# taz.de -- Gitarristin Mary Halvorson im Porträt: Le Jazz pour le jazz | |
> US-Jazzgitarristin Mary Halvorson veröffentlicht mit | |
> „Amaryllis/Belladonna“ ein neues Doppelalbum, das ihren | |
> Erfindungsreichtum unterstreicht. | |
Bild: Lässt sich nicht in eine Ecke stecken: Mary Halvorson | |
Ein Bogenstrich, leicht angeraut und mit Nachdruck auf den Streichersaiten, | |
intoniert eine elegische Melodie, die einem unruhigen Gemüt entspringt oder | |
tonmalerisch den steten Wechsel von Mondlicht und Dunkelheit in einer | |
bewölkten Nacht ausbreitet. | |
Die gleiche Melodie zupft Mary Halvorson in „Moonbeam“ auf der [1][Gitarre] | |
anfangs im Einklang mit den Streichern, graduell wachsen diese zu vier | |
komplementären Stimmen und Halvorson schert allmählich aus, zunächst mit | |
Trillern zwischen den glasklaren Tönen, dann parliert sie selbstversunken, | |
lässt Cluster von Tönen übereinanderstolpern, so erklingen leises Jaulen | |
und Glucksen zugleich. | |
Die US-Jazzkünstlerin hat dem Mivos-Streichquartett alle Kompositionen | |
geschrieben, zu denen sie sich auf dem Album „Belladonna“ als | |
Improvisatorin in Beziehung setzt. Halvorsons Instrument ist eine | |
Halbresonanzgitarre mit gewölbter Decke – eine Fertigung, die ursprünglich | |
aus dem Geigenbau kommt und das Instrument den Streichern als Schwester | |
anverwandelt. | |
## Melodische Brüche | |
Im Titelstück „Belladonna“ mäandert die schnelle Wiederholung einzelner | |
Töne, das Tremolo, zwischen dem Zittern des Bogens über die Geigensaiten | |
und Halvorsons huschenden Fingern über die Gitarrensaiten hin und her. Erst | |
hält sie die Streicher so im Zaum, zieht sich dann zurück und überlässt | |
ihnen die Wanderung durch die eingangs vorgestellten melodischen Motive, | |
Brüche und Tempowechsel in ständig wechselnden Kombinationen. | |
Dann schließlich kehrt sich das Verhältnis um, die Streicher hegen sich als | |
Begleitung ein, und Halvorson schlägt um in Verzerrung und geradezu | |
transzendenten Noise, bevor sie das Stück mit einem gehörigen Rock-Riff | |
abschließt. Die Belladonna ist eine Varietät der Pflanzengattung Amaryllis, | |
nach der Halvorson wiederum den ersten Teil ihres Doppelalbums benannt | |
hat. Für „Amaryllis“ hat sie extra ein neues Sextett gegründet, das | |
wiederum drei Stücke gemeinsam mit dem Mivos-Quartett spielt. | |
Neu an Halvorsons Seite sind die Vibrafonistin Patricia Brennan und der | |
Kontrabassist Nick Dunston, der Ende 2020 von New York nach Berlin gezogen | |
ist. Posaunist Jacob Garchik und Trompeter Adam O’Farrill waren bereits | |
Teil ihres Oktetts und ihrer Band Code Girl, der Schlagzeuger Tomas | |
Fujiwara stammt, wie Halvorson, aus Boston und ist einer ihrer längsten und | |
engsten musikalischen Weggefährten. | |
## Eloquent, aber null Geltungsdrang | |
Geboren 1980, ist Halvorson die erfindungsreichste Gitarristin der | |
zeitgenössischen improvisierten Musik in den Vereinigten Staaten. Sie ist | |
eloquent, Geltungsdrang aber liegt ihr fern. Mit ihrer schier | |
unermesslichen Bandbreite an Klängen und Spieltechniken könnte Halvorson | |
auf der Bühne als Rampensau auftreten, aber sie versenkt sich vollkommen | |
ins Zuhören und Spielen ihres Instruments. | |
Gitarre wollte sie lernen, nachdem sie als Elfjährige „And the Wind Cries | |
Mary“ von [2][Jimi Hendrix] gehört hatte, später studierte sie bei dem | |
Komponisten, Musiker und einflussreichen Erneuerer der improvisierten | |
Musik, Anthony Braxton. | |
In 20 Jahren Musikerinnenkarriere hat sich Mary Halvorson selbst ein höchst | |
ausdifferenziertes Repertoire fürs Üben, Improvisieren und Komponieren | |
erarbeitet. Sie beginnt stets mit dem Spiel, schält Ideen heraus, | |
wiederholt diese immer wieder, verdoppelt oder verdreifacht Töne, spielt | |
Akkorde rückwärts oder überlistet sich selbst bei üblichen Griffen. Sie | |
ersinnt Melodien beim Singen und komponiert Songs für sich und andere. | |
## Übersichtliches Set-Up | |
Nie hat sie sich beirren lassen von Traditionalisten oder Gear-Fanatikern: | |
Ihr Set-up ist übersichtlich und dient einzig dem Klang, nicht der | |
sichtbaren Attitüde. Bis heute hat sie mehr als 25 Alben in | |
unterschiedlichen Konstellationen veröffentlicht, nicht nur mit | |
Jazzkolleg:Innen. Halvorson ist eine von zwölf Musikerinnen und | |
Komponistinnen, die seit 1982 als MacArthur Fellows (im Volksmund „The | |
Genius Grand“) bedacht wurden – gegenüber 37 Kollegen. | |
Die Auszeichnung geht einher mit einem Stipendium in Höhe von umgerechnet | |
über einer halben Million Euro, das über einen Zeitraum von fünf Jahren in | |
Tranchen ausgezahlt wird. | |
Halvorson wurde 2019 ausgezeichnet, sicher eine glückliche Fügung für ihre | |
Lebensgrundlage: der kraftraubende Zyklus von Auftritten und Einspielungen, | |
wie er während der Coronapandemie aus den Fugen geriet. Die Musikmetropole | |
New York hat schwer gelitten, zahlreiche Spielstätten, gerade auch für | |
[3][Jazz], mussten schließen, reihenweise konnten sich Musiker:Innen | |
selbst die Übernachtung in Abstellkammern nicht mehr leisten und verließen | |
die Stadt. | |
## Nuancierte Klangumgebungen | |
Halvorson zog sich zurück und erlaubte sich, ihrem Traum von Musik für ein | |
Streichquartett entgegen zu komponieren. Sie ist neugierig, tatendurstig | |
und hat ein Ohr für nuancierteKlangumgebungen und schillernde Strudel. | |
Auch wenn man als Hörende nicht erfasst, wie sie eigentlich entstehen, sind | |
sie auf dem Doppelalbum „Amaryllis/Belladonna“ vollkommen eingelöst. | |
In ihrem Sextett kann die 41-jährige US-Amerikanerin übergangslos in | |
verschiedene Rollen schlüpfen: Beim Song [4][„Night Shift“] treibt sie etwa | |
den Rhythmus gemeinsam mit Bass und Schlagzeug, breitet die Melodie aus, | |
die Trompete und Posaune aufgreifen und fortspinnen. Mit dem Vibrafon kann | |
sie in obertonreiche Wolken abdriften. | |
In der lyrischen Einleitung von „Anesthesia“ finden sich alle Instrumente | |
an ihrem Platz im Gefüge aus Vorder- und Hintergrund, wohinein Halvorsons | |
Gitarre schwebt und sich erst nach Momenten als Spiritus Rector einer | |
kollektiven Improvisation zu erkennen gibt. | |
Das Tentett gemeinsam mit dem Mivos-Quartett schließlich vereint beherzte | |
und fein ziselierte Streicher-Arrangements mit schwelgerischen | |
Bläserstimmen und Raum für uneitle und doch anrührende Soli unter | |
Halvorsons Ägide. Denn die Amaryllis erscheint nur mit vielen Blüten in | |
voller Pracht. | |
3 Jul 2022 | |
## LINKS | |
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[4] https://www.youtube.com/watch?v=_rPxO3EzjJA | |
## AUTOREN | |
Franziska Buhre | |
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