# taz.de -- Streit über Justizreform in Israel: Demokratie als Handelsware | |
> Wirtschaftsliberalismus ist im Niedergang begriffen. In der Staatskrise | |
> in Israel kämpft allerdings eine wehrhafte Ökonomie für den Rechtsstaat. | |
Bild: Proteste gegen die Justizreform am 27. März in Jerusalem | |
In einem Essay in der Zeit stellte Albrecht Koschorke kürzlich fest: Die | |
Tage des Westens sind gezählt. [1][Auch wenn Russland seinen brutalen | |
Angriffskrieg in der Ukraine aufgrund der Hilfe des Westens nicht gewinnt.] | |
Der politische Liberalismus befindet sich im Untergang. Jener Liberalismus, | |
der versprach, Fortschritt, Demokratie und Marktwirtschaft zu verbinden. | |
Die letzte Version dieses Glaubens sei die Formel „Wandel durch Handel“ | |
gewesen. Jene Vorstellung habe Russland ja unmissverständlich widerlegt. | |
Ganz woanders – in Israel – zeigt sich nun, dass dies nicht die letzte | |
Version war. Die Lage ist kompliziert. [2][Das erste, gänzlich | |
rechtsgerichtete Kabinett in der Geschichte des Landes unter Führung des | |
unter Korruptionsverdachts stehenden Benjamin Netanjahu spielt das gesamte | |
Repertoire des politischen Antiliberalismus durch]: Ein groß angelegter | |
Angriff auf Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Bürgerrechte. Im | |
Zentrum steht ein Umbau des Rechtswesen, der darauf zielt, juristische | |
Unabhängigkeit einzuschränken. | |
Das betrifft zum einen die Bestellung der Höchstrichter, die nunmehr unter | |
Regierungskontrolle stehen soll. Zum anderen ermöglicht es dem Parlament, | |
Entscheidungen des Obersten Gerichts zu widerrufen – also de facto Gesetze | |
zu beschließen, die als verfassungswidrig abgelehnt wurden. Damit wird das | |
Oberste Gericht als Kontrollinstanz und wichtigster Gegenspieler der | |
Regierung ausgehebelt. | |
## Druck von der Straße wächst | |
Dagegen erhebt sich seit Wochen massenhafter und eindrucksvoller Protest. | |
[3][Die Zivilgesellschaft hat auf der Straße den Druck auf die Regierung | |
erhöht.] Neben anhaltenden Protesten der israelischen Bevölkerung tritt | |
aber noch etwas anderes zutage: leiser, aber nicht weniger wirkmächtig. | |
Es ist das, was die israelische Zeitung Ha’aretz die „Achillesferse“ der | |
amtierenden Regierung genannt hat: die Wirtschaft. Zahlreiche namhafte | |
Ökonomen warnen in einem offenen Brief vor den Folgen dieser autoritären | |
Politik für die israelische Wirtschaft. Der Staatsumbau schade dem Ansehen | |
des Landes und schrecke Investoren ab. Es gebe internationale | |
Befürchtungen. Eine Herabstufung des Kreditrankings drohe. Auch die Währung | |
sei betroffen. | |
Vor allem die wichtige Hightechbranche spürt die Folgen des Imageschadens. | |
Geldgeber drohen sich abzuwenden. Erste Unternehmen haben ihre | |
Investitionen abgezogen – unter explizitem Hinweis auf den Justizumbau. | |
Andere folgen. Die USA warnen vor einer Politik, die nicht im Einklang mit | |
ihren Interessen und Werten stehe. Das ist die entscheidende Verquickung: | |
die Durchdringung von Interessen und Werten. Genau dies wird an den | |
Stellungnahmen seitens der Ökonomie deutlich. | |
## Wirtschaft als politischer Akteur | |
Die Wirtschaft wird hier zu einem wirkmächtigen politischen Akteur. Nicht | |
in dem alten Sinne, dass sie im Stillen sogenannte Lobbyarbeit betreibt – | |
also Druck auf die Politik ausübt, um ihre Interessen durchzusetzen. Nein, | |
die Ökonomie wird in Israel zum politischen Akteur, indem sie gewissermaßen | |
als „Hüterin“ der Demokratie auftritt. | |
Das gegenwärtige Konfusionsspiel der politischen Kategorien – wie etwa | |
jenes zwischen links und rechts – wird hier auf die Spitze getrieben: | |
Wirtschaft setzt sich für demokratische „Werte“ ein, um ihre ökonomischen | |
Interessen zu schützen. Ist das nun gut oder schlecht? Fortschritt oder | |
nicht? | |
Der Aberwitz, der dem innewohnt, liegt an der entscheidenden Wende: Die | |
Wirtschaft agiert so, weil sie den Ansehensverlust fürchtet. Weil sie den | |
Vertrauensverlust fürchtet. Demokratische Verhältnisse sind also Garant für | |
Ansehen und Vertrauen. Was aber bedeutet das für die Demokratie? Dabei geht | |
es nicht mehr um Volksherrschaft oder um eine gerechte Gesellschaft. Es | |
geht um Demokratie als Reputation, als Ansehen. | |
Demokratie ist zu einem Markenzeichen geworden. Zu einem Image. Letztlich | |
also zu einer Ware. Das ist die allerletzte Version des alten liberalen | |
Versprechens. Nicht mehr „Wandel durch Handel“. Auch nicht „Demokratie | |
durch Handel“. Sondern „Demokratie als Handel“. So ist es also kein Zufal… | |
dass der gemeinsame Generalstreik von Gewerkschaften und | |
Wirtschaftsvertretern Netanjahu nun wohl doch zum Einlenken bringen wird. | |
28 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Schwachstellen-von-Demokratien/!5921940 | |
[2] /Streit-ueber-Justizreform-in-Israel/!5924310 | |
[3] /Soziologe-ueber-Israels-neue-Regierung/!5915492 | |
## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
## TAGS | |
Israel | |
Justizreform | |
Wirtschaft | |
Knapp überm Boulevard | |
Knapp überm Boulevard | |
Israel | |
Jair Lapid | |
Jerusalem | |
Israel | |
Israel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Polarisierung der gesellschaftlichen Mitte: Nur die Spur von Objektivität | |
Nicht die Krise spaltet eine Gesellschaft, sondern der Umgang mit ihr. Wo | |
erstes Misstrauen gegen Maßnahmen der Politik auftaucht, setzt der Bruch | |
an. | |
Netanjahus Verzögerung der Justizreform: Machtvolle Zivilgesellschaft | |
Nach Massenprotesten hat Israels Ministerpräsident Netanjahu seine geplante | |
Justizreform verschoben. Das zeigt, dass die Demokratie noch funktioniert. | |
Regierungskrise in Israel: Justizreform um Monate verschoben | |
Ministerpräsident Netanjahu legt seine Reformpläne auf Eis – vorerst. Er | |
wolle Zeit für eine Kompromisslösung geben. Die Proteste halten dennoch an. | |
Streit über Justizreform in Israel: Auf den Straßen und im Kabinett | |
Netanjahu entlässt Verteidigungsminister Galant, der die Justizreform | |
stoppen wollte. Zehntausende Menschen demonstrieren in der Nacht zu Montag | |
in Tel Aviv. | |
Justizreform in Israel: Demokratie mit Lücken | |
Die Kampagne der israelischen Rechten gegen den Obersten Gerichtshof begann | |
lange vor der letzten Wahl. Ein Problem ist die fehlende Verfassung. | |
Soziologe über Israels neue Regierung: „Tel Aviv war eine Illusion“ | |
In Israel geht es gerade nicht um einen Regierungswechsel, sondern um einen | |
Regimewechsel, sagt der Soziologe Sznaider. Ein Gespräch über die Lage. |