# taz.de -- 100. Geburtstag von Charlie Parker: Den Blues wegstampfen | |
> Charlie „Bird“ Parker (1920-1955) hob Jazz in höhere Sphären. | |
> Erinnerungen an einen stilsprengenden und rastlosen Saxofonisten. | |
Bild: Charlie Parker mit Saxofon und der Meister Miles Davis an der Trompete, 1… | |
Es sind sechzehn Sekunden, die alles vorwegnehmen: den atemberaubenden | |
Strudel, der die Musikwelt erfassen wird; die Beglückung durch eine eigene | |
Stimme, die Schmerz und Hochgefühl sanft vereint; und die Offenheit zur | |
Zwiesprache mit musikalischen Gefährten. Dieses kurze Solo auf dem | |
Altsaxofon spielt Charlie Parker 1942 in der [1][Big Band von Jay McShann], | |
deren ausgebuffter Swing ihm Auftrieb verleiht, um dem Sänger den roten | |
Teppich auszurollen. | |
Und so kann Walter Browns Gesang nur in der Zeile münden „Forget your | |
trouble and jump your blues away“. Der Trompeter Kenny Dorham, in den | |
späten 1940er Jahren Mitglied in Parkers Quintett, fasste Jahrzehnte später | |
zusammen, dass „Bird“, so der weithin anerkannte Spitzname Charlie Parkers, | |
viele Musiker zwar in den Schatten gestellt habe, weil sie seiner Präsenz | |
und Kraft nichts hätten entgegnen können und trotzdem habe sie Parkers | |
Botschaft mitgerissen. Weil sie das heute noch tut, bereitet das Hören von | |
Parkers Werken auch pure Freude. | |
Charlie Parker kommt am 29. August 1920, am Samstag vor 100 Jahren, als | |
Sohn einer Putzfrau und eines Vaudeville-Darstellers in Kansas City zur | |
Welt. Sein erstes Altsaxofon bekommt er als Jugendlicher von der Mutter, er | |
schmeißt die Schule, heiratet im Teenageralter und spielt auf Jam Sessions. | |
## Bessessenes Üben | |
Jahrelang übt er bis zu 15 Stunden am Tag, ähnlich besessen prägt er sich | |
alle Songs und Solisten ein, die er hört. In Kansas City entwickelt sich in | |
den 1930er Jahren ein eigener Stil des Urban Blues: Sänger phrasieren ihre | |
Songs eingebunden in den rhythmischen Kontext einer Big Band. Sie setzten | |
Pausen geschickt, um mit den folgenden Worten wieder eine Punktlandung | |
hinzulegen. | |
Diese gesangliche Qualität macht sich Parker auf dem Saxofon zu eigen und | |
führt sie zu Höhenflügen, was auch in späteren Aufnahmen mit Sänger_innen | |
wie Rubberlegs Williams, Earl Coleman und Sarah Vaughan zu hören ist. Nach | |
ersten Erfahrungen in Swingbands schließt er sich Jay McShann an, | |
unternimmt zunächst aber mehrere Versuche, in New York als Musiker Fuß zu | |
fassen. Bei einem Gig mit McShann Ende der 1930er Jahre im Savoy Ballroom | |
in Harlem lernt Parker dann den Trompeter Dizzy Gillespie kennen, auch er | |
sollte berühmt werden. Dieses geniale Gespann steht bis 1953 gemeinsam auf | |
der Bühne und spielt zahlreiche Aufnahmen ein. | |
Es wäre zu einfach, jene [2][Ära] von Gillespie und Parker auf den | |
Stilbegriff [3][„Bebop“] zu reduzieren. Obwohl die beiden sich gegenseitig | |
zu den waghalsigsten Tempi und kühnsten Tonkaskaden versteigen und es | |
wagen, tradierte Formen von Harmonik und Rhythmus zu durchbrechen und auf | |
einem bis dato unbekannten Niveau zu improvisieren. | |
## Segregiert, nicht ebenbürtig | |
Selbstredend waren Bebopper die Hipster der 1940er, doch die Stilrichtung | |
garantierte auch ihren Verbleib im Vergnügungssektor. Nie würden sie den | |
Clubs und Kaschemmen entkommen, schon gar nicht jemals als den weißen | |
Komponisten und Musikern der zeitgenössischen Klassik ebenbürtige | |
Kunstschaffende wahrgenommen werden. | |
Dabei studiert Charlie Parker Aufnahmen von Werken der Komponisten Igor | |
Strawinsky, Paul Hindemith und Béla Bartók genau. Ende 1949 spielt er mit | |
Streichern, Oboe, Harfe, Waldhorn und einer Rhythmusgruppe das Album | |
[4][„Charlie Parker with Strings“] ein, die Jazzstandards sind für diese | |
Besetzung arrangiert. Mehr Einblicke in die Welt der klassischen | |
europäischen Musik bleiben ihm als Afroamerikaner zu jener Zeit verwehrt. | |
Nicht abwegig ist daher, anzunehmen, dass eine Ursache für seinen seit der | |
Jugend anhaltend exzessiven Drogen- und Alkoholkonsum auch in der Krankheit | |
[5][Rassismus] begründet liegt. | |
Bird ist ein Flugkörper ohne Landebahn, bis zum Bersten angefüllt mit | |
Ideen, die im Jazz zwar fruchtbaren Boden finden, aber nicht erfüllend | |
sind. In Alternative Takes seiner eigenen Stücke, die er bis zu zehn Mal | |
neu ansetzt, lässt sich nachvollziehen, wie weit sein Geist sich selbst und | |
anderen voraus war. Parkers Präzision ist messerscharf, auch sich selbst | |
erlaubt er nicht den geringsten Fehler und sein Schöpfungsdrang belebt das | |
gleiche Stück mit immer neuen Varianten. | |
## Die Musik selbst ist das Anliegen | |
Er holt die Trompeter [6][Miles Davis] (1945) und Chet Baker (1952) in | |
seine Band, obwohl sie ihm technisch unterlegen sind. Aber Parker hat die | |
Zurschaustellung individuellen Könnens schon längst überwunden. Sein | |
Anliegen ist die Musik selbst und nur eigenständige Persönlichkeiten können | |
ihre Geschichten auch erzählen. | |
Als Igor Strawinsky 1951 zu Gast im New Yorker Club Birdland ist, webt | |
Parker kurzerhand Auszüge aus dessen „Feuervogel“ in seine Darbietung auf | |
der Bühne ein. Im Herbst 1954 bittet Parker Edgar Varèse um | |
Kompositionsunterricht. Wozu es leider nicht mehr kommen sollte. | |
Nur wenige Menschen sind ihm wirklich nahe gekommen. Charlie Parker war | |
dreimal verheiratet, zu seinem Sohn aus erster Ehe hatte er keinen Kontakt. | |
Der Tod seiner dreijährigen Tochter aus der Beziehung mit Chan Richardson | |
im Frühjahr 1954 traf ihn hingegen schwer. | |
## Adlige Philanthropin | |
Die Baroness Pannonica de Koenigswarter hatte Parker bei seinen Konzerten | |
1949 in Paris erstmals erlebt, in New York widmete sie sich schließlich | |
ganz der Förderung von Jazzmusiker:innen. In ihrem Hotelapartment stirbt | |
Charlie Parker am 12. März 1955 an einer Lungenentzündung, er hat außerdem | |
ein Magengeschwür und eine Leberzirrhose. Der Arzt, der die Todesursache | |
feststellt, schätzt Parkers Alter auf 53, dabei ist er gerade erst 34 Jahre | |
alt. | |
Die Frage, welche Musiker:innen Parker postum beeinflusst hat, beantwortet | |
sich sofort: Es sind einfach alle. Welcher Komponist des 20. Jahrhunderts | |
kann das schon von sich behaupten? In der Erzählung „Der Verfolger“ [7][des | |
argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar] (1958) grübelt der Kritiker | |
über seine Sprache, die angesichts des musikalischen Genies von Johnny | |
Carter – einem US-Musiker vom Autor nach Parkers Vorbild gezeichnet – zu | |
versagen droht. Dem Verzagten lässt sich beim Hören von Charlie Parker nur | |
beipflichten, als er schreibt: „Ich glaube zu verstehen, warum man beim | |
Beten unwillkürlich auf die Knie fällt.“ | |
28 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=2POyUJ5NrvM | |
[2] /Schlagzeuger-Art-Blakey/!5628180/ | |
[3] /Verschollenes-John-Coltrane-Album/!5519263/ | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=mmm9u8dPU4A | |
[5] /Zwei-Sachbuecher-ueber-Rassismus/!5487379/ | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=up9yWDl0jBc | |
[7] https://blogs.taz.de/zum_25_todestag_von_julio_cortzar/ | |
## AUTOREN | |
Franziska Buhre | |
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