| # taz.de -- Jazzlegende Charles Mingus im Konzert: War der liebe Gott ein Booge… | |
| > Ein Boxset mit Konzertaufnahmen aus Bremen zeigt die Finesse des | |
| > US-Jazzbassisten Charles Mingus. Und, dass Heiliger Zorn Berge versetzen | |
| > kann. | |
| Bild: Mingus bei einem Konzert in Kopenhagen, 1970 | |
| Ein wildes Intro vom Kontrabass, dann eine krumme Fanfare der | |
| Bläsersektion, zweimal wiederholt und von Klavier und Drums gestützt, bis | |
| sich das zickige Bebop-Motiv eingeprägt hat. Jetzt startet die Trompete | |
| einen Soloausflug, erst mit geschmeidigem Swing, danach immer freier und | |
| ungebärdiger. Sittsamer Beifall im Auditorium. Der Pianist ist dran, spielt | |
| sich zum Warmwerden durch einige Zitate alter Meister, um anschließend wie | |
| ein Berserker Blockakkorde aufeinander zu türmen. | |
| Kurz bevor alles einstürzt, lässt er dem [1][Tenorsaxofon] den Vortritt, | |
| das den Erzählfluss in waghalsigen Kurvenfahrten zurück in den | |
| Blues-Parcours zwingt. Jedes Solo wird nach einigen Schrecksekunden höflich | |
| beklatscht. Doch selbst die Ensemble-Passagen arbeiten mit Texturen, die | |
| alles, was man zuvor unter Jazz verstand, aufs Äußerste strapazieren. Da | |
| kommt die Rückkehr zum merkwürdigen Fanfaren-Thema fast einer Erlösung | |
| gleich und mündet nach 26 Minuten in einen lebhaften Schlussapplaus. | |
| Es ist der 16. April 1964, und der berühmt-berüchtigte US-Bandleader, | |
| Bassist und Jazz-Erneuerer Charles Mingus gastiert mit einem prominent | |
| besetzten Sextett gerade zum ersten Mal in Westdeutschland: Sie spielen vor | |
| 220 Zuschauer:innen im Sendesaal Studio F von Radio Bremen. „Hope So | |
| Eric“ heißt das Auftaktstück dieses Konzerts, das im weiteren Verlauf noch | |
| zweieinhalb Stunden dauern sollte und in vieler Hinsicht überwältigend | |
| gewesen sein muss. Selbst als Anything-Goes-Verfechter:in wird man gehörig | |
| durchgeschüttelt, wenn man sich die nun veröffentlichten Aufnahmen zu | |
| Gemüte führt. | |
| ## Aktenkundige Verstörungen | |
| Nicht wenige Auftritte von Mingus’ damaliger Band mit [2][Eric Dolphy], | |
| Johnny Coles, Clifford Jordan, Jaki Byard und Dannie Richmond sind auf | |
| regulären Alben und Bootlegs dokumentiert, und speziell von jener | |
| Europatournee 1964 wurden auch etliche Verstörungen außermusikalischer Art | |
| aktenkundig. Was man auf den Bremer Mitschnitten nicht hört, sind die | |
| verbalen Ausraster des Leaders – mal an die Adresse seiner Musikerkollegen, | |
| die das schon kannten, mal in Richtung Publikum, das sich (stellvertretend | |
| für die „alten Kameraden“, die hier eher nicht zugegen waren) als „Nazis… | |
| beschimpfen lassen musste. | |
| So also gestaltete sich die leibhaftige Begegnung mit dieser musikalisch | |
| wie charakterlich komplexen Reizfigur Charles Mingus, auf die man im | |
| Westdeutschland der 1960er Jahre nur ungenügend vorbereitet war und die | |
| sogar die wenigen Insider auf eine harte Probe stellte: Der damalige | |
| Radio-Bremen-Redakteur Siegfried Schmidt-Joos – er hatte als großer Fan das | |
| Konzert eingefädelt und dem Bandleader vorab das Blaue vom Himmel | |
| versprochen – riet Mingus anderntags im Weser-Kurier, sich den europäischen | |
| Gepflogenheiten besser anzupassen, wenn er wiederkommen wolle. | |
| Was hatte Mingus’ Psychiater Edmund Pollock ein Jahr zuvor in den Liner | |
| Notes für dessen Album „The Black Saint and the Sinner Lady“ | |
| prognostiziert? „Es muss betont werden, dass Mr Mingus bisher keine | |
| vollständige Persönlichkeit ist. Er ist immer noch in einem Prozess der | |
| Veränderung und der persönlichen Entwicklung. Bleibt zu hoffen, dass seine | |
| Integration in die Gesellschaft damit Schritt hält. Man darf weitere | |
| Überraschungen von ihm erwarten.“ | |
| ## Gift, Galle und fantastische Musik | |
| Wie aber konnte es sein, dass da trotz Gift und Galle eine so fantastische | |
| Musik über die Rampe kam? Nun, genau solche Antagonismen haben Mingus stets | |
| zusätzlich stimuliert. Zudem hatte er die besten Sidemen seiner Zeit dabei, | |
| allen voran den Multiinstrumentalisten Eric Dolphy, den Prinzen der | |
| damaligen US-Jazzszene und mit 36 Jahren noch immer eine Verheißung. 1961 | |
| an Ornette Colemans Album „Free Jazz“ beteiligt, galt Dolphy längst als | |
| Exponent des sogenannten Third Stream, den der Komponist Gunther Schuller | |
| als Bindeglied zwischen europäisch geprägter Neuer Musik und amerikanischem | |
| Modern Jazz proklamiert hatte. | |
| Dolphy hatte geplant, nach der Tour in Europa zu bleiben, er starb keine | |
| drei Monate später in Westberlin an einem nicht rechtzeitig erkannten | |
| Diabetes. Eric Dolphy prägt auch die überwältigende halbstündige | |
| Konzert-Fassung von Mingus’ Komposition „Fables of Faubus“ (benannt nach | |
| dem rassistischen Gouverneur Orville Faubus, der 1957 die Unruhen in Little | |
| Rock, Arkansas, die nach den Angriffen auf schwarze Schüler:innen | |
| ausgebrochen waren, nur mit der Nationalgarde niederschlagen konnte). Sie | |
| prasselt als zweites Stück auf das Bremer Publikum nieder. | |
| Bei aller stilistischer Freiheit, von der auch die anderen Solisten | |
| reichlich Gebrauch machen: Mingus’ Musik ist hochgradig formbewusst, am | |
| großen Duke Ellington geschult, und immer gilt das Kommando des Meisters. | |
| Werner Burkhardt, ein weiterer Augenzeuge, war in seiner Konzertrezension | |
| in der Welt mehr als irritiert von Mingus’ tyrannischem Gehabe, das dessen | |
| hehrer Botschaft von Freiheit und Erneuerung seiner Ansicht nach Hohn | |
| sprach. | |
| ## Zahlreiche Querverbindungen | |
| Dass Mingus seine Musiker dabei immer auch besser machte, hat jedoch sogar | |
| sein früherer Posaunist Jimmy Knepper beteuert, der bei einer tätlichen | |
| Auseinandersetzung mit dem Chef mal einen Zahn einbüßte. Mingus steigerte | |
| das Ausdrucksvermögen seiner Musiker, er war weniger an der | |
| instrumentaltechnischen Raffinesse interessiert, auf die es etwa ein | |
| [3][Art Blakey] bei den Mitgliedern seiner Messengers abgesehen hatte. | |
| Nicht von ungefähr gibt es bei Mingus, dem „Surrealisten des Jazz“ (so | |
| urteilte sein Kollege Julian „Cannonball“ Adderley), zahlreiche | |
| Querverbindungen zu anderen Künsten. So komponierte er zwei Ballettmusiken | |
| und den Soundtrack zu John Cassavetes’ Film „Shadows“, auch literarischer | |
| und publizistischer Geleitschutz waren in Reichweite, von Langston Hughes | |
| bis Nat Hentoff. | |
| Merkwürdig, dass sich heute nicht mehr viele Musiker:innen an | |
| Kompositionen von Charles Mingus herantrauen. Ausnahme ist die 34-jährige | |
| US-Pianistin und Sängerin [4][Stephanie Nilles], von der demnächst ein | |
| Album ihrer Interpretationen von Mingus-Stücken veröffentlicht wird. | |
| Aufgenommen hat sie die Musik schon – übrigens ebenfalls im Studio F des | |
| inzwischen privatisierten Bremer Sendesaals. | |
| Immerhin, Charles Mingus kam noch ein zweites Mal nach Bremen. Wenig | |
| geläutert, aber in bestechender Tagesform spielte er am 9. Juli 1975 im | |
| Quintett mit Jack Walrath, George Adams, Don Pullen und Dannie Richmond in | |
| der „Post-Aula“, und erneut schnitt Radio Bremen das Konzert mit. In den | |
| 1970ern war Mingus als unbezähmbarer Erneuerer der Jazztradition endlich | |
| respektiert und auch in Westdeutschland wohlgelitten. | |
| ## Richtige Gassenhauer | |
| Nur gerade „Fables of Faubus“ war noch immer im Set des Abends, zusätzlich | |
| brachte Mingus Schlachtrösser wie „Sue’s Changes“ und „Free Cell Block… | |
| ’Tis Nazi USA“ mit, schwelgte in der eleganten Huldigung „Duke Ellington�… | |
| Sound of Love“, um dann eine ausgeflippte Zwei-Minuten-Version von | |
| „Cherokee“ dranzuhängen. Und im Zugabenteil hatte er mit „Devil Blues“ | |
| sogar einen richtigen Gassenhauer auf Lager. Auch dieses Konzert zog sich | |
| über triumphale zweieinhalb Stunden, in denen Mingus als Bandleader, | |
| Komponist und auch noch mal als Gott am Kontrabass auftrumpfen konnte | |
| (bevor er krankheitsbedingt dafür George Mraz und Eddie Gomez anheuern | |
| musste). | |
| Spätestens in der Dekade zwischen den beiden Bremer Konzerten hat sich | |
| Charles Mingus in den Olymp gespielt: Jazz mit Black Power grundiert, in | |
| den Titeln der Stücke oft politisch zugespitzt, mit Gospel-Inbrunst | |
| vorgetragen, mit Mut auch zur Kakophonie und einem unstillbaren Drang zu | |
| zeitloser und überzeitlicher Musik, die nach hinten in die Jazztradition | |
| ausgreift und genauso nach vorn in avantgardistisches Niemandsland. Und | |
| mittendrin, 1971, erschien seine autofiktionale Bekenntnisbiografie | |
| „Beneath the Underdog“, in der Mingus sich gleich eingangs als multiple | |
| Persönlichkeit outete („Ich bin der Mann, der beobachtet und wartet, der | |
| Mann, der angreift, weil er Angst hat, und der Mann, der vertrauen und | |
| lieben will.“). | |
| Die [5][erste deutsche Ausgabe], übersetzt von einem gewissen Frank Witzel, | |
| folgte erst 1980, ein Jahr nach Mingus’ frühem Tod. Große | |
| Aufschneider-Prosa, die Gangsta-Rapper wie Waisenknaben aussehen und den | |
| lieben Gott einen Boogie Man sein lässt und lohnt die Lektüre. Das | |
| einschlägige Zitat („God Must Be a Boogie Man“) hat später auch Joni | |
| Mitchell als Songtitel in ihrer Mingus-Hommage verwendet. | |
| Die Intensität eines Charles Mingus hat der Jazz seither nur ganz selten | |
| wieder erreicht. Dank dieser auf Betreiben von Label-Chef François Zalacain | |
| und Ex-Radio Bremen-Mitarbeiter Volker Steppat veröffentlichten | |
| Live-Aufnahmen kann man sich jetzt mit Gewinn einer musikalischen Urgewalt | |
| ausliefern, die angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen in | |
| den USA besser nicht passen könnte. | |
| 21 Jan 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /100-Geburtstag-von-Charlie-Parker/!5704605 | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=Ne6GCYO8pAc | |
| [3] /Schlagzeuger-Art-Blakey/!5628180 | |
| [4] https://stephanienilles.bandcamp.com/ | |
| [5] https://edition-nautilus.de/autorinnen/mingus-charles/ | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Schäfler | |
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