# taz.de -- Legendäres Jazz-Album „Epitaph“ aufgeführt: Liebe zu den Mög… | |
> Ein Konzert als Porträt eines Künstlers: In der Berliner Philharmonie | |
> wurde „Epitaph“, das Opus magnum des Jazzbassisten Charles Mingus, | |
> aufgeführt. | |
Bild: Randy Brecker, ganz links, mit Käppi und die BigBand unter Leitung von T… | |
Ein älterer Herr in Schwarz und mit einer Schirmmütze auf dem Kopf sitzt am | |
Montagabend auf einem Stuhl am Bühnenrand der Berliner Philharmonie. Er | |
wirkt wie jemand, der auf die Tauben aus dem Park wartet, damit er sie | |
füttern kann. | |
Doch dann erhebt sich Randy Brecker und greift nach einer der vor ihm | |
stehenden Trompeten. Er bläst an und schickt langgezogene, freundliche | |
Signale los, die durch den Saal klingen, als würden sie ihn ausmessen. | |
Damit setzt der 76-Jährige einen erhabenen Akzent bei „Epitaph“, einer | |
legendären Suite aus der Feder des [1][US-Kontrabassisten und Jazzers | |
Charles Mingus], welche die BigBand der Deutschen Oper Berlin unter der | |
Leitung des Dirigenten Titus Engel aufführt. | |
Randy Brecker ist deren Stargast. Seine Könnerschaft hat der als Randal | |
Edward Brecker 1945 in Philadelphia an der US-Ostküste geborene Musiker in | |
seinem Leben mit vielen der aufregendsten Jazzer immer weiter steigern | |
können, darunter auch seinem Bruder, dem Tenorsaxofonisten Michael Brecker. | |
Am Montagabend führt Randy Brecker vor, wie sich Noten behandeln lassen, um | |
sich musikalisch Zeit zu nehmen. Der Effekt ist erstaunlich, den Tönen | |
lässt sich beim Verklingen förmlich zusehen. Es wundert nicht, dass Brecker | |
für jedes seiner musikalischen Apercus staunenden Beifall bekommt. | |
## Mingus gerecht werden | |
Dem Werk des eruptiv schöpferischen, im kollegialen Umgang kaum je leicht | |
zu nehmenden Mingus hätte ein Musiker von kleinerem Format kaum gerecht | |
werden können. Das hat auch mit der Zeit der frühen 1960er Jahre zu tun, in | |
der Mingus „Epitaph“ entwarf, aber zu Lebzeiten nicht fertigstellen konnte. | |
Kurz vorher hatte [2][Ornette Coleman] mit dem Album „Free Jazz“ das Genre | |
ein weiteres Mal revolutioniert. Mit dem US-amerikanischen Präsidenten John | |
F. Kennedy verbanden Menschen weltweit Hoffnungen und die Beatles sollten | |
bald ihr Debütalbum aufnehmen. Der Weltgeist bestand Anfang der sechziger | |
Jahre aus Optimismus. | |
Doch selbst in dieser Zeit klappte nicht alles. Bei einem seiner Konzerte | |
etwa forderte Mingus das Publikum ungehalten dazu auf, zur Kasse zu gehen | |
und ihr Eintrittsgeld zurückzuverlangen. Er hatte eine öffentliche Probe | |
für „Epitaph“ abhalten wollen, der Veranstalter dagegen die Uraufführung | |
eines fertigen Werks angekündigt. | |
Nun wunderten sich die Anwesenden, dass die Musiker immer wieder, teils von | |
selbst, teils auf Anweisung von Mingus, zu spielen aufhörten, neu ansetzten | |
und wieder unterbrachen. Dem Komponisten verhagelte es die Laune derart, | |
dass es ihm die Lust auf weitere Beschäftigung mit der Suite nahm. Zu | |
Lebzeiten von Mingus wurde „Epitaph“, ein Parforceritt durch | |
unterschiedlichste Stile, von den Neutönern bis zum Cocktail-Jazz, nie | |
vollständig aufgeführt. Das gelang erst 1989 dem US-Jazzer Gunther Schuller | |
mit einem Orchester der britischen BBC. | |
## Zurück in die Zukunft | |
Auch in der Berliner Philharmonie wirkt „Epitaph“ nach wie vor | |
unabgeschlossen. Das mag an den unterschiedlichen Auffassungen liegen. Die | |
Musiker:innen, zum Teil noch Studierende, verstehen unter Jazz vor allem | |
Soundtracks, die in den 1950ern Leonard Bernstein für Filme wie „Die Faust | |
im Nacken“ und Elmer Bernstein für „Der Mann mit dem goldenen Arm“ schuf… | |
Es ist fast Brecker allein, der „Epitaph“ wieder nach vorn, in die | |
sechziger Jahre schiebt. In eine Zeit, in der alle Wege nicht nur begehbar | |
schienen, sondern auch mit persönlichen und gesellschaftlichen Aufbrüchen | |
begangen wurden. Alles wurde, belustigt oder skeptisch, neu bewertet, | |
Deshalb demonstrierte Randy Brecker in der Philharmonie auch, wie sich | |
Melodien damals in Tonfolgen mit Anführungsstrichen verwandelten. | |
Doch trotz seiner Virtuosität zeigt sich schließlich, dass nicht nur | |
Mingus’ Opus magnum nicht fertig wurde, sondern auch der Komponist mit | |
seinem Werk nicht zurande kam. Mingus hatte zwar alles notwendige Material | |
gesammelt, aber die Ausarbeitung entfiel, weil sein ungeduldiger | |
Enthusiasmus schon bald an ganz anderen Stellen gefesselt wurde. Ein | |
künstlerisches Defizit ist das aber nicht. | |
Es lässt sich zwar kaum erfahren, was „Epitaph“ nach einer Ausarbeitung in | |
Ruhe hätte werden können. Doch dafür liefert die vorhandene Musik mit | |
Hemingway’schen Stierkampfimpressionen, expressiven Perkussionseinschüben | |
und weltmusikalischen Ausflügen durch ein Vibrafon ein anschauliches | |
Porträt des Temperaments eines Charles Mingus. So klingt Liebe zu | |
Möglichkeiten. | |
20 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Kristof Schreuf | |
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