| # taz.de -- Hamburger Archiv-Schätze gehoben: Jazz aus der Bomb Factory | |
| > Wilde Zeiten in Hamburg-Ottensen: Der NDR veröffentlicht neue alte | |
| > Konzertmitschnitte aus der „Fabrik“. Hörbar wird die Geschichte gelebter | |
| > Gegenkultur. | |
| Bild: Ausgegraben: Pianist McCoy Tyner war mit seinem Trio und dem Trompeter Fr… | |
| Hamburg taz | Pressekonferenzen in Ballsälen sind selten geworden. Zumal, | |
| wenn es darum geht, Neuigkeiten im Genre Jazz zu verkünden. Doch Joachim | |
| Becker hat offenbar gute Verbindungen zum schicken [1][Hotel „Atlantic“ an | |
| der Alster]. Also sitzt der Chef der Plattenfirma Jazzline über teurem | |
| Parkett unter Kronleuchtern und berichtet mit rheinischem Zungenschlag von | |
| seiner Begeisterung für eine norddeutsche Konzert-Location: „Alle von mir | |
| betreuten Künstler sagen das – [2][wenn Hamburg, dann Fabrik].“ | |
| Becker kümmert sich auf seinem Label um Jazzgrößen wie Randy Brecker, doch | |
| in einer neuen Reihe geht es um längst Verstorbene. Konzerte von Arrangeur | |
| Gil Evans und Pianist McCoy Tyner machen den Anfang bei „Live at Fabrik“. | |
| Gemeinsam mit NDR Kultur hat Becker das Archiv des Senders durchforstet und | |
| veröffentlicht nun erstmals Konzertmitschnitte aus den Achtziger- und | |
| Neunzigerjahren. | |
| 1986 existierte das Kulturzentrum Fabrik im Hamburger Stadtteil Ottensen | |
| schon 15 Jahre und hatte sich international als Liveclub etabliert. Die | |
| „Bomb Factory“, wie US-Bands die ehemalige preußische Munitionsfabrik | |
| nannten, war einfach lässiger als vergleichbar große Jazz-Locations. | |
| In der Musikhalle saß man und musste sich benehmen – an der Barnerstraße | |
| durfte man rauchen und Bier aus Gläsern trinken. Noch beim nachmittäglichen | |
| Soundcheck rasten Kinder auf ihren Rollschuhen durch den Zuschauerraum, | |
| neben der Bühne wurde getöpfert. | |
| ## Balladen zu Gläserklirren | |
| „Das war ein Schuppen – und zugleich ein Tempel.“ Stefan Gerdes’ Augen | |
| leuchten, wenn er von seinen ersten Konzerten in der Fabrik berichtet. Der | |
| Journalist, seit 20 Jahren Jazz-Redakteur beim NDR, erinnert sich daran, | |
| wie er als Teenager Anfang der Achtziger von Nordfriesland nach Hamburg | |
| trampte, um den Klarinettisten Michel Portal zu sehen. | |
| Damals durfte man in der Fabrik auf drei Ebenen stehen, weit über 1.000 | |
| Zuschauer*innen passten hinein. „Ich kenne das aus noch aus WGs in | |
| Einraumwohnungen – da hört man vorne immer, was hinten passiert“, so | |
| Gerdes. So manch sensibler Pianist fühlte sich beim Intonieren einer | |
| sensiblen Ballade durch Gläserklirren gestört. | |
| Ein Problem, das Gil Evans’ Band im Oktober 1986 nicht gehabt haben dürfte. | |
| Der kanadische Pianist und Komponist war zwei Jahre vor seinem Tod mit | |
| einer veritablen Allstar-Band zum jährlichen Jazz-Festival an die Elbe | |
| gereist. Evans leitete eine 16-köpfige Bigband, darunter Saxophonist Bill | |
| Evans und Gitarrist Hiram Bullock, dem es verblüffend gut gelang, sein | |
| Vorbild Jimi Hendrix zu emulieren. Nun wird der dreistündige Mitschnitt des | |
| Gil Evans Orchestra veröffentlicht. | |
| Kaum jemand habe so gut zur ursprünglichen Idee der Fabrik gepasst wie | |
| Evans, heißt es in den beigelegten Liner Notes. Evans wirkte mit langen | |
| Haaren und Stirnband wie „einer der Geisterbeschwörer aus den | |
| Künstler-Kommunen, die das alternative Amerika der 70er- und 80er-Jahre so | |
| stark geprägt haben“. | |
| Auf „Live at Fabrik“ beschwört Evans’ Band vor allem enorme Lautstärke | |
| herbei. Die Bigband rast durch ein elektrifiziertes Set mit mehreren | |
| Hendrix-Covern und beeindruckt mit instrumentaler Virtuosität. Zuweilen | |
| strengt der brachiale Fusion-Jazzrock mit überlangen Soli und gestrig | |
| wirkenden Synthesizer-Effekten an – das dürfte vor Ort besser gewirkt | |
| haben. | |
| Vinyl-Sammler*innen werden sich über die aufwendige Machart mit dreifachem | |
| Gatefoldcover freuen. Hier verteilen sich die acht Songs gleich auf sechs | |
| LP-Seiten. Joachim Becker räumt mit der Legende auf, dass eine LP umso | |
| besser klingt, je weniger Musik man pro Seite darauf presst: „Das ist | |
| Esoterik. Ein guter Toningenieur bekommt auch 28 Minuten ohne | |
| Qualitätsverlust auf eine LP-Seite.“ | |
| ## Noch etliche Perlen im Archiv | |
| Ohne Verluste ging es nicht zu, während Becker und Gerdes die mehr als 700 | |
| Mitschnitte auf analogen Bändern im NDR-Archiv sichteten. Digital ließen | |
| sich diverse Aufnahmefehler korrigieren, doch fehlte es oft an den nötigen | |
| Rechten, um die Konzerte kommerziell verfügbar zu machen. | |
| Eine Lizenz für Konzerte des 1991 verstorbenen Trompeters Miles Davis? | |
| Unmöglich. Doch Becker macht Hoffnung, dass zumindest sagenumwobene | |
| Auftritte von Saxofonist Maceo Parker und Keyboarder Joe Zawinul aus den | |
| Nullerjahren bald veröffentlicht werden können. Im Herbst folgen zunächst | |
| Mitschnitte von Eddie Harris und den Brecker-Brüdern. | |
| [3][In den Archiven] dürften noch etliche Audio-Perlen lagern – auch wenn | |
| sie heute ohne politische Bedeutung sind. War die Fabrik einst Inkubator | |
| einer alternativen linken Bewegung? Zumindest ist die Kinder- und | |
| Jugendarbeit in dem ehemaligen Arbeiterviertel Altona bis heute wichtig. | |
| Und neben Rappern und Electro-Poppern treten noch immer Liedermacher wie | |
| Frederik Vahle und Hans Söllner unter dem markanten Glasdach auf. Seltener | |
| gibt’s in der Fabrik des Jahres 2022 auch Jazz zu hören. Immerhin: Am 5. | |
| Mai [4][spielt die NDR Bigband]. | |
| 17 Apr 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Udo-Lindenberg-wird-75/!5767200 | |
| [2] /Punksaenger-Rachut-ueber-Altonas-Fabrik/!5710929 | |
| [3] /Archiv-Suche/!5389980/ | |
| [4] https://fabrik.de/veranstaltungsdetail/ndr-bigband-meets-nikki-iles-406 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Paersch | |
| ## TAGS | |
| Jazz | |
| Hamburg | |
| NDR | |
| Konzert | |
| Ottensen | |
| Kulturzentrum | |
| Luxussanierung | |
| Jazz | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schlager | |
| Jazz | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Räumungsklage gegen WGs: Immobilienhai schnappt Fabriketage | |
| In einem Hinterhof in Hamburg-Ottensen haben zwei WGs aus alternativen | |
| Urzeiten überlebt. Der neue Eigentümer will damit Schluss machen. | |
| Legendäres Jazz-Album „Epitaph“ aufgeführt: Liebe zu den Möglichkeiten | |
| Ein Konzert als Porträt eines Künstlers: In der Berliner Philharmonie wurde | |
| „Epitaph“, das Opus magnum des Jazzbassisten Charles Mingus, aufgeführt. | |
| Jazzclub-Betreiber über Corona: „Wir brauchen staatliche Förderung“ | |
| Im Hamburger Birdland gibt es nun wieder Jazz vor Publikum. Betreiber Wolff | |
| Reichert über das Besondere an dem Club – und wie es weitergehen soll. | |
| Sänger Bill Ramsey ist tot: Jazz in der Bauchtanztruppe | |
| Der Schlager brachte ihm Ruhm, doch seine Liebe galt schon immer Jazz, | |
| Swing und Blues: Eine Würdigung zum Tod des Sängers Bill Ramsey. | |
| Black American Music: Der Sound der Höhle | |
| Seit 1986 ist das „Onkel Pö“ in Hamburg dicht. Doch legendäre Konzerte wie | |
| das von Chet Baker oder Dizzy Gillespie leben dank Mitschnitten wieder auf |