| # taz.de -- Justizreform in Israel: Demokratie mit Lücken | |
| > Die Kampagne der israelischen Rechten gegen den Obersten Gerichtshof | |
| > begann lange vor der letzten Wahl. Ein Problem ist die fehlende | |
| > Verfassung. | |
| Bild: Neu ist die Kampagne der israelischen Rechten gegen den Obersten Gerichts… | |
| Israel erlebt derzeit eine tiefe konstitutionelle Krise. In ihrem Kern | |
| steht ein Autoritätskonflikt zwischen Parlament und Exekutive einerseits | |
| und dem sich als juristische Kontrollinstanz begreifenden Obersten | |
| Gerichtshof (OGH) andererseits. Seine Wurzeln liegen in der Gründerzeit des | |
| israelischen Staates. Dessen Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948 | |
| folgte der Vorgabe des UN-Teilungsplans für Palästina vom November 1947, | |
| die vorsah, dass die zu wählende „verfassungsgebende Versammlung“ des | |
| jüdischen Staates eine Verfassung verabschiedet. | |
| Das Gremium wurde wegen des noch andauernden arabisch-israelischen Kriegs | |
| erst Anfang 1949 gewählt und erklärte sich im Februar zum israelischen | |
| Parlament (Knesset). Zur Verabschiedung einer Verfassung kam es indes | |
| nicht, weil sich die Abgeordneten über ihren Charakter nicht einigen | |
| konnten – oder wollten. Nicht unähnlich zu heute war die damals | |
| tonangebende Regierungspartei – David Ben Gurions sozialistische | |
| „[1][Partei der Arbeiter Eretz Israels]“ (MAPAI) – nicht gewillt, ihre | |
| Vollmachten von grundlegenden Rechtsnormen einschränken zu lassen. | |
| Ben Gurions Haltung wurde von seinen religiösen Koalitionspartnern | |
| mitgetragen, für die als Verfassungsgrundlage nur das jüdische | |
| Religionsgesetz in Frage kam. Dagegen wehrten sich Säkulare von links wie | |
| rechts. Im Juni 1950 kam es schließlich zu einer Kompromisslösung, als die | |
| Knesset entschied, verfassungsähnliche Strukturen in Form von einzelnen | |
| Grundgesetzen zu schaffen. Bis heute wurden dreizehn solcher Gesetze | |
| verabschiedet. | |
| Das Fehlen einer Verfassung hatte weitreichende Folgen. Der junge | |
| israelische Staat übernahm große Teile des britisch-kolonialen | |
| Mandatsrechts, das teilweise auf osmanischem Recht gründete. Mit diesen | |
| übernommenen Gesetzeswerken war das Selbstverständnis des Staates Israel | |
| als Demokratie aber nur begrenzt vereinbar. Eine weitere Konfliktquelle | |
| stellte der doppelte Anspruch des Staates dar, demokratisch und zugleich | |
| exklusiv jüdisch zu sein. Diese Widersprüche sollte der Oberste Gerichtshof | |
| lösen. | |
| ## Den Staat zügeln | |
| Dieser wurde schon im Sommer 1948 vom provisorischen israelischen Staatsrat | |
| ins Leben gerufen; die anfängliche Zahl von fünf amtierenden Oberrichtern | |
| wurde mit den Jahren sukzessive erhöht, zuletzt 2009 [2][auf fünfzehn]. Die | |
| vom OGH ausgeübte Normenkontrolle sollte Gesetzesmissbrauch durch den Staat | |
| verhindern. Allerdings unterwarfen sich die Oberrichter bis in die | |
| sechziger Jahre weitgehend dem Primat der nationalen Sicherheit und | |
| stellten sich auch dann hinter die Regierung, wenn die sich nicht gerade | |
| demokratiekonform verhielt. | |
| So etwa bei der [3][sogenannten administrativen Haft] ohne Strafverfahren – | |
| ein Erbe des britischen Mandatsrechts, von dem vor allem Palästinenser bis | |
| heute betroffen sind. Weil sich die Oberrichter bei ihren Entscheidungen in | |
| Ermangelung einer Verfassung auf die Gleichheit postulierende israelische | |
| Unabhängigkeitserklärung wie auch auf die Rechtsprechung in westlichen | |
| Demokratien oder sogar auf die Bibel beriefen, kam es gelegentlich doch zu | |
| Konflikten mit dem Gesetzgeber. | |
| So beispielsweise, als der OGH 1969 ein Parteifinanzierungsgesetz für | |
| ungültig erklärte und die regierende Arbeitspartei auf der Vormacht des | |
| Parlaments bestand. Den Richtern warf sie Inkonsequenz vor mit dem | |
| Argument, dass sie die Regierung doch bei weit problematischeren Fällen wie | |
| Hauszerstörungen oder der Ausweisung palästinensischer Terroristen | |
| unterstützten. Die Ultraorthodoxen standen mit den meist säkularen | |
| Oberrichtern ohnehin laufend auf Kriegsfuß, besonders dann, wenn sie in die | |
| Rechtsprechung der religiösen Gerichte eingriffen. | |
| Die bislang bedeutendste Wende in Israels Rechtskultur vollzog sich zu | |
| Beginn der neunziger Jahre. Als es in der Zeit der großen Koalition von | |
| Arbeitspartei und Likud in den späten achtziger Jahren zum politischen | |
| Stillstand kam, formierte sich im Land eine Protestbewegung, die | |
| strukturelle Reformen forderte. Mit ihrer Initiative „Verfassung für | |
| Israel“ verfolgten damals mehrere Rechtsprofessoren das Ziel, einen | |
| umfangreichen Grundrechtskatalog zur Verabschiedung zu bringen. | |
| ## Lücken korrigieren | |
| Zwar scheiterten sie am Widerstand der Ultraorthodoxen, doch gelang es | |
| schließlich ihrem Mitstreiter [4][Amnon Rubinstein], Juraprofessor und | |
| Abgeordneter der liberalen „Shinui“-Partei, 1992 zwei neue Grundgesetze mit | |
| verfassungsähnlichem Charakter einzubringen: Sie wachen über die | |
| Berufsfreiheit und die „Würde und Freiheit des Menschen“. | |
| Damit lag ein konstitutioneller Referenzrahmen für Menschenrechte vor, auf | |
| den der OGH zurückgreifen konnte, was er auch energisch tat. Konservative | |
| israelische Juristen beklagten sich schon bald über dieses Vorgehen. Sie | |
| warfen den Oberrichtern „richterlichen Aktivismus“ vor, über dessen Nutzen | |
| und Nachteil in Israels juristischen Zeitschriften nun kontrovers | |
| diskutiert wurde. Zu den Befürwortern eines selbstbewussteren Auftretens | |
| des OGH gehörte auch der international angesehene und damals an der | |
| Hebräischen Universität in Jerusalem lehrende Rechtsprofessor [5][Aharon | |
| Barak]. | |
| 1993 vertrat er in einer wegweisenden Abhandlung die Ansicht, dass der OGH | |
| sich nicht mit der Rolle eines punktuellen Korrektivs des Gesetzgebers | |
| begnügen sollte. Weil es keine Verfassung gebe, sollten die Oberrichter die | |
| gesamte israelische Rechtsprechung Schritt für Schritt der Lebensrealität | |
| im Land anpassen und überall dort korrigierend eingreifen, wo die | |
| Gesetzgebung Lücken aufweise. | |
| Die Fachdebatten der Juristen wuchsen sich zu regelrechten Grabenkämpfen | |
| aus, als 1995 Aharon Barak zum Präsidenten des OGH gewählt wurde. [6][Moshe | |
| Landau], Amtsvorgänger und Zionist der alten Garde, warnte die Oberrichter | |
| schon damals davor, die neuen Grundgesetze dazu zu nutzen, die Rechte des | |
| Individuums über die Interessen der Allgemeinheit zu stellen und so den | |
| Egoismus in der israelischen Gesellschaft zu stärken. Ungeachtet solcher | |
| Bedenken wuchs die Bedeutung des OGH kontinuierlich. | |
| ## Verrat an den eigenen Prinzipien | |
| In dieser in Israel als „konstitutionelle Revolution“ bezeichneten | |
| Entwicklung sehen liberale Kreise bis heute die angemessene Umsetzung eines | |
| aus ihrer Sicht spezifisch jüdischen Gerechtigkeitsempfindens. Der OGH war | |
| aber schon unter seinem Präsidenten Barak, dessen Amtszeit bis 2006 | |
| dauerte, von unterschiedlichsten Seiten heftiger Kritik ausgesetzt. So | |
| warfen Menschenrechtler und Besatzungsgegner dem Gericht Verrat an den | |
| eigenen Prinzipien vor, weil es willkürliche Internierungen und auch Folter | |
| von Palästinensern wiederholt abgesegnet hatte. | |
| Für die [7][ultranationalistischen Siedler] und auch die | |
| [8][Ultraorthodoxen] verkörpert der OGH bis heute eine „Rechtsdiktatur“ – | |
| und nicht nur für sie. Denn bereits 2003 geißelte der prominente | |
| Likud-Politiker Reuven Rivlin – damals Knessetvorsitzender, von 2014 bis | |
| 2021 Staatspräsident – den Obersten Gerichtshof als „Gefahr für die | |
| israelische Demokratie“ und Aharon Baraks Reformbemühungen als | |
| „Staatsstreich“. Diese Schmährhetorik verbreitete sich rasch in den Reihen | |
| des Likud, wo es nicht nur bei Worten blieb. | |
| Gideon Saar, der Benjamin Netanjahu nach dessen Amtsantritt 2009 lange treu | |
| begleitete, hatte schon unter Netanjahus Amtsvorgänger Ehud Olmert mit | |
| einer Gesetzesänderung dafür gesorgt, dass in der Wahlkommission für | |
| Richter der Einfluss von Politikern wuchs. Als Innenminister unter | |
| Netanjahu attackierte Saar dann 2014 den OGH, nachdem dieser seinen | |
| umstrittenen Gesetzentwurf annulliert hatte: Der sah vor, illegale | |
| Migranten („Infiltranten“) ohne Gerichtsverfahren ein Jahr lang einsperren | |
| zu können. | |
| Saar forderte daraufhin, die Macht der Oberrichter einzuschränken, ein | |
| Ziel, das er auch weiterhin verfolgte, nachdem er 2020 den Likud im Streit | |
| verlassen und seine eigene Partei gegründet hatte. Unter Likud-Politikern | |
| stand Gideon Saar mit seinem Feldzug gegen den OGH nicht allein. Der | |
| jetzige Justizminister Yariv Levin hatte schon 2011 behauptet, eine | |
| radikale linke Gruppe habe den OGH „usurpiert“. | |
| ## Um Jahrzehnte zurück | |
| Als 2020 Levins Klage gegen die Annullierung eines Gesetzes, mit dem die | |
| Regierung Netanjahu/Gantz die Verabschiedung des Haushaltes verschieben | |
| wollte, von den Oberrichtern abgewiesen wurde, bezichtigte er sie des | |
| „Umsturzes“. Um die Vollmachten des OGH einzuschränken, legte Levin bereits | |
| 2021 einen Gesetzesvorschlag vor, der die Grundlage für seine jüngsten | |
| Reformvorschläge bildet – sie sollen nun mit denen des Rechtsextremisten | |
| Simcha Rothman verknüpft werden, der ebenfalls schon länger ähnliche Ziele | |
| verfolgt. | |
| Neu ist die Kampagne der israelischen Rechten gegen den OGH also | |
| keineswegs. Und nur wer sie aus welchen Gründen auch immer ignorierte oder | |
| unterschätzte, zeigt sich jetzt überrascht. Sollte auch Yariv Levins | |
| Vorschlag umgesetzt werden, der die Knesset ermächtigen würde, | |
| Grundgesetze, die mit einer Mehrheit von weniger als 61 Stimmen (von 120) | |
| verabschiedet wurden, zu annullieren, wäre auch das Grundgesetz „Würde und | |
| Freiheit des Menschen“ in Gefahr. | |
| Denn es wurde 1992 in einer langen nächtlichen Plenarsitzung wegen der | |
| Abwesenheit vieler Parlamentsmitglieder mit einer Mehrheit von nur 32 zu 21 | |
| Stimmen angenommen. Seine Annullierung würde eine der wichtigsten | |
| Errungenschaften der israelischen Rechtskultur zunichte machen und das | |
| Rechtssystem des Landes um Jahrzehnte zurückwerfen. | |
| 25 Mar 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://en.idi.org.il/israeli-elections-and-parties/parties/mapai/ | |
| [2] https://supreme.court.gov.il/sites/en/Pages/Justices.aspx | |
| [3] https://www.medico.de/blog/gleiches-unrecht-fuer-alle-16596 | |
| [4] https://www.runi.ac.il/en/faculty/amnon_r | |
| [5] https://www.timesofisrael.com/ex-top-judge-barak-put-me-before-a-firing-squ… | |
| [6] https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/eichmann-prozess-in-vorbereitung… | |
| [7] /Provokation-auf-dem-Tempelberg/!5903687 | |
| [8] /Streit-um-Israels-Minister-Arie-Deri/!5906710 | |
| ## AUTOREN | |
| Joseph Croitoru | |
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