# taz.de -- Hardbop-Jazzpianist Siegfried Kessler: Die legendäre linke Hand | |
> Der Saarländer Pianist Siegfried Kessler, hierzulande unbekannt, war in | |
> Frankreich ein Star. Seine sensationellen Alben erscheinen jetzt wieder | |
> neu. | |
Bild: Der Pianist Siegfried Kessler | |
Mit einem rosafarbenen VW Karmann Ghia dreht Siegfried Kessler Runde um | |
Runde, vom Mittelmeer umgeben, auf der Mole von Le Grand Motte in | |
Südfrankreich. Dann steigt er aus dem fahrenden Auto und sieht zu, wie es | |
ohne ihn weiter im Kreis fährt. Danach steigt er wieder ein und braust | |
davon. | |
Die Bilder aus Christine Baudillons Porträtfilm „A Love Secret“ (2002) | |
zeigen den damals fast 70-jährigen Pianisten als trotzigen Clown, gerne | |
auch enthusiastischen Erzähler und Selbstdarsteller mit einem leicht | |
bitteren Unterton, der mit seiner Raubauzigkeit ebenso kokettiert wie mit | |
seiner verspielten und zarten Spontaneität. | |
Kessler hat Humor: Er lässt die im Jazz so geliebte Energie auch mal in | |
leeren Kreisbewegungen sich verschwenden. Man habe ihm gesagt, seine Hände | |
seien zu grob für einen Pianisten, erzählt er: „Aber wir gehören nicht zu | |
denen, die das Klavier streicheln, man muss es schlagen“. | |
Der Künstler hatte eine legendär harte, präzise, rhythmische linke Hand. | |
Man sieht ihn aber nun, wie er die von Brahms für die linke Hand | |
eingerichtete Chaconne von Bach spielt; alles andere als brutal, wenn auch | |
muskulös. Man hört dies auch auf seinen ersten beiden eigenen Trio-Alben: | |
„Live at the Gill’s Club“ (1970, mit Barre Phillips und Steve McCall) und | |
„Solaire“ (1971, mit Gus Nemeth und Stu Martin). | |
Der Debütant hat da äußerst avancierte internationale Rhythmusgruppen und | |
vor allem auf „Solaire“ in Stu Martin einen umwerfend subtiles Prügel-Genie | |
als perkussiven Partner. Deren aufregenden Austausch kann man jetzt wieder | |
hören: Das Pariser Label Souffle Continu hat diese, wie auch vorher und in | |
Bälde andere Veröffentlichungen des Futura-Labels wiederveröffentlicht. | |
## International, anschlussfähig und offen für andere Welten | |
Der französische Free Jazz der späten 1960er und frühen 1970er entwickelte | |
ja einen hierzulande weitgehend ignorierten dritten Weg zwischen | |
zentraleuropäischem Avantgardismus und Brutalismus (Holland, Deutschland, | |
Großbritannien) einerseits und der Regionalisierung, die in den USA | |
passierte, andererseits; nicht zuletzt dank der zahlreichen | |
afroamerikanischen Exilanten in Paris. Man war sehr international, | |
anschlussfähig und viel früher offen für andere Welten – sei es Musik | |
anderer Weltgegenden, seien es andere Künste wie Kino, Tanz, elektronische | |
Musik; selbst Rock und Pop fanden andere Einflugschneisen in die Jazzwelt. | |
Kessler wird 1935 in Saarbrücken geboren. Sein dem Vernehmen nach | |
wohlhabender Vater stirbt früh, seine Mutter, heißt es, ist künstlerisch, | |
unstabil, krisenanfällig und verschwindet hin und wieder in Anstalten. | |
Kessler wird früh als begabt entdeckt und zum Pianisten ausgebildet, der | |
nebenher Flöte, Klarinette und Schlagzeug an der Hochschule für Musik Saar | |
studiert haben soll. Mit dem Akkordeon begleitet er Chansonniers auf der | |
Straße. | |
1957 kommt das Saarland zur Bundesrepublik, Kessler findet das nicht gut – | |
„Ich kenne die Deutschen, ich weiß, wozu sie fähig sind“ – und geht nach | |
Frankreich. Deutschland kommt in seiner Musik, der Auswahl seiner Sidemen | |
und sonstigen zahllosen Kollaborateure nie wieder vor. Er interessiert sich | |
für Tschaikowski, Debussy und neue Musik: Varèse, Messiaen. Und | |
nichtdeutschen Jazz. Nur der VW Karmann Ghia ist in Saarbrücken zugelassen: | |
Er hat ihn von seiner Mutter geerbt. | |
Kessler landet schließlich in Paris; zunächst als Begleiter von | |
verschiedenen Liedermacher:innen wie Gilles Elbaz und als Sideman von | |
nach Paris verschlagenen, heute vergessenen US-amerikanischen Anregern des | |
französischen Jazz wie Dizzy Reece und Hal Singer. Gerald Terronés, | |
Betreiber des Jazzclubs „Gill’s“, 1969 Gründer des Futura- und 1975 des | |
Marge-Labels, nimmt ihn unter seine Fittiche. | |
Auf den beiden Trio-Alben erklingt schon eine heftige Lebenssumme, die | |
Dringlichkeiten eines Mittdreißigers, der auf diese Gelegenheit wohl schon | |
länger gewartet hat: sehr vital und sehnsüchtig, aber nicht ungefährdet und | |
durchaus an der Steigerung von Fallhöhen interessiert. | |
## Immer noch zu empfehlen | |
Doch schon 1970 wird er Keyboarder von Perception. Ein hitzköpfiges | |
Quartett aus Exilanten und Halbfranzosen unterschiedlicher Pole des neuen | |
Jazz, die sich in einer magischen Nacht im „Gill’s“ gefunden hatten: der | |
Exil-Ungar Yochk’o Seffer (Saxofone), der vietnamesische Franzose Jean-My | |
Truong (Schlagzeug), der Saardeutsch-Franzose Siegfried Kessler und der | |
Bassist-about-town Didier Levallet. Drei superdichte Studio-Alben entstehen | |
in kurzer Zeit, ein Live-Album wird 1977 nachgeschoben. | |
Die Band Perception kann man immer noch allen empfehlen, die etwa auch die | |
mittlere Phase der britischen Jazzrockband Soft Machine mögen (drittes bis | |
fünftes Album): Es ist dieselbe Mischung aus giftig-elektrischem Free Jazz | |
und ambitionierten komponierten Anteilen mit einem eklektischen Interesse | |
an ganz anderen Sachen, zum Beispiel Minimalismus oder Folk. | |
Kessler widmet sich überwiegend neuen E-Piano-Modellen und schleppt, sein | |
altes Interesse an elektronischer Musik wiedererweckend, Ringmodulatoren | |
ins Studio. Auch die Perception-Alben werden damals auf Futura | |
veröffentlicht und sind nun dank Souffle Continu wieder verfügbar. | |
Die Band steht indes im Spannungsfeld zahlreicher anderer Aktivitäten der | |
Beteiligten. Seffer und Truong verkehren im Umfeld von Magma, der großen | |
französischen Fantasy-Jazz-Rock-Institution der 1970er, Seffer ist kurz | |
Mitglied, Truong und er spielen lange beim Magma-Offspring Zao. Levallet | |
und Kessler jammen hier und dort, begleiten alle möglichen Leute. | |
Doch dann kommt es 1977 zu einer weiteren entscheidenden Wende für Kessler: | |
Er wird zum Dauerbegleiter von [1][Archie Shepp]. Dieser – heute letzte – | |
Überlebende der heroischen Jahre des politisierten US-Free-Jazz beginnt | |
Ende der 1970er verstärkt, sich älteren [2][afroamerikanischen Traditionen | |
zuzuwenden, Blues und Hardbop]. Kessler macht vor allem Letzteres mit und | |
da weiter, wo seine Trioalben aufgehört haben: ein lyrisch geprügeltes | |
Klavier, gerne lakonisch hart, dazwischen irre sprudelnd. | |
## Anderen Menschen eine Schallplatte vorspielen | |
Auf seinem Boot, auf dem er die letzten Jahre seines Lebens gelebt hat, | |
konzertiert er nicht nur für die Dokumentaristin, er legt auch Platten auf. | |
Einem anderen Menschen eine Schallplatte vorspielen und diesen dann ansehen | |
– eine häufig erlebte Situation unter Musikliebhaber:innen, aktiv wie | |
passiv: Ich habe sie noch nie in einem Film gesehen. Das zeigende Gesicht – | |
besser als ein Warhol-Screen-Test. | |
Kessler legt „Ugetsu“ auf, sein absolutes Lieblingsstück, eine Komposition | |
von Cedar Walton, hier von diesem mit Art Blakey und seinen Jazz Messengers | |
aufgeführt, und schaut seine Interviewerin rührend erwartungsvoll an. Dann | |
zählt er seine Lieblingspianisten auf: Neben Walton sind das Horace Silver, | |
Tommy Flannagan, Bobby Timmons, Bill Evans, Jaki Byard und Herbie Hancock, | |
keine Freejazzer. | |
Kessler hat an der Seite von Shepp eine ganz bestimmte Tradition | |
freigelegt, die harte, genaue Spielweise, die das schüchtern verborgene | |
lyrische Element offenbar stärker herausfordert und wirkungsvoller zur | |
Geltung bringt als die schweifende Freiheit. | |
## Im Glitzeranzug übers E-Piano gebeugt | |
Während er dies mit Shepp entwickelt, meist auf Alben unter Shepps Namen, | |
aber einmal auch als Siegfried Kessler Trio featuring Archie Shepp (sehr | |
empfehlenswert: „Invitation“, 1979 mit „Ugetsu“ und Horace-Silver-Stüc… | |
arbeitete er mit der Tänzerin und Choreografin Maroussia Vossen, der | |
Adoptivtochter von Chris Marker („La Jetée“, „Sans Soleil“), an einer … | |
von aufsehenerregenden Performances. | |
Das 1985 gemeinsam mit Vossen und dem Bildhauer René Lunel entstandene | |
Stück „Nam“ ist der Höhepunkt dieser Phase. Auf alten Fotos sieht man | |
Kessler im Glitzeranzug übers E-Piano gebeugt, während Vossen mit | |
verrenkten Gliedmaßen im Halbdunkel an einer Metallskulptur festzukleben | |
scheint. | |
In den 1990ern werden die Veröffentlichungen seltener, noch nicht die | |
Live-Auftritte. Mehr und mehr zieht er sich auf sein Boot zurück, das | |
natürlich auch „Ugetsu“ heißt. Er rühmt sich seiner eisernen Gesundheit:… | |
rauche die stärksten Zigaretten der Welt, filterlose Boyard, will morgens | |
um 11 schon die erste Flasche Fernet Branca geleert haben, mittags Bourbon, | |
nachmittags Gin, und abends folgen fünf Flaschen Rotwein – ohne davon | |
Schaden zu nehmen. 2007 wird sein lebloser Körper im Hafenbecken von La | |
Grande Motte am Mittelmeer gefunden. | |
Yochk’o Seffer und Didier Levallet, mit denen Kessler die meisten seiner | |
insgesamt 74 Tonträger aufgenommen hat, widmen ihm 2011 ein sehr intensives | |
Album des Yochk’o Seffer 4tet, „Acèl Toll“; Seffer komponiert und spielt | |
eine furiose dreiteilige „Suite for Siggy Kessler“, Levallet begleitet am | |
Bass und verfasst eine Hommage an den Mann, der es geschafft habe, „dem | |
jugendlichen Überschwang seiner Mitstreiter durch einen generös geteilten | |
Reichtum an Harmonien einen Sinn zu geben“. | |
2 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Diedrich Diederichsen | |
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