| # taz.de -- Konzerte von John Zorn in Hamburg: Reinlich und radikal | |
| > Der New Yorker Jazzkomponist John Zorn schlägt für einen Konzertmarathon | |
| > an der Hamburger Elbphilharmonie auf. Zwei Uraufführungen werden geboten. | |
| Bild: Eremit mit Neigung zu Noise: der Jazzmusiker John Zorn | |
| Man kann sich schon einmal wappnen: Ohrstöpsel werden hilfreich sein, wenn | |
| man sich in das Klang-Multiversum des mittlerweile 68-jährigen New Yorker | |
| Künstlers John Zorn begibt. Von leisen, beinahe gehauchten Melodien über | |
| Noise- und Punkfragmente bis zu infernalischem Death-Metal wird der eigene | |
| Körper Teil des Konzerterlebnisses. | |
| Zu einem Zorn-Konzert zu gehen, ist Konzentration, Transzendenz, Arbeit. | |
| Nicht nur sich selbst und den Musiker*innen seines Umfelds wird alles | |
| abverlangt, auch den Zuhörenden. John Zorn, rastloser und radikaler Denker | |
| im Bereich Improvisation, Neue Musik und Jazz. Altsaxofonist, Komponist, | |
| Dirigent, Produzent, Label- und Clubbetreiber, Perfektionist und Visionär, | |
| der um drei Uhr morgens aufsteht, um zu komponieren, Musik zu hören, zu | |
| lesen und nachzudenken. | |
| Der sich die Hände wäscht, bevor er das Arbeitszimmer seiner Wohnung im New | |
| Yorker East Village betritt, in der er – nach Aufenthalten in Kalifornien | |
| und Japan – seit 1977 lebt. Ein Ritual der Reinheit, das für den Respekt | |
| steht, den er der Musik entgegenbringt. | |
| Dabei lässt er beim Arbeiten keine Ablenkung zu. Dies sei, so Zorn, nicht | |
| schwierig, wenn man diszipliniert sei. So lese er keine Zeitungen, höre | |
| kein Radio, habe keinen Fernseher und sei oft zu Hause. Zorn als Eremit | |
| also, als Schreibender, der noch mit Bleistift und Papier komponiert und in | |
| dessen Kopf sich gewaltige Klänge zusammenschieben und gegeneinander | |
| auftürmen. | |
| ## Wut und Katharsis | |
| Anfangs gespeist von einer ungeheuren Wut, die sich in ihm angestaut hatte, | |
| sich in Verzerrung und Lautstärke entlud und in Katharsis mündete. Musik | |
| als Ventil. Zuerst, Mitte der 1970er Jahre, bei Solokonzerten, die er in | |
| seiner Wohnung gab, gefolgt von seinen „Spielstücken“, bei denen er | |
| Improvisationsmusiker:innen mit selbst entworfenen Spielkarten | |
| dirigierte. Das Stück „Cobra“ aus dieser Zeit führt er bis heute auf. | |
| Die Wut entlud sich auch, als er nach der 1989 erschienenen Aufnahme „Spy | |
| vs Spy: The Music of Ornette Coleman“ als Reaktion auf einen vernichtenden | |
| Verriss in der New York Times das Stück „Jazz Snob: Eat Shit“ komponierte. | |
| Im Soundlabor des John Zorn gären alchemistische Prozesse und multiple | |
| Versuchsanordnungen, die kartografiertes Gebiet verlassen und | |
| experimentelles Neuland betreten. | |
| Außer der Organisation der Struktur und Dynamik der Miniaturen Anton | |
| Weberns und der Intensität von Metal nennt Zorn als Einflüsse neben Ornette | |
| Coleman die epische Erschütterung der Solokonzerte des Pianisten Cecil | |
| Taylor, die kompositorische Praxis des Saxofonisten Anthony Braxton und die | |
| zornige Great Black Music von Lester Bowie und dem Art Ensemble of Chicago. | |
| Als Antwort auf die Great Black Music des Art Ensembles entwickelte Zorn | |
| seine Idee der Great Jewish Music (GJM), mit der er sein jüdisches | |
| kulturelles Erbe erforschte. Für sein fortlaufendes Projekt „Masada“ | |
| schreibt er Kompositionen, die auf der phrygisch-dominanten Tonleiter | |
| basieren. | |
| ## Radikaler Kitsch? | |
| Mittlerweile sind es mehr als 600. Die GJM basiert auf Zorns 1992 | |
| verfasstem Manifest einer Radical Jewish Culture und wurde, auch unter | |
| jüdischen Musiker*innen, aufgrund seiner Ausschließlichkeit kontrovers | |
| diskutiert. Adam Shatz schrieb in der New York Times von „radikalem | |
| Kitsch“. | |
| Der 1953 im New Yorker Arbeiterbezirk Queens geborene Zorn wurde von seinen | |
| Eltern früh gefördert. Er lernte verschiedene Musikinstrumente, spielte | |
| Bass in einer Surfband und beschäftigte sich mit der Zwölftonmusik von | |
| Karlheinz Stockhausen und neben Webern mit den Kompositionen von György | |
| Ligeti und Mauricio Kagel sowie den Cartoonpartituren von Carl Stalling und | |
| der Filmmusik von Ennio Morricone. | |
| Nachdem er bei seinem Lehrer Oliver Lake das Album „For Alto“ von Anthony | |
| Braxton gehört hatte, begann er Altsaxofon zu spielen. Im Lower Eastside | |
| Club CBGB’s, dem Treffpunkt der New Yorker Punkszene, hörte er Matineen mit | |
| intensiv repetitiver Noise-, Punk- und Metalmusik und begann, verschiedene | |
| Stile zu kombinieren. | |
| Es folgten Neubearbeitungen von Filmmusik und Jazzkompositionen als Punk- | |
| und Metalminiaturen. 1995 gründete er sein Label Tzadik und eröffnete 2005 | |
| seinen Club The Stone in einem ehemaligen Chinarestaurant an der 2nd | |
| Street, der 2018 in das Gebäude New School for Social Research in Greenwich | |
| Village umzog. | |
| ## Uraufführungen in Hamburg | |
| Schon mehrmals hat John Zorn weltweit große Teile seines Gesamtwerks | |
| aufgeführt. Für die diesjährige „Reflektor“-Reihe der Elbphilharmonie hat | |
| er ein Programm kuratiert, in dem er an vier Tagen 14 Konzerte seiner Musik | |
| aufführen wird, darunter zwei Uraufführungen: „Hermetic Organ“, ein Solo | |
| für Altsaxofon und Orgel, und „Electric Masada“ als Tentett mit jeweils | |
| zwei Gitarristen, Keyboardern und Schlagzeugern, dazu Bass, Percussion und | |
| die japanische Elektronikerin Ikue Mori, dirigiert von John Zorn. | |
| Dazu werden seine gesamten Streichquartette zu hören sein, eine Suite für | |
| sein Jazz-Metal-Trio „Simularicum“, Americanakompositionen für die Sänger… | |
| Petra Haden, eine der Töchter des Jazzbassisten Charlie Haden, „The Holy | |
| Visions“ über die Visionen der mittelalterlichen Mystikerin Hildegard von | |
| Bingen, „The Turner Études“ über die späten Skizzen des britischen Malers | |
| William Turner für Soloklavier und „Jumalattaret“, ein auf dem finnischen | |
| Nationalepos basierendes Werk, gesungen von der Sopranistin Barbara | |
| Hannigan. | |
| Außerdem wird als Uraufführung der dritte und letzte Teil der filmischen | |
| Langzeitdokumentation über Zorn zu sehen sein, von dem französischen | |
| Regisseur, [1][Schauspieler und Zorn-Fan Mathieu Amalric,] der in einem | |
| Gespräch mit Zorn in den Film einführen wird. | |
| Bereits 2017 hatte Zorn in der Elbphilharmonie in einem „Bagatelles | |
| Marathon“ seine etwa 300 miniaturhaften, an Webern angelehnten und, wie bei | |
| seinem Album „Naked City“ (1990), wenige Sekunden kurzen „Bagatellen“, | |
| aufgeführt. | |
| Mit dem Quartett der Gitarristin Mary Halvorson sowie langjährigen | |
| Weggefährt*innen, darunter dem Schlagzeuger Joey Baron, der | |
| mittlerweile in Berlin lebt, sowie dem Bassisten Greg Cohen, der, etwa für | |
| [2][Bob Dylan] und Tom Waits, aber auch mit Ornette Coleman spielte: Cohen | |
| gehörte zum Ornette Coleman Quartet. So schließen sich immer wieder Kreise | |
| und bringen neue Teilmengen hervor. Es ist die Autopoiesis des Systems | |
| Zorn. Als ontologisches Konzept emergenter Selbstorganisation. | |
| 18 Mar 2022 | |
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