| # taz.de -- Krise der Sozialdemokratie: Meine Mutter, die SPD und ich | |
| > Die Mutter unserer Autorin ist seit über 40 Jahren in der SPD. Sie | |
| > leitete lange einen Ortsverein, heute ist ihr die Partei fremd geworden. | |
| > Wie kam es dazu? | |
| Bild: Elisabeth Bühring trat 1973 in die SPD ein | |
| Wenn die SPD eine Wahl verliert, ist meine Mutter oft im Fernsehen zu | |
| sehen. 2009 fuhr sie zur Party nach der Bundestagswahl ins | |
| Willy-Brandt-Haus. Damals hatte die Partei schon schlechte Umfragewerte, | |
| Frank-Walter Steinmeier hatte als Spitzenkandidat einen mäßig inspirierten | |
| Wahlkampf geführt, aber als die ersten Hochrechnungen kamen, war das doch | |
| ein Schock: nur 23 Prozent. | |
| Wenn meine Mutter erstaunt ist, reißt sie die Augen auf und formt die | |
| Lippen zu einem schmalen O. An diesem Abend hielt eine Kamera des ZDF | |
| direkt drauf. Seitdem benutzt der Sender diese Bilder immer wieder bei | |
| SPD-Niederlagen, zuletzt nach der Landtagswahl in Hessen im Oktober. | |
| Ich rufe meine Mutter schon länger nicht mehr an, wenn ich traurig bin. | |
| Nach den letzten beiden Wahlen war das anders. „Und, wie geht es dir mit | |
| dem Ergebnis?“, fragte ich. Sie sagte: „Ja, nicht gut. Ich habe richtig | |
| Sorge.“ | |
| Meine Mutter ist 1973 in die SPD eingetreten, mit 21 Jahren. Lange Jahre | |
| war sie Vorsitzende eines Ortsvereins mit 60 Mitgliedern und | |
| stellvertretende Bürgermeisterin einer Gemeinde im Landkreis Osnabrück, | |
| westliches Niedersachsen, geprägt von Schweinezucht und Legebatterien. | |
| Tiefschwarz alles, und da war sie in der SPD. | |
| Ich habe die SPD vielleicht auch mal gewählt, kann sein, ich mag mich daran | |
| nicht erinnern. Es gab aber nie eine Partei, der ich meine Stimme gern | |
| gegeben habe. Ich habe sie immer bunt verteilt. Dass die SPD nun qualvoll | |
| stirbt, betrifft mich aber, weil ich einmal an ihre soziale Politik | |
| geglaubt habe. Die SPD war in meiner Kindheit ein Zuhause. So vertraut wie | |
| für manche die Furnierschrankwand im elterlichen Wohnzimmer waren für mich | |
| weiß-rote Kugelschreiber und Broschüren mit Fotos meiner Mutter. Und zu | |
| diesem Zuhause gehörte auch das Versprechen von Gerechtigkeit, das ich mit | |
| dem Wort „Genosse“ verband. | |
| ## „Schröder“, nicht mehr „Gerd“ | |
| Heute spricht meine Mutter von [1][„Schröder“, nicht mehr von „Gerd“].… | |
| Partei ist ihr fremd geworden, sie engagiert sich nicht mehr. Ich möchte | |
| wissen, wann das kaputtging, das zwischen meiner Mutter und der SPD. Wie | |
| sich die politische Heimat meiner Kindheit auflöste. Also fahre ich mit | |
| meiner Mutter noch mal hin, zu ihrer alten Gemeindefraktion. | |
| Auf dem Weg zur Fraktionssitzung ihres früheren Ortsvereins fahren wir an | |
| einem Pferdegestüt vorbei, das der Familie eines früheren Schulfreunds | |
| gehört. Meine Mutter erzählt, dass die Besitzerin mal bei uns zu Hause | |
| anrief und sich beklagt habe, ich hätte ihren Sohn ein | |
| „Kapitalistenschwein“ genannt. Meine Mutter behauptete am Telefon, ein | |
| solches Vokabular würde bei uns nicht gebraucht, dabei stimmte das gar | |
| nicht. | |
| Heute sagt das keiner mehr. Und vielleicht ist das Teil des Problems, dass | |
| auch in der SPD keiner mehr „Kapitalistenschwein“ sagt. | |
| Die alte Fraktion meiner Mutter trifft sich in den Räumen der | |
| Arbeiterwohlfahrt: gelb gemusterte Papiertischdecken, rotes Plastiklaub, | |
| Bier mit Tequila-Geschmack. Fünf Leute sitzen da. Die zwei Frauen in den | |
| Vierzigern waren mal Schülerinnen meiner Mutter, die Kunst und Arbeitslehre | |
| an einer Gesamtschule unterrichtet hat. | |
| ## Egal, welche Partei die Straßen flickt | |
| Die eine Frau kenne ich noch von früheren Ausflügen. Den Mann daneben, | |
| ungefähr in meinem Alter, so Mitte dreißig, kenne ich nicht. Auch den | |
| Fraktionsvorsitzenden nicht. Dann ist da noch der Bürgermeister, den kenne | |
| ich, der ist seit Ewigkeiten dabei. Seit 2001 ist er der erste | |
| SPD-Bürgermeister in der Gemeinde. Er sieht so aus, wie man sich den | |
| Bürgermeister bei Benjamin Blümchen vorstellt, mit gemütlichem Bauch. „Dich | |
| muss ich erst mal drücken“, sagt er zu meiner Mutter. Und macht das mit | |
| norddeutscher Herzlichkeit. | |
| Lange wurde in der Gegend nur CDU gewählt. Mittlerweile sei die Partei bei | |
| Kommunalwahlen egal, da gehe es um die Person, sagen sie hier. Der | |
| SPD-Bürgermeister ist so beliebt, dass die CDU sogar auf Gegenkandidaten | |
| verzichtet hat. Wenn man die Leute in den Ratssitzungen reden höre, könne | |
| man oft gar nicht sagen, wer zu welcher Partei gehöre, sagt eine der Frauen | |
| am Tisch. Es sei egal, welche Partei die Löcher in den Straßen flicke, sagt | |
| meine Mutter. | |
| Drei Tagesordnungspunkte gibt es bei der Fraktionssitzung, dann Sonstiges. | |
| Grundstücksgrenzen, Asphalt und Probleme mit neumodischer | |
| Vorgartengestaltung. Weil immer mehr Hausbesitzer ihre Grundstücke mit | |
| Steinen und dickfleischigen Immergrünpflanzen gestalten, finden die Bienen | |
| kaum genug Blüten. Wenigstens die AfD ist hier kein Problem. | |
| Meine Mutter hört zu und isst AWO-Schokolade, sie faltet das Papier | |
| ordentlich zusammen, manchmal nickt sie. Sie wirkt, als hätte sie das alles | |
| nicht besonders vermisst. Nur bei der Turnhalle horcht sie auf. Seit 25 | |
| Jahren soll die gebaut werden. „Dass die immer noch nicht fertig ist“, sagt | |
| meine Mutter und schüttelt den Kopf. Wenn jetzt in Berlin die Koalition | |
| platze, flössen die schon zugedachten Bundesgelder nicht, fürchtet die | |
| Fraktion. Keine Sorge, vor Weihnachten passiert da nichts, sagt der | |
| Bürgermeister. | |
| ## Die SPD als Provokation | |
| 1980 ziehen meine Eltern, die beide als Lehrer an einer Gesamtschule | |
| arbeiten, in die Gemeinde. Zwei Jahre später werde ich geboren. Unser Dorf | |
| besteht aus vier Bauernhöfen und drei weiteren Häusern. Weizenfelder, | |
| Kuhweiden. Wir sind Zugezogene und meine Mutter bei der SPD. Das reicht | |
| schon, um nicht nur Freunde zu haben. Außerdem raucht meine Mutter Marlboro | |
| Light, engagiert sich gegen Baumfällungen, spinnt die Wolle unserer | |
| Hobby-Schafzucht. Sie ist im Emsland aufgewachsen, klassisch | |
| nachkriegskonservativ, ihr Vater wählte immer CDU. Dass sie zur SPD ging, | |
| war wohl Provokation. Die Grünen gab es ja damals noch nicht. | |
| Mir war als Kind der Regenwald wichtig. Ich malte Plakate mit vielen Bäumen | |
| und hängte sie in Supermärkten auf. Wir hatten ein Western-Windrad, mit | |
| großen gelben Flügeln, das Strom machte und auf das man klettern konnte – | |
| und das war ein Problem auf dem Land, das Anderssein. | |
| Drohungen, Anfeindungen, körperliche Gewalt in der Kneipe, die Welt der | |
| Filterkaffee-Trinker konnte auch schnell feindlich werden. Ich erinnere | |
| mich an die Bilder vom Messer-Attentat auf Oskar Lafontaine 1990. Wie die | |
| braunen Stühle unordentlich dort standen, das weiße Kleid der Täterin, die | |
| Rosen. Was blieb, war ein Gefühl von „Wir gegen die“, ein wohliges Gefühl. | |
| Ich bin in dem Jahr geboren, als Helmut Kohl Kanzler wurde. 16 Jahre | |
| aufgewachsen mit diesem schmierigen Wohlstands-Grinsen. Und mit dem Gefühl | |
| der Machtlosigkeit. Dort die Schlechten, wir die Guten. Solidarität, sich | |
| kümmern. Das Gute war für alle da. „Gemeinsam sind wir stark“, „Freu di… | |
| auf den Wechsel, Deutschland“, solche Plakate klebte die SPD damals. Links | |
| sein, das war für meine Mutter, fortschrittlicher zu sein, aufgeklärter, | |
| „nicht so engstirnig“. Heute möchte sie anstatt „links“ lieber sagen: … | |
| wagen. | |
| ## Gemeinderat, Bauausschuss, Jugendausschuss | |
| Meine Mutter hatte zu Hause viele Ordner im Regal. An den Abenden musste | |
| sie zu Sitzungen. Gemeinderat, Bauausschuss, Jugendausschuss. Sie war in | |
| der ASF, der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen. Und sie war | |
| stolz, weil in ihrer Ratszeit mehr Frauen als Männer in der Fraktion saßen. | |
| Erstmalig. Sie machte auch eine Ortsvereinszeitung, die hieß moment mal. | |
| Darin standen Sätze wie: „Der Staat leistet sich den Luxus, | |
| Spitzenverdienern ihre Haushaltshilfe, teure Geschäftsreisen und sogar | |
| Schmiergelder steuerlich zu bezuschussen.“ | |
| Der Ortsverein bestand aus Menschen in beigen Jacken, mit rosa Wangen, | |
| manchmal Paare, ein Tierarzt, klein und graue Haare, viele Lehrer wie meine | |
| Eltern, außerdem Polizisten, Maurer. Meine Mutter fing dort als | |
| Schriftführerin an und wurde Anfang der 90er zur Vorsitzenden gewählt. | |
| Manchmal fuhren sie in Bussen irgendwohin und ich durfte mit. Es gab | |
| Kegelabende mit Bier – und für mich Fanta und Kekse aus Metalldosen. | |
| Im Herbst 1992 stand meine Mutter weinend im Bad, einen lila Waschlappen in | |
| der Hand, durch die geöffnete Tür hörte man das Radio. Sie weinte, weil | |
| „Willy“ gestorben war. Ich war zehn und machte mir Sorgen. Dass sie wegen | |
| Willy Brandt geheult habe, könne sie sich wirklich nicht mehr vorstellen, | |
| sagt sie heute. | |
| Kurze Zeit später, 1993, hat die Partei in einer Urwahl über ihren | |
| Kanzlerkandidaten abstimmen lassen. Die Basis, das waren damals noch | |
| 870.000 Mitglieder. Und die Urwahl versprach Teilhabe. Wir waren die | |
| Partei. Es war ein guter Sommer. Ich spielte probeweise Fußball und | |
| entschied mich dann doch für Judo. Beim Ballett sagte man, ich sei zu dick. | |
| Obwohl ich gar nicht dick war. Ich glaube, meine Mutter freute das. | |
| Ballett, das waren wir nicht, das waren die anderen. | |
| ## Ein Kribbelgefühl am Wahlabend | |
| Meine Mutter baute für die Abstimmung über den Kanzlerkandidaten das | |
| Schützenvereinsheim zum Wahlbüro um. Dafür musste man große Pappen auf die | |
| Tische gegenüber dem Schießstand stellen und jeweils einen Kugelschreiber | |
| anbinden. Meine Mutter stimmte dann nicht für Wieczorek-Zeul, obwohl sie | |
| für sie war und nicht für Scharping, nicht für Schröder. Das sei eine | |
| verschenkte Stimme, sagte sie. Ich verstand das nicht: Wenn sie möchte, | |
| dass sie gewinnt, warum stimmt sie dann für einen anderen? Es war mein | |
| erster Kontakt mit Realpolitik. | |
| Ich freute mich als Kind, wenn sonntagabends in der „Lindenstraße“ die | |
| ersten Hochrechnungen kommentiert wurden, weil meine Eltern sich freuten. | |
| Bei den Worten „erste Hochrechnung“ hatte ich lange Zeit ein Kribbelgefühl | |
| wie beim Gedanken an Silvester. | |
| Über Zeitungsartikeln der Lokalpresse, die meine Mutter ordentlich | |
| abheftete, standen Überschriften wie „SPD fordert die Rücknahme der | |
| Kindergarten-Sparbeschlüsse“, „SPD befasste sich mit der Asylproblematik�… | |
| auch einen empörten Leserbrief an das Kreisblatt heftete sie ab, in dem sie | |
| sich beschwerte, die Zeitung würde nur im Sinne der CDU berichten. Aber | |
| einmal schrieb die auch, wie meine Mutter dem Gegner der CDU einen „Hang | |
| zur Polemik“ vorwarf . Ihre Streitlust fand ich „cool“, so sagte man dama… | |
| noch. | |
| Zur Wahl 1994 machte meine Mutter eine Broschüre, in der stand, dass die | |
| Ausgaben für „Steuerkriminalität“ viel höher seien als für Sozialhilfe.… | |
| Plakate der CDU zeigten in diesem Jahr rote Socken. Bei der Wahl musste ich | |
| dann allein draußen vor dem Wahlbüro warten, weil ich mit einem | |
| SPD-Luftballon spielte. Als Wahlwerbung sei der an der Urne verboten, | |
| sagten die Wahlhelfer. Meine Mutter war empört und ich fühlte uns in eine | |
| Außenseiterrolle geschoben, die es einfacher machte, zu glauben, wir seien | |
| im Recht. | |
| ## Dann war „Gerd“ Kanzler | |
| Dann verlor Kohl die Wahl, ich war 16 und es kam mir wie eine Erlösung vor. | |
| Im Wahlkampf hatte meine Mutter für Schröder gekämpft, er habe sich in | |
| Niedersachsen „nachhaltig um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gekümmert“, | |
| sagte sie auf einer Veranstaltung. Dann war „Gerd“ Kanzler. Es gab Sekt und | |
| Freudenschreie. Es war ein bisschen so, als würde einem endlich das Haus | |
| gehören, in dem man wohnt, endlich die Fassade streichen, endlich das Dach | |
| ausbessern. „Endlich mal regieren“, sagte meine Mutter. | |
| Ulla Schmidt, Franz Müntefering und Peter Struck, die waren wie entfernte | |
| Verwandte: sympathisch und fremd. Im Dorf hatten sie keine große Bedeutung. | |
| Und die Freude über den Sieg von Rot-Grün verblasste. „Jetzt müssen wir | |
| aber …“, sagte meine Mutter. | |
| Und dann hatte man bald immer wieder das Foto vom Wahlabend im Kopf, von | |
| [2][Gerd, Joschka und Oskar, ihre Champagnerschalen] haltend, feist | |
| grinsend. Mit der Macht kamen Hartz IV, Scharpings Pool-Fotos und | |
| schließlich die Vertrauensfrage. Eine neue Sozialdemokratie, die sich um | |
| die kümmerte, die gar nicht in unserem Bekanntenkreis waren. Genosse der | |
| Bosse. Natürlich tranken meine Eltern auch Barolo, aber nur vom Aldi. | |
| Trotzdem sprach meine Mutter manchmal, als sei sie mit in der | |
| Regierungsverantwortung. Während sie noch mit Sach- und Fraktionszwang | |
| argumentierte, wurde alles immer schlimmer. Niemand verstand die | |
| Riesterrente, Agenda 2010, Arbeitslosengeld II. | |
| ## Ein rotes Mazda-Cabriolet | |
| Wer bestimmen darf, macht auch Fehler. Geht nicht anders. „Schlimmer als | |
| mit der CDU kann es ja nun nicht werden.“ An diesem Satz hielt sich meine | |
| Mutter in den späten Jahren von Rot-Grün noch lange fest. „Politische | |
| Träume sind wirklich etwas anderes, als echte Politik machen zu müssen“, | |
| sagt sie heute. „Aber diesen Schröder-Scheiß, Hartz IV, das habe ich schon | |
| als nicht sozial empfunden.“ | |
| In der Endphase von Rot-Grün wurde meine Mutter zum Realo und legte sich | |
| schließlich ein rotes Mazda-Cabriolet zu. Ich freute mich für sie, denn sie | |
| gönnte sich selten was. | |
| Ich musste dann los, unser Dorf und die gemeinsame SPD-Heimat hinter mir | |
| lassen. Ich fuhr auf der Schnellstraße entlang verschiedener | |
| Politisierungsmöglichkeiten: Studium, Anti-Nazi-Demos, Freunde mit | |
| interessanten Ideen von der Welt. Ich arbeitete mehr durch Zufall kurz als | |
| Pressesprecherin eines PDS-Kandidaten und sollte die meiste Zeit nur darauf | |
| achten, ob seine Socken zur Krawatte passten. | |
| ## Kuschelige Popkultur | |
| Als meine Mutter 21 war, trat sie in eine Partei ein, sie glaubte an | |
| Gerechtigkeit und entwickelte daraus ein großes Pflichtgefühl. Ich dagegen | |
| fand statt einer politischen Heimat eine kuschelige Popkultur. Ich zog nach | |
| Berlin, wo es in den Clubs keine Parteien gab, aber die Idee einer | |
| milieuübergreifenden Szene. Das Versprechen lautete: Jeder kann dabei sein. | |
| Jedes Hyperindividuum. Die große gemeinsame Erzählung aber fehlte. | |
| Politische Identität war nur ein nachgeordneter Teil in der Erzählung des | |
| eigenen Lebens. | |
| An den Wahlabenden äffte ich mit Freunden eine Zeit lang die Floskeln der | |
| Parteipolitiker nach: „Klarer Auftrag“, „Verlust abgewendet“, „gestä… | |
| einziehen“. Erst war das noch lustig, dann war es lächerlich. Ich habe | |
| heute vergessen, was ich bei vielen Wahlen angekreuzt habe, weil es mir | |
| egal war. Ein paarmal habe ich „Die Partei“ gewählt, weil ich mir die | |
| Finger nicht schmutzig machen wollte. Weil der Zynismus sich als | |
| Ehrlichkeit verkleidete. | |
| Eine Kindheit mit der SPD machte aus mir keine sozial engagierte Person. | |
| Die SPD gewann mich nicht, und sie verlor gleichzeitig das Engagement | |
| meiner Mutter. | |
| Denn meine Mutter spielte jetzt mehr Solitaire auf dem Computer, sie fuhr | |
| Rennrad und begann Saxofon zu lernen. 2006 hat sie dann all ihre | |
| politischen Mandate abgegeben. Eine Krankheit machte es ihr leichter. Wenn | |
| ich sie heute nach den Gründen frage, sagt sie: „Es war mir zu viel. Ich | |
| fühlte mich überfordert. Immer wurde man angemacht, man war der Mülleimer | |
| für alle Menschen, die sich über die da oben aufregen wollten.“ | |
| ## Urkunde, Blumenstrauß und Handtuch-Set | |
| 2013 hat sie eine Urkunde für vier Jahrzehnte Parteimitgliedschaft | |
| bekommen, einen Blumenstrauß und ein Handtuch-Set. Das hatte sie sich | |
| gewünscht, etwas Nützliches. „Der politische Rückzug war auch Enttäuschung | |
| über den Verrat am sozialen Gedanken, aber parallel dazu hat sich die | |
| Gesellschaft eben auch entwickelt, es gab nicht mehr so viele Arbeiter, für | |
| die wir uns einsetzen müssen“, sagt meine Mutter, auch wenn sie schon vor | |
| Längerem entschieden hat, nicht mehr bei Amazon zu bestellen, weil sie die | |
| Arbeitsbedingungen dort ablehnt. | |
| „Mit der Regierungsbeteiligung bin ich viel angreifbarer geworden. Vorher | |
| waren wir die, die immer ‚Geht so nicht!‘ geschrien hatten. Und dann lief | |
| es nicht so viel besser als bei den anderen.“ | |
| Meine Mutter packte nach dem Parteijubiläum die Handtücher ein und zog in | |
| die nächste große Stadt – mehr Anonymität schafft auch weniger | |
| Pflichtbewusstsein. Sie fing an, als Hobby bunte Monsterpuppen zu nähen, | |
| die die Zunge rausstrecken konnten. Das Aufgeben der Politik war für sie | |
| vielleicht auch das Aufgeben eines Selbstbildnisses. Und ich glaube, sie | |
| nahm sich selbst auch nicht mehr wichtig genug, um Politik zu machen. | |
| Meine Mutter und ich haben dann kaum mehr über Politik geredet, nur noch | |
| über mein Kind, ihren Enkel. Als der Schulz-Zug angerollt kam, rief meine | |
| Mutter aber mit aufgekratzter Stimme an: „Das könnte noch was werden!“ Es | |
| waren kurze Wochen der Euphorie. Als nach der erneuten Niederlage und dem | |
| Scheitern von Jamaika die SPD-Basis über eine neue Große Koalition | |
| abstimmte, hat meine Mutter nicht mehr mit abgestimmt. Könne man ja eh | |
| nichts machen, was soll’n sie denn tun? | |
| Die AWO-Schokoladentäfelchen bei dem Fraktionstreffen sind jetzt | |
| aufgegessen, mittlerweile wird diskutiert, wie die SPD noch zu retten sei. | |
| Die komplette Spitze austauschen? Am Tisch herrscht Uneinigkeit. Der | |
| Bürgermeister sagt: „Nä.“ Der jüngere Mann sagt: „Es täte jetzt schon | |
| langsam mal gut, wenn Kevin kommen würde.“ Die Sozialdemokratisierung der | |
| CDU müsse aufhören, finden alle. Neue Themen setzen, sagt der | |
| Bürgermeister, die gäbe es ja: Werksarbeit abschaffen. Fachkräfte stärken. | |
| Mindestlohn auf 12, 13 Euro anheben. | |
| ## Wer mitmacht, bleibt meist dabei | |
| 34 Mitglieder hat die SPD in Mutters früherem Ortsverein, nachdem er sich | |
| einmal aufgeteilt hatte. Ziemlich gleich ist die Mitgliederzahl hier in den | |
| vergangenen 20 Jahren geblieben. Zwei jüngere sind nach der Bundestagswahl | |
| dazugekommen. Und wer mal mitmacht, bleibt meist dabei. Das sei hier so. | |
| Das Nicht-Mitmachen sei vor allem dem Zeitmangel geschuldet. „Alle am | |
| Arbeiten, organisieren die Kinder weg, die Familienstruktur hat sich | |
| geändert, wann bleibt da noch Zeit?“, fragt der Bürgermeister. | |
| Meine Mutter steht auf und setzt sich zu ihrem Enkel, der am Nebentisch | |
| warten und spielen muss, wie ich früher. Als ich die Gruppe frage, ob sich | |
| die SPD denn nun auflöse, geht meine Mutter mit dem Kind raus, um im Flur | |
| laut Fußball zu spielen, als wolle sie deutlich machen, dass sie mit alldem | |
| nichts mehr zu tun hat. | |
| Als wir nach Hause fahren, frage ich, warum sie aufgestanden ist. „Ich | |
| dachte nur: Oh Gott, wie gut, dass ich das alles nicht mehr machen muss.“ | |
| Und, willst du austreten? „Nein, sicher nicht.“ Dann lacht sie und sagt, | |
| das erledige sich ja wohl von allein. Über 460.000 Mitglieder hat die | |
| Partei nur noch. Kann man die einfach so auflösen? Letztens habe sie | |
| geträumt, dass die SPD das Willy-Brandt-Haus verkauft, weil die Partei | |
| pleite sei, sagt meine Mutter. | |
| Warum willst du die Welt nicht mehr verbessern, Mutter? „Ich will mich | |
| nicht mehr verantwortlich fühlen.“ Ich sage was von Olaf [3][Scholz' Lügen | |
| nach dem G20-Gipfel], dem Ekel vor Karrieristen wie Tim Renner, dem | |
| verlachten Ex-Kulturstaatssekretär in Berlin, von unserer Ferne zu Andrea | |
| Nahles, die ihrer Tochter aus der Bibel vorliest. Da wird meine Mutter | |
| stiller. | |
| ## „Ich will mich für so was nicht mehr rechtfertigen müssen“ | |
| Als ich ihr erzähle, dass Sigmar Gabriel als Autor für einen Verlag bis zu | |
| 30.000 Euro im Monat verdient und vermutlich viel weniger schreibt als ich, | |
| sagt meine Mutter: „Sauerei“. Eine kurze Pause: „Ich will mich für so was | |
| nicht mehr rechtfertigen müssen“, sagt sie dann lauter und sticht mit dem | |
| Zeigefinger in die Luft. | |
| In unserer alten Heimat gibt es jetzt eine Kneipe, die „Alte Heimat“ heißt. | |
| Mit Pulled Pork Burger und Livemusik. Als wir vorbeifahren, meckert meine | |
| Mutter, dass die Spätaussiedler, die Russlanddeutschen, AfD wählen würden. | |
| Warum sie das machten, kann sie sich nicht erklären. „Die haben doch | |
| alles“, sagt meine Mutter. So was hätte sie früher nicht gesagt. | |
| Sind wir vielleicht doch immer konservativer gewesen, als wir von uns | |
| dachten? „Ich bin konservativer geworden“, sagt meine Mutter. „Egoistisch… | |
| auch. Aber wer guckt denn nicht erst vor seiner Haustür? Die Idealisten, | |
| aber werden die nicht belächelt?“ | |
| Meine Mutter ist jetzt im Seniorenbeirat in der Stadt, in der sie lebt. Sie | |
| setzt sich für Techniklotsen ein, die älteren Menschen bei der | |
| Digitalisierung helfen sollen. Und auch das Angebot von Seniorenportionen | |
| in Restaurants fände sie eine gute Idee, weil der Hunger kleiner wird, so | |
| wie man selbst. „Im Alter ist man nicht mehr so mutig. Früher war da ein | |
| Ziel, da war eine Empörung und die hat man herausgeschrien und hinterher | |
| geschaut, wie man mit den Prügeln umgeht.“ | |
| ## Ist die SPD CDUisiert worden? | |
| Manchmal geht meine Mutter noch zum Sommerfest des neuen Ortsvereins, da | |
| seien viele junge Leute, alle sehr vernünftig, die würden nicht so laute | |
| Forderungen stellen wie sie früher. „Aber die brauchen mich hier nicht, ich | |
| kenne mich mit Stadtthemen auch nicht aus. Ich habe an den Wahlkampfständen | |
| gestanden und mich unwohl gefühlt.“ | |
| Trotzdem glaubt meine Mutter daran, dass die sozialen Themen in der SPD | |
| immer noch am besten aufgehoben sind. Warum genau, kann sie nicht sagen. | |
| Sie wählt die Partei auch immer noch. „Die Unterschiede zwischen Arm und | |
| Reich, da könnten sie schon mehr Stellung beziehen.“ | |
| Vielleicht ist die SPD ja eher CDUisiert worden als andersrum? Und | |
| vielleicht wurde vergessen, dass Linkssein auch bedeutet, das | |
| Selbstverständnis den Umständen anzupassen? Oder war die SPD, waren wir nie | |
| so sozial, wie wir gedacht haben? Meine Mutter zuckt mit den Schultern. | |
| Am [4][Abend der Hessenwahl] wollte ich zur Wahlparty ins | |
| Willy-Brandt-Haus, Katastrophentourismus. Aber die machen nicht mal mehr | |
| Partys zu Landtagswahlen. | |
| ## Der vermaledeite Glaube an Solidarität | |
| Stattdessen stellte ich den Livestream der ARD an. Da erklärte die Frau von | |
| der SPD, es gebe eine „Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise“. Trotz aller | |
| Kompetenzzuschreibungen. Und dann sagt es noch eine SPD-Frau genauso. Und | |
| dann auch noch mal Thorsten Schäfer-Gümbel. Sein Team um ihn herum hat | |
| Tränen in den Augen. | |
| Die CDU hat zwar an diesem Abend fast gleich viel verloren, aber ihre | |
| Vertreter weinen nicht. Sie lächeln und nicken sich motivierend zu. Meine | |
| Mutter macht das wütend, diese Verlogenheit. | |
| Das ist der Unterschied zur CDU, dieser Rest Menschlichkeit der SPD. Und | |
| dieser Unterschied ist mit dem vermaledeiten Glauben verbunden, echte, | |
| fühlende Menschen müssten doch solidarisch sein. Dass sie es oft nicht | |
| sind, das ist der Grund, warum meine Mutter manchmal im Fernsehen ist und | |
| so erschrocken guckt. | |
| 6 Jan 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Gerhard-Schroeder/!t5014714 | |
| [2] https://www.abendzeitung-muenchen.de/gallery.elefantenrunde-hochwasser-co-z… | |
| [3] /Schwerpunkt-G20-in-Hamburg/!t5417647 | |
| [4] /Hessen-Wahl/!t5053241 | |
| ## AUTOREN | |
| Laura Ewert | |
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