| # taz.de -- Doku „Misty“ über Pianist Erroll Garner: Der Mann, für den da… | |
| > Erroll Garner war ein genialer, früh verstorbener Jazzpianist. Und er war | |
| > ein Mann seiner Zeit – wie jetzt der Dokumentarfilm „Misty“ zeigt. | |
| Bild: Erroll Garner mit seinem Trio im Konzert in „Mysty“ | |
| Die bewegendste Szene dieses Musikfilms hat mit Musik nichts zu tun. Im Los | |
| Angeles der Gegenwart fährt ein Auto durch eine elegante Wohngegend, darin | |
| die etwa 70-jährige Rosalyn Noisette. Das Auto hält, die Frau öffnet das | |
| Fenster und schaut auf ein Holzhaus mit großem Vorgarten. „It’s very nice�… | |
| sagt sie mit träumerischem Blick. „Ich wette, das Dach hat keine Lecks.“ | |
| Welche Wege kann ein Leben nehmen? Wie wäre es verlaufen, wenn dieser Mann | |
| anders gehandelt hätte? Der Dokumentarfilm „Misty – The Erroll Garner | |
| Story“ ist das Porträt eines brillanten Jazzpianisten, sie stellt aber auch | |
| die ganz großen Fragen nach Verantwortung, nach Anerkennung, nach | |
| verpasster Liebe. | |
| Wie wäre mein Leben wohl verlaufen, wenn ich ohne Armut gelebt hätte, in | |
| einem Haus ohne Lecks, fragt sich Garners letzte Lebenspartnerin Rosalyn, | |
| die seit dessen Tod im Jahre 1977 offensichtlich schwere Zeiten | |
| durchgemacht hat. Antworten gibt es keine, der Film kommentiert mit der | |
| melancholischen Musik eines nach außen hin immer gut gelaunten Pianisten. | |
| Der Schweizer Filmemacher Georges Gachot ist ein Spezialist für feinfühlige | |
| Musikdokus. Er drehte Porträts über Martha Argerich und Claude Debussy und | |
| begab sich für [1][„Wo bist du, João Gilberto?“ auf die | |
| kunstvoll-bedächtige Suche nach einer Bossa-nova-Legende]. Ähnlich poetisch | |
| fällt „Misty“ aus, betitelt nach Garners gleichnamiger Ballade. Gachot hat | |
| viele Jahre daran gearbeitet, hat Weggefährten und Verwandte von Garner | |
| aufgespürt und ist wochenlang mit ihnen durch die USA gereist. | |
| Gachot verzichtet weitgehend auf klassische Interview-Szenarien; in | |
| kontrastreichem Schwarz-Weiß zeigt er eine Jamsession in Garners | |
| Geburtsstadt Pittsburgh. Bassist Ernest McCarty und Schlagzeuger Jimmie | |
| Smith sind betagte Herren, aber swingen können sie noch immer und mit Witz | |
| von ihrem Bandleader aus den Siebzigern erzählen. Er habe nie einen Song | |
| zweimal auf die gleiche Weise gespielt, sagt Smith. | |
| ## Klavierspielen fiel ihm so leicht wie das Atmen | |
| Erroll Garner, geboren 1921, war vor allem – hier passt das vielbemühte | |
| Adjektiv – genial. Er hatte sich, inspiriert von Art Tatum, das | |
| Klavierspielen selbst beigebracht, lernte nie Notenlesen. Das Klavierspiel | |
| schien ihm so leichtzufallen wie anderen das Atmen. Mit rasenden Fingern | |
| wechselte er in Sekundenbruchteilen von Swing zu Stride Piano, veränderte | |
| ständig das Tempo. Seine Begleiter wussten nie, was er spielen würde, nicht | |
| einmal die Tonart sagte der Mann mit der glänzenden Pomade-Frisur an. Das | |
| Magazin Newsweek nannte ihn den Mann, für den das Klavier erfunden wurde. | |
| Garners Virtuosität wurde nie zum Selbstzweck. Stets hatte er das Publikum | |
| im Blick. Die Doku zeigt ihn beim Spiel einer atemberaubenden Version von | |
| [2][„Yesterday“], eingängig, aber kitschfrei und herrlich verspielt. Solche | |
| Aufnahmen waren der Grund dafür, dass Garner zum ersten Jazzkünstler wurde, | |
| der mit einem Album mehr als eine Million Dollar verdiente: mit dem 1955 | |
| erschienen Live-Album „Concert by the Sea“. | |
| Die soliden Finanzen verdankte er auch seiner langjährigen Managerin Martha | |
| Glaser, einer Frau, die jeden Aspekt seines Lebens kontrollierte, ihren | |
| Klienten aber auch beschützte. Andere Stars seiner Zeit wie Louis Armstrong | |
| mussten gerade in den Südstaaten Hass und Hetze erdulden – Garner tourte | |
| dort nie. Rassismus? Habe er nie erlebt, sagt der Pianist in einem | |
| Fernsehinterview. Eine kaum glaubhafte Aussage. | |
| ## Privates war damals tatsächlich noch privat | |
| „Durch die Musik hat er sich ein Ventil für seine irdischen Zwänge | |
| verschafft“, sagt Bassist McCarty, „wir haben uns nur mit dem Himmlischen | |
| befasst.“ | |
| „Misty“ zeigt einige der vielen Fernsehauftritte des Pianisten, Garner | |
| schwitzt, lacht, seine Augen blitzen in die Kamera. Momente abseits der | |
| Bühne wurden kaum eingefangen; Garner bekommt Blumensträuße, Garner springt | |
| ins Taxi. Privates war damals tatsächlich noch privat. | |
| So bleibt der Klaviervirtuose ein perfekt gekleidetes Mysterium. „Ich mache | |
| happy music“, sagt er. Seine Familie versucht vergeblich, das Bild zu | |
| ergänzen. Er sei immer freundlich gewesen, habe einen Sinn für die Natur | |
| gehabt, so seine 30 Jahre jüngere Lebenspartnerin Rosalyn Noisette, die mit | |
| ihm in Los Angeles gelebt hatte. Aber er habe sich eben auch nie um den | |
| Papierkram gekümmert. So ging Rosalyn nach seinem überraschenden Tod im | |
| Jahr 1977 leer aus, das Erbe ging an Garners Managerin. Der Film zeigt eine | |
| zahnlose Rosalyn – kein Gebiss ohne Krankenversicherung. | |
| ## Die Vaterschaft bestritten | |
| Schwermütiger noch wirkt Tochter Kim; Erroll Garner hatte sie ein Leben | |
| lang verleugnet. Die Mutter bekam nach der Trennung in den Sechzigern 1.000 | |
| Dollar dafür, einen Vertrag zu unterschreiben, der die Vaterschaft | |
| negierte. Kim Garner konnte es erst Jahrzehnte später ertragen, die Musik | |
| ihres Vaters zu hören. | |
| So ist „Misty“ auch eine Gesellschaftsanalyse der Vereinigten Staaten im | |
| 20. Jahrhundert – und sogar im 21. Jahrhundert. Ungleich verteilte | |
| Vermögen, struktureller Rassismus, der vor allem Frauen mit geringer | |
| Berufsausbildung trifft – Themen, die die USA auch in den nächsten Jahren | |
| betreffen werden. | |
| „Kim Garner hat bis heute keinen Rappen vom Nachlass oder Tantiemen | |
| erhalten“, schreibt Gachot in einer E-Mail. Die Ex-Partnerin immerhin | |
| klingt gegen Ende des Filmes so, als habe sie ihren Frieden mit dem | |
| mysteriösen Jazzgenie gemacht. „So war eben die Zeit“, sagt Rosalyn. | |
| 27 Jan 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jan Paersch | |
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