| # taz.de -- Jazzconnection Madagaskar – Frankreich: Hardbop-Blues mit Bambus-… | |
| > Musiker aus Frankreich und Madagaskar schufen in den 60ern eine | |
| > florierende Jazzszene. Einige mitreißende Alben der Zeit sind wieder | |
| > erhältlich. | |
| Bild: Jef Gilson probt mit madegassischen Saxofonistenim „Jazz-Club de Tanana… | |
| Obwohl Madagaskar vor dem ostafrikanischen Kontinent liegt, ist es eines | |
| der am spätesten besiedelten Gebiete der Erde. Erst gegen 300 vor unserer | |
| Zeitrechnung kamen sowohl afrikanische Boote als auch solche, die den | |
| weiten Weg von Indonesien zurückgelegt haben, auf der großen Insel an. | |
| Einflüsse beider Siedlungsbewegungen sind in Kultur und Sprache bis heute | |
| nachweisbar. Im 18. Jahrhundert etablierte sich ein erstes zentral | |
| regierendes Königreich, das erst 1896 von den Franzosen nach mehreren | |
| gescheiterten [1][Kolonialisierungsversuchen] unterworfen wurde. | |
| Es gibt verschiedene madegassische Musikinstrumente, die auf | |
| südostasiatische wie auf südafrikanische Einflüsse schließen lassen. Das | |
| bekannteste ist die Valiha, eine Art Zither aus Bambusrohr, die etwa von | |
| dem großen [2][Rakotozafy], dem „Django Reinhardt der Valiha“ in den 1950er | |
| und 60er Jahren auch außerhalb der Insel ein wenig bekannt gemacht wurde. | |
| Es ist absurd und lustig, wenn man die einschlägigen ethnomusikalischen | |
| Compilations anschaut, bei denen die Stücke nicht irgendwelchen | |
| Künstler:innen, sondern „Stämmen“ und Ethnien zugeschrieben werden, und | |
| dann sind dazwischen drei Nummern, die einer Person zugeordnet werden: | |
| Rakotozafy. Del Rabenja und Sylvin Marc, zwei der wichtigsten Jazzer aus | |
| der madegassischen Diaspora in Frankreich, beziehen sich immer wieder | |
| explizit auf Rakotozafy. | |
| ## Notorisch unterbewertete Künstler | |
| Jef Gilson war ein französischer Jazzer, der schon mit 19 in der Band des | |
| Rive-Gauche-Dichters [3][Boris Vian] spielte und sich immer wieder neue | |
| Rollen ausdachte: Pianist, Labelmacher, Kritiker und Herausgeber einer | |
| Zeitschrift. Er coachte mit Jean-Luc Ponty, Michel Portal und Bernard Vitet | |
| gleich drei der nicht so zahlreichen international bekannten Größen des | |
| notorisch international unterbewerteten französischen Jazz. Ihn | |
| interessierte Avantgarde und Free-Jazz genauso wie glamouröse | |
| Bläserensembles. | |
| Er erfand sich als Bigband-Direktor und Großarrangeur, flirtete kurz mit | |
| Elektronik und „totaler Improvisation“ („Le Massacre du Printemps“), im… | |
| 1968 war er zufällig mit seiner damaligen Band in Madagaskar hängen | |
| geblieben. In vier Sessions mit den Franzosen und lokalen Musikern entstand | |
| „Gilson/Malagasy“, das er 1972 als erste Veröffentlichung auf seinem | |
| Palm-Label herausbrachte. Jetzt ist es von dem Pariser | |
| Reissue-Spezialistenlabel Souffle Continu wiederveröffentlicht. | |
| Dieses mitreißende Dokument einer beiderseitigen Faszination zwischen dem | |
| als Franzose nie ganz „authentischen“ Euro-Jazzer und den nie ganz | |
| südafrikanischen Madegassen steckt voller charmanter Details: Verschiedene | |
| Rhythmusauffassungen innerhalb der Gruppen, ein supereleganter | |
| Hardbop-Blues mit südafrikanischem Thema aus der Feder des madegassischen | |
| Tenoristen Serge Rahoerson treffen auf ein nach südafrikanischem Jazz | |
| klingendes Piece, das aber der mitgereiste Franzose Jean-Charles Capon | |
| komponiert hat. | |
| ## Suggestiv-ornamentale Percussion | |
| Nicht zum letzten Mal setzt Gilson seinen bewährten „Chant d’Inca“ ein, | |
| mühelos übernehmen hier die madegassischen Xylophone die nicht ganz | |
| unexotistisch gedachte Funktion suggestiv-ornamentaler Percussion – nur | |
| spielt die Gilson selbst. Während Roland de Cormamond, Spross der Familie, | |
| die jahrzehntelang das madegassische Label Discomad geführt hat, das neben | |
| Singles des erwähnten Rakotozafy Tausende globaler Rock- und Pop-Singles | |
| für den madegassischen Markt gepresst hat, am Altsaxofon das zentrale Stück | |
| der Sessions dominiert: [4][„The Creator Has a Master Plan“ von Pharoah | |
| Sanders]. | |
| Der afroamerikanische Free Jazz hatte ja in diversen Projekten demonstrativ | |
| den Weltmusikbegriff in den späten 1960ern neu besetzt: als | |
| afrodiasporisch-panafrikanische Begegnungsszenen, wie sie das Art Ensemble | |
| of Chicago ausagierte, die sich nun aber auch auf Indien, Bali und andere | |
| Weltteile beziehen sollten. Eine musikalisch-konventionellere Variante | |
| davon, mit liedhaften Themen und rollenden Grooves, auf expressive Gesten | |
| beschränkten Free-Jazz-Momenten, aber kaum weniger intensiven Zuschnitts | |
| war [5][Pharoah Sanders’ Arbeit] nach Coltranes Tod, zwischen 1967 und 1974 | |
| – und genau daran wollte Gilson anschließen. | |
| Sein Sinn für schmissige Eleganz sollte mit afroasiatischen Percussions und | |
| wohl gesetzten Momenten des Ausbruchs eine andere Formel eines | |
| multikontinentalen Jazz bilden, die an Pharoah Sanders ebenso anschloss wie | |
| an die Südafrikanisierung der britischen Szene im selben Zeitraum durch die | |
| in London exilierten Musiker um Dudu Pukwana, Louis Moholo und Chris | |
| McGregor. | |
| ## Diaspora der Multi-Instrumentalisten | |
| Doch wieder in Paris traf Gilson auf eine andere Gruppe bereits in der | |
| französischen Diaspora lebender Madegassen, denen er kurzerhand den | |
| Bandnamen Malagasy (= Madagaskar) übergab, den er ursprünglich für die Band | |
| in Antananarivo geprägt hatte. Diese Leute um den Valiha-Virtuosen Del | |
| Rabenja und den superamtlichen Bassisten, Arrangeur und | |
| Multi-Instrumentalisten Sylvin Marc hatten aber bereits eigene | |
| Vorstellungen. Auch von ihnen gibt es jetzt bei Souffle Continu zwei | |
| Wiederveröffentlichungen aus den frühen 1970er Jahren, eine mit und eine | |
| ohne Gilson, beide ursprünglich auf Gilsons Palm-Label erschienen. | |
| „Malagasy/Gilson at Newport“ ist ein Meisterwerk: Auf der Basis eines | |
| angefunkten „spirituellen“ Jazz brilliert nicht nur Gilson als Komponist | |
| zweier Eckpfeiler der ganzen Band. Zum einen mit „Salegy Jef“, eine auf | |
| traditionelle madegassische Melodik zurückgehende Ballade mit einem | |
| ausgeflippten Sylvin Marc, der E-Gitarre wie Vahila spielt, und mit | |
| „Requiem Pour Django“, das es an Formschönheit fast mit [6][Ornette | |
| Colemans „Lonely Woman“] aufnehmen kann und mit Django Reinhardt jenen | |
| Instrumentalisten ehrt, der genau wie Del Rabenja ein folkloristisch | |
| überliefertes Zupfen zu einer jazzmäßigen Eleganz erhoben hat. | |
| „Madagascar Now“ erschien als Album von Del Rabenja und Sylvin Marc, es | |
| spielt dieselbe Band, nur ohne Gilson. Sylvin Marc komponiert für die | |
| zweite Seite gleich drei sehr unterschiedliche Tenor-dominierte Stücke: | |
| eines funky, eines experimentell-smart mit Ornette-Anleihen und eine | |
| weitere kosmisch-spirituelle Pharoah-Sanders-artige Nummer. Alle Saxofone | |
| spielt Del. Die andere Seite wird von sagenhaften Valiha-Stücken dominiert. | |
| Die ständig die Instrumente wechselnde Band wärmt sich derweil für einen | |
| weiteren Höhepunkt auf, an dem sie dann 1974 beteiligt sein sollten. | |
| ## Leckerste Freejazz-Konstellationen | |
| Der aus Philadelphia stammende US-Saxofonist Byard Lancaster, der in den | |
| 1960ern an einigen der leckersten Free-Jazz-Konstellationen beteiligt war | |
| (in Bands von Sunny Murray, Larry Young, Marzette Watts oder Bill Dixon), | |
| gehörte Anfang der 1970er zur damals stetig wachsenden afroamerikanischen | |
| Free-Jazz-Diaspora in Paris. Zugleich unterschied er sich sowohl von den | |
| strengeren radikal Atonalen als auch von den spirituellen | |
| Coltrane-Verehrern durch seine Liebe zu Funk und einem weltlicheren Umgang | |
| mit dem Schilfrohrmundstück. | |
| Lancaster schnappte sich das hocheklektische Madegassenquintett, brachte | |
| mit dem AACM-Veteranen Steve McCall und dem – neben Gilson – anderen | |
| französischen Free-Jazz-Großkatalysator und Gesamtdenker François Tusques | |
| und deren Freunden eine Band zusammen, die mit „Funny Funky Rib Crib“ eine | |
| gewaltige zehnstimmige Crossovermomentaufnahme auf den Weg brachte. | |
| Über weite Strecken klingt das wie eine von James Brown verlassene (oder | |
| befreite) Monstersession der J.B.s, begleitet von dem madegassischen | |
| Funk-Ensemble; dazwischen versucht Lancaster sich an Stilbrüchen, etwa als | |
| Sänger einer veritablen Blues-Rock-Nummer. „Funny Funky Rib Crib“ erscheint | |
| erst 1979, fünf Jahre nach der Aufnahme und nach anderen Kollaborationen | |
| von Gilson mit der Madagaskarcrew, also neben Del Rabenja und Sylvin Marc | |
| mit Zizi Japhet, Frank Raholison und Gérard Rakotoarivony, und als letzte | |
| Veröffentlichung des Palm-Labels: Leider sind nur die hier erwähnten | |
| momentan erhältlich, der Rest ist vergriffen und weitgehend unbezahlbar. | |
| Auch andere spannende Künstler wie Jacques Thollot und der oft mit Gilson | |
| zusammenarbeitende Christian Vander von Magma haben das Label geprägt. | |
| Gilson hat seit den 1980ern nur noch wenig aufgenommen und starb 2012. 2017 | |
| hat ein Quartett mit Del Rabenja als Palm Unit sich auf einem Doppelalbum | |
| („Chant Inca“) seiner erinnert – mit Sanders’ „Masterplan“ als Fina… | |
| einigen atemberaubenden Vahila-Tracks von Rabenja. | |
| 10 Sep 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Diedrich Diederichsen | |
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