher Renditeaussicht.“ | |
(1-Zimmer-Appartement, 23 qm, 561 Euro warm, Angebot auf Immoscout) | |
„Bislang hieß Gentrifizierung hier ausschließlich Anstieg der Mieten“, sa… | |
Gertner, der selbst in Prenzlauer Berg wohnt. Nun aber zeichne sich der | |
Wandel ab. Am nahen Nettelbeckplatz, dem Zentrum des Kiezes und zugleich | |
Treffpunkt der Trinkerszene, hat mit dem Mirage ein erstes Hipster-Cafe | |
eröffnet, mit Latte macchiato für drei Euro und Kunden mit Apple Notebooks. | |
Gertner sagt: „Das ist eine Bereicherung. Zum ersten Mal gibt es hier guten | |
Kaffee. Davor gab’s nur Netto.“ | |
## Der Druck ist enorm | |
Netto gibt es immer noch, aber der Druck auf das Viertel und seine | |
alteingesessenen Bewohner ist enorm. Genauer gesagt, so groß wie nirgendwo | |
sonst in Berlin. Das [1][Projekt Mietenwatch] hat 477 Kieze in Berlin | |
verglichen, ganz oben – nach dem angrenzenden Neubauviertel Europa-City an | |
der Heidestraße – steht Humboldthain Nordwest. Nirgends ist der | |
Verdrängungsdruck, der sich aus dem Verhältnis der Angebotsmieten und dem | |
Sozialstatus der Bevölkerung ergibt, größer. Hier trifft eine überwiegend | |
arme Bevölkerung, die niedrige Bestandsmieten zahlt, auf explodierende | |
Preise bei Neu- und Wiedervermietung. | |
Knapp 14.000 Menschen leben in dem Gebiet zwischen Müller- und | |
Brunnenstraße, der Anteil an Transferleistungsbeziehern von mehr als 40 | |
Prozent übersteigt jenen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. | |
Der Durchschnittspreis aller 576 Wohnungsangebote im Viertel, die in den | |
vergangenen 18 Monaten in die Auswertung von Mietenwatch eingeflossen sind, | |
liegt bei utopischen 27,63 Euro warm pro Quadratmeter. Etwa die Hälfte der | |
Angebote entfällt auf die Studenten-Mikroappartements, aber auch andere | |
Anbieter schlagen zu. Bei Immoscout liegt der durchschnittliche Mietpreis | |
in der Gegend bei mehr als 21 Euro. | |
Die Ertragslücke zwischen aktuellen und potenziellen Mieten ist also riesig | |
– und damit auch der Anreiz, die bisherigen Mieter loszuwerden. Wer seine | |
Wohnung verliert, hat keine Chance, eine neue bezahlbare Wohnung im Kiez zu | |
finden. In der Folge steigt die Zahl derer, die lange in ihren Wohnungen | |
leben. Umzüge werden vermieden, Menschen rücken zusammen, schränken ihre | |
Lebensqualität ein, um die Miete zu finanzieren. | |
## Milieuschutzgebiet seit Dezember | |
Der Bezirk Mitte hat in einer Untersuchung ein „sehr hohes | |
Aufwertungspotenzial“ festgestellt und das Viertel im Dezember zum | |
Milieuschutzgebiet erklärt. Gleichwohl heißt es vom Bezirk, es bestünden | |
„ein bisher noch geringer Aufwertungsdruck sowie eine mittlere | |
Verdrängungsgefährdung“. Beide Annahmen sind angesichts der Daten von | |
Mietenwatch nicht zu halten. | |
„Hier wurde eine ideale Wohnsituation für Familien, junge Paare wie auch | |
Singles am Puls der Zeit und nah am Geschehen geschaffen. Das Zusammenspiel | |
dieser unglaublichen Berliner Lage und einem modernen Wohnkomfort ist | |
besonders für langfristige Mieter attraktiv.“(2-Zimmer-Wohnung, | |
Liesenstraße 4: 86 qm, 1.436 Euro warm, Angebot auf Immoscout) | |
Einer, der den Druck spürt, wohnt und arbeitet in einem Hinterhof hinter | |
der Fabrik 23. Der Metallbildner Lorenz Bösl mietete sich vor fünf Jahren | |
in die Werkstatträume ein. Inzwischen wurde seine Miete auf 12 Euro | |
verdoppelt. Sein Atelier teilt er sich nun mit dem freischaffenden Künstler | |
Fritz Gobbesso. Neue Brandschutzbestimmungen und die steigende Miete haben | |
ihn gezwungen, seinen eigenen Raum in der Fabrik aufzugeben. Stattdessen | |
kämen nun andere: „Selbst bei den spießigsten Firmen, von Vodafone über die | |
Volksbank bis McKinsey, hat es sich herumgesprochen, dass es cool ist, im | |
schrabbeligen Wedding zu feiern“, sagt Gobbesso | |
Bösl ist dabei, sich einen Lkw auszubauen. „Eine Wohnung hier zu suchen, | |
darauf hätte ich keinen Bock.“ Zwar gebe es noch alte Strukturen, wie die | |
nahe Wiesenburg mit ihren günstigen Künstlerateliers oder den türkischen | |
Kassettenladen, dem kürzlich die Miete auf 160 Euro monatlich verdoppelt | |
wurde. Doch die Geschäfte, die sich nicht an die ursprüngliche | |
Nachbarschaft richten, ergreifen immer mehr Raum. „Im neuen Burger-Laden | |
gibt’s Angus-Rind für 16,90 Euro – wer im Wedding isst so was?“, fragt | |
Bösl. | |
Auch Katharina Mayer, 28 Jahre alt, kennt Humboldthain Nordwest gut. Sie | |
lebt in der Schönwalder Straße und sitzt für die Linke in der | |
Bezirksverordnetenversammlung Mitte. Bei einem Spaziergang am Vormittag der | |
Mietendemo „Erst richtig deckeln, dann enteignen“ ärgert sie sich darüber, | |
dass der Wedding vom Time-Out-Magazin zum viertcoolsten Kiez der Welt | |
gekürt wurde. „Das bringt dem Kiez gar nichts“, sagt sie, „hier sind die | |
Leute richtig arm.“ | |
„Steigende Mieten und Start-up-Gelder haben das Gesicht der deutschen | |
Hauptstadt verändert, aber im Wedding sterben alte Traditionen langsam. | |
Spottbillig und immer noch sexy, das unterbewertetste Viertel steht für den | |
außergewöhnlichen Charme, für den Berlin einst bekannt war, und der an | |
Orten wie Neukölln oder Kreuzberg immer schwerer zu finden ist.“ („Die 50 | |
coolsten Nachbarschaften der Welt“. Platz 4: Berlin-Wedding. | |
Time-Out-Magazin 9/19) | |
Mayer nennt Orte, die den Wandel vorantreiben, aber für die Bewohner nicht | |
zugänglich seien, „Ufos“: Gerichtshöfe, Panke Culture oder das hippe Café | |
am Nettelbeckplatz. Die „Pioniere“, die in die Ufos gingen, kämen aus Mitte | |
und aus Prenzlauer Berg – fast so, als würde der Wedding zwischen diesen | |
zerrieben. | |
Neben des „Ufos“ gibt es auch Orte, die den Wandel potenziell vorantreiben | |
könnten, auch wenn sie eigentlich das Gegenteil bezwecken: das Baumhaus, | |
ein Projektraum für „sozial-ökologischen Wandel“ – ein Beispiel für die | |
Dialektik der Gentrifizierung. | |
Und immerhin gibt es in der Gerichtstraße auch Entwicklungen gegen den | |
Trend. Mayer führt auch dorthin. Sie möchte nicht nur über ihren Kiez | |
meckern, sondern auch Alternativen zeigen: Gleich neben den überteuerten | |
Studentenappartements baut die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Gesobau | |
bezahlbare Wohnungen. Auch in der Lynarstraße, auf der anderen Seite des | |
Weddinger S-Bahnhofs, stehen bezahlbare Neubauten der Genossenschaft „Am | |
Ostseeplatz“. | |
## Vorkaufsrecht reicht nicht | |
Das kommunale Vorkaufsrecht, das Bezirken im Milieuschutzgebiet zusteht, | |
sei eigentlich ein gutes Mittel gegen die Verdrängung, sagt sie. Aber zum | |
einen brauche es dafür radikale Baustadträte. Andererseits kritisiert | |
Mayer, dass dieses Mittel „zu viele Lücken, zu viele Ausnahmen“ kenne. Ein | |
Haus hat der Bezirk im Humboldthain Nordwest bisher über das Vorkaufsrecht | |
gekauft, bei zwei Abwendungsvereinbarungen zur Eindämmung von | |
Mieterhöhungen mit den Käufern geschlossen. In vielen Fällen lehnen die | |
landeseigenen Wohnungsunternehmen den Kauf angesichts der | |
Spekulationspreise ab. | |
„Ihre Traumwohnung mit super Anbindung. Hochwertiger Laminatboden. | |
Stylisches Wannenbad mit Tageslicht. Moderne Küchenzeile. Sonniger Balkon.“ | |
(2-Zimmer-Wohnung Reinickendorfer Straße: 50 qm, 1.079 Euro warm, Angebot | |
auf Immoscout) | |
Youssef Rabbaoui, Jahrgang 1954, hat die Schnauze voll, schon seit 20 | |
Jahren. Damals hatte der Eigentümer des Hauses gewechselt, in dem er mit | |
seinen beiden Kindern wohnt. Während sich der alte Eigentümer zumindest | |
noch Mühe gegeben habe, lasse der gegenwärtige Eigentümer Alexander Skora, | |
der einst in der Neuköllner Weserstraße ein nicht genehmigtes Hostel | |
betrieb, das Haus einfach verfallen. „Das ist ein Verbrechen“, sagt | |
Rabbaoui. Skora ließ eine taz-Anfrage bis Redaktionsschluss unbeantwortet. | |
Rabbaouis Wohnung ist seit Jahren renovierungsbedürftig: Feuchtigkeit, die | |
aus dem Keller in die Wohnung im Erdgeschoss steigt, Schimmel an den | |
Heizungsrohren im Bad, Löcher in der Decke und im Boden. Rabbaoui trägt im | |
Wohnzimmer Gummihausschuhe. Weil es so feucht und kalt in der Wohnung sei, | |
könnten seine Kinder und er nicht auf Schuhe verzichten. | |
## Störende Altmieter | |
Ein paarmal sei der Vermieter gekommen, das letzte Mal vor zwei Wochen, | |
erzählt Rabbaoui. Doch er zeige keine Einsicht. Im Wohnzimmer des | |
studierten Soziologen steht ein großes Bücherregal. Rabbaoui sagt, er habe | |
sehr unter der Wohnung gelitten – und dass er schon längst auch hätte | |
wegziehen können. Vermutlich möchte der Vermieter genau das. Denn die | |
Hochstraße liegt zentral, der Humboldthain-Park auf der anderen Seite der | |
Bahnschienen ist nur einen Steinwurf entfernt. Würde man die Wohnung | |
sanieren, wäre es ein leichtes, Mieter zu finden, die bereit wären, viel | |
mehr zu zahlen. | |
Rabbaoui zahlt nach diversen Mieterhöhungen immer noch knapp 600 Euro | |
bruttokalt für 103 Quadratmeter. Er hängt an der Wohnung und ist bereit, um | |
sie zu kämpfen. Deshalb hat er seinen Vermieter nun nach jahrelangem Streit | |
verklagt. Eine neue Wohnung im Kiez könne er nur mit einem entsprechend | |
hohen Gehalt finden. Das hat er aber nicht, er bezieht Sozialhilfe. Trotz | |
des miserablen Zustands seiner Wohnung sagt er: „Ich wünsche mir, dass ich | |
hier bleiben kann.“ | |
8 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Erik Peter | |
Volkan Ağar | |
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