Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Umbau von Israels Justiz: Tyrannei der Mehrheit
> Demokratie ist Teil von Israels Sicherheit. Deutschland ist aufgerufen,
> Angriffe auf Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Bürgerrechte zu
> kontern.
Bild: „Ihr habt hier nichts mehr zu suchen“: Proteste gegen die Regierung N…
Benjamin Netanjahus zwei Monate alte Regierung – eine Koalition aus
extremen nationalistischen und ultraorthodoxen Kräften – ist das erste
durchgängig rechte Kabinett unseres Landes. Es könnte auch dessen letzte
demokratische Regierung sein. Ihre Mitglieder sind entschlossen, nicht nur
Gesetze und Politik zu verändern, sondern auch das Wesen Israels als Staat.
Keine liberale Demokratie mehr, stattdessen wird geschickt ein
nationalistisch-religiöses, autoritäres Regime etabliert.
Netanjahu war einmal ein lautstarker Unterstützer des Obersten Gerichts und
stolz auf das internationale Ansehen der Unabhängigkeit israelischer
Rechtsprechung – doch nur so lange, bis er sich wegen Korruption vor
Gericht verantworten musste. Seit zwei Jahren arbeitet er faktisch auf
einen Staatsstreich hin, inspiriert von Viktor Orbáns feindlicher Übernahme
der ungarischen Demokratie. Ein Netzwerk aus Pseudo-Journalisten und
Chaos-Agenten in den sozialen Netzwerken sorgt dafür, dass Netanjahus
Unterstützer mit Lügen gefüttert werden. Sie sollen die bestehende Justiz
als Volksfeind betrachten. „Zion wird durch Recht erlöst“ (Jesaja 1:27) ist
die offizielle Bezeichnung ihres geplanten Regelbruchs – Orwell hätte
seinen Spaß daran. Nichts weniger als das jüdische Erbe wird damit
missbraucht und untergraben.
Mehrere wichtige Minister haben bereits ihre Absicht kundgetan, das
öffentliche Leben Israels umzugestalten, indem sie Persönlichkeitsrechte
einschränken, vor allem die arabischer Bürger, Frauen und LGBTQ. Das
Streikrecht soll beschnitten werden. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und
die Pressefreiheit sind bedroht. Im Schulunterricht sollen die Werte
Gleichheit und Schutz von Minderheiten nicht länger vermittelt werden.
Einige der „Reformen“, wie die Regierung sie bezeichnet, liegen der Knesset
bereits als Gesetzentwürfe vor. Klar ist, dass sie unter den bisherigen
Regeln nicht in Kraft treten dürften, denn das Oberste Gericht würde sie
mit Verweis auf bestehende Gesetze und die Tradition von 75 Jahren
Rechtsprechung sicher für ungültig erklären. Aus diesem Grund zielt gleich
die erste Initiative des Kabinetts darauf, die Unabhängigkeit der Justiz
und Möglichkeiten abzuschaffen, Gesetze und Entscheidungen der Regierung zu
überprüfen.
Im politischen Lexikon Netanjahus und seiner Partner ist jeder Gegner der
sogenannten Reform – ja jeder liberale Israeli mit Bürgersinn, egal ob
links, Mitte oder rechts – ein Verräter. Unpatriotisch. Dem jüdischen Staat
gegenüber untreu. „Geht doch nach Berlin“, höhnen sie in den sozialen
Netzwerken und in der Knesset. „Ihr habt hier nichts mehr zu suchen“, sagen
sie den [1][Tausenden Demonstrierenden, die ihr ganzes Leben mit
Überzeugung für dieses Land gearbeitet und gekämpft haben.] Unser neuer
„Propagandaminister“ erzählt der Welt, dass unser Bürgerprotest „aus
Deutschland und dem Iran finanziert“ werde. So entsteht in ihrer ignoranten
und verwirrten Einbildung eine neue Achse des Bösen.
Diese rasche und unheilvolle Entwicklung ist nur teilweise mit den
antidemokratischen Erdrutschen in Polen oder Ungarn vergleichbar, denn die
Konsequenzen für Israel werden sehr viel verheerender sein. Zum einen, weil
Israel keine geschriebene Verfassung hat und das Oberste Gericht, der
Generalstaatsanwalt und die Rechtsabteilungen der Knesset wie der
Ministerien die einzigen Kontrollmechanismen darstellen, wobei die
Rechtsabteilungen nun zu politischen Ausführungsorganen werden sollen.
Sollten diese Instanzen und ihre Rechtsprechung ausgeschaltet werden,
öffnete sich damit die Tür zu einer Tyrannei der Mehrheit.
Zweitens wird Israels [2][Gesellschaft von zahlreichen Bruchlinien
durchzogen]: zwischen rechts und links, Juden und Arabern, Orthodoxen und
Säkularen, Juden und Jüdinnen mit orientalischen Wurzeln und denen, deren
Vorfahren aus Europa einwanderten. Schon häufen sich die gesellschaftlichen
Konflikte – bald wird es keinen Mechanismus mehr geben, um Kompromisse zu
finden und den Hass in Schach zu halten.
Drittens gibt es den langen und blutigen Konflikt mit den Palästinensern
und Palästinenserinnen, von denen viele unter Besatzung leben. Die Gewalt
eskaliert. Netanjahus Regierung plant, die jüdische Besiedlung im
Westjordanland auszuweiten und palästinensische Gebiete zu annektieren.
Aber vorher versucht die Regierung, das Leben der Palästinenser
zusätzlich zu erschweren, mit unverhältnismäßigen Maßnahmen und
Kollektivstrafen. Eine neue Komponente ist das schamlose Niederbügeln
zivilgesellschaftlicher Kritik. Eine israelische Armee oder Polizei ohne
Kontrollinstanz bereitet aber den Weg zu schrecklicher Gewalt, was nicht
nur Israel und Palästina beträfe, sondern einen großen Teil der islamischen
Welt.
Anders als Ungarn, Polen und die Türkei [3][ist Israel ein Land mit einer
lebendigen, aktiven und lautstarken Zivilgesellschaft]. In Israel weiß man
genau, in welchen anderen Ländern die Demokratie zerbrach – und aus welchen
Gründen. Die riesigen Demonstrationen dieser Tage zeigen unsere
gesellschaftliche Stärke, ebenso wie das breite Spektrum von Berufs- und
Unternehmensverbänden, akademischen und philanthropischen Organisationen,
die sich öffentlich und lautstark gegen die Pläne der Regierung gestellt
haben. Wir müssen über zivilen Widerstand nachdenken, gewaltlos, aber
bereit, im Kampf gegen diese mehr und mehr illegale Regierung auch Gesetze
zu brechen.
Wie, fragen wir uns, stellt sich die Bundesrepublik dazu? Seit Jahrzehnten
erklären sich deutsche Politiker für Israels Sicherheit verantwortlich,
Angela Merkel nannte dies sogar Teil der Staatsraison. Demokratie ist ein
fundamentaler Bestandteil der Sicherheit Israels. Wir rufen Israels Freunde
überall, aber besonders in Deutschland auf, uns zu helfen, Israels
Demokratie zu schützen und sich gegen die Blitzattacke der Regierung auf
den Rechtsstaat, auf Gewaltenteilung, bürgerliche Freiheiten und
Menschenrechte auszusprechen.
2 Mar 2023
## LINKS
[1] /Soziologe-ueber-Israels-neue-Regierung/!5915492
[2] /Proteste-gegen-Justizreform-in-Israel/!5908944
[3] /Gewalteskalation-in-Israel/!5915753
## AUTOREN
Fania Oz-Salzberger
Eli Salzberger
## TAGS
Siedlungen
Benjamin Netanjahu
Israel
Gewaltenteilung
Ungarn
Polen
Zivilgesellschaft
Demokratie
Israel
Siedlungen
Lesestück Recherche und Reportage
Westjordanland
Siedlungen
Israel
Justizreform
## ARTIKEL ZUM THEMA
Justizreform in Israel: Demokratie mit Lücken
Die Kampagne der israelischen Rechten gegen den Obersten Gerichtshof begann
lange vor der letzten Wahl. Ein Problem ist die fehlende Verfassung.
Netanjahus Besuch in Berlin: Wem gehört die Solidarität?
Israels Protestbewegung gebührt Bewunderung. Sie setzt ein Zeichen für
demokratische Werte in einem illiberalen Zeitalter.
Zuspitzung im Nahost-Konflikt: Am Kipppunkt
Es brennt in den besetzten Gebieten. Ein Besuch in der jüdischen Siedlung
Yitzhar und dem Dorf Huwara, in dem es gerade heftige Ausschreitungen gab.
Justizreform in Israel: Verletzte bei Protesten in Tel Aviv
Israels Parlament hat am Mittwoch über die Todesstrafe und andere Teile
einer Justizreform beraten. Bei Protesten kam es zu Gewalt.
Gewalteskalation in Israel: Solidarität mit der Opposition
Einen Ausweg sehen viele in Israels Opposition nicht. Doch jenseits
absurder Boykottfantasien muss sie internationale Unterstützung erhalten.
Soziologe über Israels neue Regierung: „Tel Aviv war eine Illusion“
In Israel geht es gerade nicht um einen Regierungswechsel, sondern um einen
Regimewechsel, sagt der Soziologe Sznaider. Ein Gespräch über die Lage.
Geplante Justizreform: Die Regierung spaltet Israel
Während in der Knesset über die Justizreform abgestimmt wird, gehen
Hunderttausende dagegen auf die Straße. Kritik kommt inzwischen auch von
rechts.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.