# taz.de -- Politische Krise in Israel: Dramatische Stunden | |
> So viele Menschen wie nie ziehen gegen die Justizreform auf die Straße. | |
> Gleichzeitig steht Israels rechts-religiöse Regierung am Abgrund. Und | |
> nun? | |
Bild: Kein Schritt zurück: Die Polizei geht am Montag mit Wasserwerfern gegen … | |
TEL AVIV taz | Israel ist in Aufruhr und steht gleichzeitig still. Der | |
Streit über die geplante Justizreform, mit der laut Kritiker*innen | |
Israels Demokratie in eine Diktatur verwandelt werden soll, hat am Montag | |
seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Das Land hat dramatische Stunden | |
hinter sich und wohl auch vor sich: Spontane nächtliche Massenproteste, | |
Generalstreik, Sorgen vor Zusammenstößen zwischen Befürworter*innen | |
und Gegner*innen der Reform. | |
Wie es weitergeht, weiß derzeit keiner. „Chaos“, sagt der Besitzer eines | |
Cafés in Tel Aviv und zuckt halb amüsiert, halb verzweifelt mit den | |
Schultern: „Chaos. Bis es knallt.“ Andere, die Montagmittag in Tel Aviv mit | |
Fahnen in der Hand zur Demonstration gegen die Justizreform ziehen, sind | |
euphorischer: „Wir schreiben Geschichte! So etwas habe ich noch nicht | |
erlebt.“ | |
Zunächst hieß es, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wolle am | |
Montagvormittag verkünden, die heftig umstrittene Justizreform vorerst auf | |
Eis zu legen. Doch dazu kam es erst am Abend: Netanjahus Koalitionspartner | |
von der rechtsextremen Partei Jüdische Stärke teilten mit, die Debatte über | |
die kontroverse Justizreform auf den kommenden Monat zu verschieben. Zuvor | |
hatte der Regierungschef in der Knesset für den Zusammenhalt seiner | |
Koalition gekämpft, während es vor dem Parlamentsgebäude tobte. | |
## „Ein historischer Streik“ | |
Ausgebrochen waren die spontanen und bislang größten Proteste in der | |
Geschichte des Landes in der Nacht zu Montag wegen eines taktischen Fehlers | |
Netanjahus – so sieht es Gayil Talshir, Politikwissenschaftlerin an der | |
Hebräischen Universität in Jerusalem. | |
Am Sonntagabend feuerte Ministerpräsident [1][Benjamin Netanjahu | |
Verteidigungsminister Yoav Gallant], weil dieser am Vorabend in einer | |
öffentlichen Ansprache seine eigene Regierung dazu aufrief, die umstrittene | |
Justizreform nicht ohne Dialog mit den Gegner*innen durchzupeitschen. | |
Gallant begründete seinen Aufruf mit Sicherheitsrisiken: Er warnte davor, | |
dass feindlich gesinnte Länder die innenpolitische Krise ausnützen könnten, | |
um Israel anzugreifen. Seitdem ist das Land im Ausnahmezustand. | |
„Am Sonntagmittag hatten wir noch keine Ahnung, dass ein solcher Aufstand | |
kommen würde“, sagt die Politikwissenschaftlerin. Ein weiterer Fehler in | |
ihren Augen: Gallant wurde davon abgehalten, seine Sicherheitsanalyse dem | |
Kabinett vorzustellen. „Dass Netanjahu sein eigenes Interesse, Israel in | |
ein autoritäres Regime zu verwandeln, sogar vor Sicherheitserwägungen | |
stellt, hat viele Leute auf die Straße gebracht, die bislang nicht | |
protestiert hatten.“ | |
[2][Hunderttausende strömten aus Protest gegen den Rausschmiss Gallants | |
spontan auf die Straßen]. In Jerusalem durchbrachen Hunderte Polizeisperren | |
und liefen auf Netanjahus Regierungssitz zu. Bis zum frühen Morgen | |
blockierten in Tel Aviv Zehntausende die Fahrspuren der Stadtautobahn, | |
entfachten Lagerfeuer und schwenkten israelische Fahnen. „Demokratie“ | |
schallte es aus allen Richtungen. Erst gegen vier Uhr nachts löste die | |
Polizei mit Wasserwerfern die Blockaden auf. | |
Am Montagvormittag folgte das nächste dramatische Ereignis: | |
Gewerkschaftsführer Arnon Bar David kündigte einen Generalstreik an. Es sei | |
an der Zeit, den Wahnsinn zu stoppen. „Dies ist ein historischer Streik, in | |
dem Arbeitnehmer*innen- und Arbeitgeber*innen gemeinsam die Justizreform | |
stoppen werden.“ | |
Der Gewerkschaftsdachverband Histadrut mit seinen rund 800.000 Mitgliedern | |
hatte bislang nicht zu den Protesten gegen die Justizreform aufgerufen. Das | |
dürfte daran liegen, dass viele der Histadrut-Funktionäre eng mit | |
Netanjahus Partei Likud verbunden sind. Die Organisation wollte zunächst | |
wohl auch eine Vereinbarung mit Finanzminister Bezalel Smotrich nicht aufs | |
Spiel setzen. | |
Teil dieser Vereinbarung sei auch gewesen, dass sie sich nicht an dem | |
Protest gegen die Justizreform beteiligen, so Politikwissenschaftlerin | |
Talshir. Dass sich die Gewerkschaften in diese politischen | |
Auseinandersetzungen jenseits von Arbeitskämpfen einmischen, ist | |
ungewöhnlich. In der Vergangenheit haben Streiks der Histadrut | |
tiefgreifende Auswirkungen auf das Land und seine Wirtschaft gehabt. | |
Kurz nach Bar Davids Aufruf blieben die Flugzeuge am Flughafen Ben Gurion | |
auf dem Boden. Krankenpfleger*innen, Anwält*innen, Lehrer*innen traten | |
in den Streik ein. Einkaufszentren schlossen. Splitscreens im Fernsehen | |
zeigen Hunderttausende von Demonstrant*innen in Beer Sheva, Tel Aviv | |
und Jerusalem. | |
Außerdem wies die Histadrut alle Staatsbediensteten an, in den Streik zu | |
treten, auch in allen diplomatischen Vertretungen Israels in aller Welt. | |
Gleichzeitig rief auch die Gegenseite zu Demonstrationen auf. | |
Simcha Rothman, Vorsitzender des Ausschusses für Verfassung, Recht und | |
Justiz der Knesset und eine der treibenden Kräfte hinter der Justizreform, | |
forderte die Unterstützer*innen zu Gegenprotesten auf. „Sie werden | |
unsere Wahlen nicht stehlen!“, twitterte Rothman. Auch Yair Netanyahu, der | |
Sohn des Premierministers, rief Unterstützer*innen der Reform dazu | |
auf, sich dieser Demonstration anzuschließen. Die rechtsextreme und | |
gewaltbereite Gruppe La Familia kündigte für Montagabend ebenfalls eine | |
Demonstration vor der Knesset an. Die Polizei bereitet sich auf gewaltsame | |
Zusammenstöße vor. | |
## Neuwahlen zeichneten sich vorerst nicht ab | |
Itamar Ben-Gvir, Vorsitzender der rechtsextremen Partei Jüdische Kraft, | |
kündigte an, im Fall des Aussetzens der Reform zurückzutreten. Er würde die | |
Koalition weiterhin von außen unterstützen. | |
Die ultraorthodoxe Partei Schas sprach sich für einen Stopp der Reform aus, | |
die Partei United Torah Judaism sagte dem Ministerpräsidenten ihre | |
Unterstützung zu, welche Entscheidung er auch immer treffe. | |
Immer öfter fiel auf den Straßen das Wort „Neuwahlen“. Doch diese | |
zeichneten sich zunächst nicht ab. Die Koalitionsparteien dürften weiter an | |
ihrer Regierungsmacht festhalten wollen – auch sie kennen die jüngsten | |
Umfragen, denen zufolge sie massiv an Sitzen verlieren würden. | |
Unklar war zunächst, wie es am Montagabend weitergehen würde. Als | |
wahrscheinlich galt, dass das Gesetzesvorhaben nach den kommenden | |
Feiertagen erneut aufgegriffen wird. Als ebenso denkbar galt, dass | |
Politiker der Mitte wie Benny Gantz in die Regierung eintreten, um die | |
rechtsextremen Parteien zu ersetzen. | |
27 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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