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# taz.de -- 100. Geburtstag von Charles Mingus: Ekstatische Momente am Kontraba…
> Vor 100 Jahren wurde der Jazzbassist Charles Mingus geboren. Seine Musik
> ist voll Lebensfreude, Zorn und körperverwandelnder Kraft.
Bild: „Talk to me!“ Charles Mingus am Bass
Stellt man sich eine Band als menschlichen Körper vor, ist der Bassist ihr
Zwerchfell. Er reguliert ihre Atmung, die Rhythmizität und Energiegewinnung
für das fortlaufende Spiel, sorgt für ein ausgeglichenes Verhältnis
zwischen den Organen, also von Rhythmus- und Melodieinstrumenten, und ist
Motor für ihre Stimmbildung, also den Klang.
In einem Stück verlässt der [1][US-Jazzbassist Charles Mingus] all diese
Funktionen des Zusammenhalts und transzendiert sein Instrument im Duo mit
Eric Dolphy auf der Bassklarinette zu mündlicher Lautbildung. Er zieht die
höchste, die G-Saite des Kontrabasses bis an den Rand des Griffbretts und
zupft die hohen Töne wie ein leises, neugieriges Schnattern.
Dolphy erwidert mit einem Selbstgespräch, in dem er seine Wehklage mit
einer Flut gellender Rufe durchsetzt, er krächzt, und seine Stimme
überschlägt am Rande der Verzerrung, bevor ihn Mingus mit einem Auftakt auf
den tiefen Saiten zurückholt und die Bläser die Eingangsmelodie von „What
Love“ wieder gemeinsam intonieren, als wäre nichts geschehen. Die Aufnahme
von 1960 ist deshalb so bemerkenswert, weil Mingus und Dolphy hier für
einen Moment aus jeglichen Konventionen von Tempo und Phrasierung
heraustreten und sich dem Klang selbst überlassen.
Dieselbe Stelle hatte Monate zuvor beim Konzert im französischen Antibes
hörbar widerstreitende Reaktionen im Publikum ausgelöst, wovon Mingus sich
nicht beirren ließ und Dolphy beim Spiel emphatisch zurief: „Talk to me!“
Man kann diese Momente als ekstatisch beschreiben, die in Stücken von
Mingus nie Selbstzweck exaltierter Lärmproduktion oder technischer
Angeberei sind, sondern immer eingebunden ins Fundament seiner
Kompositionen.
Als Bandleader vervollkommnete Mingus jedes einzelne Mitglied seiner
Ensembles, als begnadeter Bassist trieb er die Musiker voran, und als
überragender Komponist schuf er ihnen und sich ein einzigartiges Monument
in der Jazzgeschichte.
## Auswüchs des Rassismus
Geboren wird Charles Mingus am 22. April 1922 in Nogales, Arizona, er
wächst in Watts auf, einem Vorort von Los Angeles. Als Kind mit
afroamerikanischen, chinesisch-britischen und indigenen Vorfahren erlebt er
einen der perfidesten Auswüchse von US-Rassismus: Sein Vater vermittelt
ihm, er sei anderen aufgrund seiner helleren Hautfarbe überlegen, in der
Hackordnung der Nachbarschaft bezeichnen sich Mexikaner als Spanier,
Chinesen als Weiße, und Afroamerikaner stehen am unteren Ende – in keiner
Clique wird Charles akzeptiert.
Als Kind lernt er Cello spielen, als Teenager rät ihm der Saxofonist Buddy
Collette, auf den Kontrabass um- und in seine Swingband einzusteigen. Er
nimmt Unterricht beim Jazzbassisten Red Callender und bei Herman
Reinshagen, ehemals erster Bassist der New Yorker Philharmoniker. Außerdem
lernt er Klavier an der Musikschule von Lloyd Reese, die zur Talentschmiede
in Los Angeles wird, auch für Eric Dolphy.
In den 1940er Jahren spielt er den perkussiven Slap-Bass als Sideman für
schmalzige Tenorsaxofonisten, röhrende Rhythm-and-Blues-Sänger_innen und
temporeiche Bebop-Combos, sein Stück „Mingus Fingus“ arrangiert er erstmals
für die Big Band des Vibrafonisten Lionel Hampton mit wuchtigem
Bläserapparat und einem schelmischen Groove, den er schon deutlich als
Walking Bass artikuliert.
## Das innere Notenpapier
In Formationen vom Duo bis zur 22-köpfigen Band experimentiert er vor allem
zum Ausdrucksspektrum der Bläser von Klarinette bis Baritonsaxofon und mit
sich als Erzähler. 1951 zieht er nach New York, zwei Jahre später begründet
er mit einer Konzertserie den Jazz Workshop, eine Werkstatt für Bands mit
profilierten Musikern und wechselnden Solisten. In dem Schlagzeuger Dannie
Richmond findet er einen symbiotischen Partner, die beiden spielen über 20
Jahre gemeinsam.
Mingus entwickelt eine eigene, prägende Arbeitsweise: Er notiert die Stücke
auf „innerem Notenpapier“, spielt sie den Musikern auf dem Klavier und
unter Einsatz seiner Stimme vor, bis ihnen die Struktur und Stimmung
vertraut sind. Dabei bezieht er die individuellen Vorzüge eines jeden mit
ein und überlässt ihnen selbst, wie sie das Zusammenspiel und ihre Soli
gestalten.
So entstehen politisch aufgeladene Stücke wie „Haitian Fight Song“, zu dem
er sagt, er könne es nicht spielen, ohne an das Unrecht von Vorurteilen,
Hass und Verfolgung zu denken. Oder „Original Faubus Fables“, in dem er den
Gouverneur Faubus, der gegen den gemeinsamen Schulunterricht von weißen und
afroamerikanischen Kindern in Little Rock, Arkansas, vorging, mit Brüchen
in Tempo, Akkorden und beißendem Sprechgesang musikalisch teert und federt.
## Brief an Miles Davis
„Wednesday Night Prayer Meeting“ hingegen ist ansteckende Lebensbejahung,
mit der Mingus die Kirchenmusik seiner Kindheit zelebriert. Er ist
überzeugt, er könne nur aus sich selbst heraus schöpferisch sein, weshalb
die vielen selbstreferenziellen Albumtitel mit seinem Namen – einmal sogar
verfünffacht – keinem Narzissmus entspringen, sondern sein Bedürfnis
untermauern, geerdet von Blues und Gospel, in den Fußstapfen der
musikalischen Vaterfigur Duke Ellington und als ehemaliger Kollege des
wegbereitenden Saxofonisten Charlie Parker, der Gesellschaft ihre eigene
Folkmusic zurückzugeben und sie lebendig fortzuführen.
In einem offenen Brief an Miles Davis schreibt er 1955: „Musik ist oder war
eine [2][Sprache der Gefühle.] Meine Musik ist lebendig, sie handelt von
den Lebenden und den Toten, von Gut und Böse. Sie ist zornig, aber sie ist
echt, weil sie weiß, dass sie zornig ist.“
Mingus’ Wutausbrüche sind gefürchtet, mitunter verprügelt er Musiker seiner
Bands. Er offenbart sich aber auch radikal selbst, etwa in seiner
Autobiografie „Beneath the Underdog“, die 1971 erscheint und an der er zehn
Jahre geschrieben hatte. Nach Touren durch Europa und die USA und der
Zwangsräumung seiner Wohnung 1966 ist Mingus ein paar Jahre abgetaucht und
in psychiatrischer Behandlung.
Bis zum Herbst 1977 nimmt er wieder Alben auf und tourt, doch dann wird bei
ihm ALS diagnostiziert, eine Erkrankung des motorischen Nervensystems.
Schließlich ist er auf den Rollstuhl angewiesen und auf Weggefährten, die
seine Kompositionen nach Anweisungen aufschreiben.
## Theweleit und Mingus
Er stirbt am 5. Januar 1979 in Cuernavaca, Mexiko, im Alter von nur 56
Jahren. Sein Leichnam wird eingeäschert, auf gar keinen Fall wollte er auf
US-Boden beigesetzt werden, weshalb seine letzte Ehefrau, Sue Graham
Mingus, seine Asche in der nordindischen Stadt Haridwar dem Ganges
übergibt.
Der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit schrieb 2008 in seiner Biografie von
Jimi Hendrix von der körperverwandelnden Kraft der Musik. Später sagte er,
er habe diese Kraft zuerst bei Jazz empfunden, bei Charlie Parker und
Mingus. Man bekomme mit der Aufnahme von Musik eine andere Körperlichkeit,
sie verlebendige den Körper, erhöhe seine Energie. Genau das bewahrheitet
sich beim Hören der Musik von Charles Mingus – sie beglückt zutiefst, sie
gibt Kraft und Zuversicht. Wer Mingus hört, ist nicht allein.
20 Apr 2022
## LINKS
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[2] /Musiker-und-Autor-Sven-Regener-ueber-Jazz/!5751287
## AUTOREN
Franziska Buhre
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