# taz.de -- Black American Music: Der Sound der Höhle | |
> Seit 1986 ist das „Onkel Pö“ in Hamburg dicht. Doch legendäre Konzerte | |
> wie das von Chet Baker oder Dizzy Gillespie leben dank Mitschnitten | |
> wieder auf | |
Bild: Dizzy Gillespie trat 1978 im Onkel Pö's auf. | |
In dieser Musik geht es um Musik, Musik, und nur um Musik. Das ist das | |
Schöne. Auch wenn sie selbstverständlich ein Produkt ihrer Gesellschaft, | |
die in ihr mitklingt, war und ihr Untergang mit deren technologischen | |
Fortschritt zu tun hatte. Denn, [1][wenn es stimmt, dass die Handmühle eine | |
Gesellschaft mit Feudalherren und die Dampfmühle] industrielle Kapitalisten | |
ergibt, dann hat die Entwicklung der [2][aktiven Subwoofer] für | |
P.A.-Anlagen das Ende von Onkel Pö’s eingeläutet: Technische Entwicklung | |
bestimmt den Klang der Welt, der andere Klänge verdrängt und übertönt und | |
nahezu unhörbar macht. | |
Für Bands und ein Publikum, die an einen elektronisch über Monitor mit der | |
Bühnenperformance verschmolzenen Raumklang gewöhnt sind, kann der Sound in | |
einer Art Höhle nicht mehr angemessen gewesen sein. Eine Musik, die | |
einhüllt, umfängt und bewegt, die aber eben sich selbst nicht das | |
wichtigste ist, löst also eine andere ab, in der sich das Individuum | |
ausspricht, die großen, tragischen Helden und die Genies. | |
Und die hatten eine Bühne bis 1986 an der spitzen Ecke, wo der Lehmweg und | |
der Eppendorfer Weg aufeinanderstoßen: Das Lokal dort hat einen | |
kegelförmigen Grundriss, und die Wände im Pö’s waren mit Holz-Paneelen | |
verkleidet, „das ergab eine unheimlich tolle Akustik“, sagt der frühere | |
Betreiber Holger Jass. Und dann die Enge. Die Konzerte dort müssen | |
unwiederbringliche Ereignisse gewesen sein; eine Ahnung von ihnen | |
vermitteln die Mitschnitte des NDR: Fünf davon liegen mittlerweile auf neun | |
CDs vor, die im Jazzline-Label von Delta-Music erschienen sind. | |
Hat es möglicherweise mit der Dauer der einzelnen Takes zu tun, dass es | |
erst jetzt, mehr als drei Jahrzehnte nachdem die letzte Note klagend | |
ausvibriert ist, diese Mitschnitte veröffentlicht werden? Auf die | |
Bedingungen in der Schallplattenproduktion oder Formatradio-Sendeslots | |
jedenfalls haben diese Künstler keine Rücksicht genommen: Das freie Spiel | |
der Töne und Melodiebögen ist alles, dem sie sich verpflichtete fühlten. | |
Zwei CDs waren nötig, um den Chet Baker-Auftritt von 1979 wiederzugeben. | |
Dabei lässt er seine Trompete an jenem Abend nur durch fünf Titel schweben. | |
Bloß dauert der kürzeste von denen noch immer über 13 Minuten. „You Can’t | |
go Home again“ wirkt, ein Jahr nachdem Baker sich endgültig für Europa und | |
fürs Heroin entschieden hatte, wie eine klare autobiografische Ansage, | |
jenseits von Gut und Böse, abhängig und frei: Klänge wie aus weißem Licht. | |
Die Konzerte, die der NDR in den 1970er-Jahren mitgeschnitten hat, sind | |
Feste der Freiheit des Einzelnen, der Spontanität des Virtuosen und Beweise | |
der Emanzipation. Denn „Onkel Pö’s Carnegie Hall“, so der selbstironische | |
vollständige Name, war einer der angesagtesten Jazzclubs der Welt. Oder | |
wenigstens Europas oder doch neben Dennis’ Swing Club in der | |
Papenhuderstraße, drüben in Uhlenhorst, wo Ella Fitzgerald einmal gesungen | |
hat und auch Harry Belafonte, sicher der wichtigste in Hamburg. Damals, | |
ach!, wie lange liegt das alles zurück. | |
Mit wehmütig-nostalgischem Blick hat vergangenes Jahr der Regisseur Oliver | |
Schwabe dem Pö als der „Höhle von Eppendorf“, ein filmisches Denkmal | |
gesetzt, mit versonnen lächelnden Altherrenköpfen – und die erzählen die | |
Geschichte der Kneipe als eine Star-Parade. Ja, ja, Al Jarreau war dort | |
erstmals diesseits des Atlantiks aufgetreten, am 12. März 1976, seinem 36. | |
Geburtstag. Otto Waalkes hat im Pö’s bei Udo Lindenbergs frühen Konzerten | |
als Pausenclown für Furore gesorgt. Joe Cocker trat hier trotz Stromausfall | |
auf. Ich hab mein Bein in Stalingrad verloren. | |
Aber manchmal muss man eben in der Vergangenheit schwelten. In Hohe Luft | |
war man dabei stilistisch zudem weniger festgelegt als in Uhlenhorst: | |
Später haben dort auch jazzferne Gruppen wie U2 gespielt, Talking Heads, | |
Trio und auch örtliche Newcomer-Bands durften sich auf der Bühne versuchen, | |
die von den Berühmten und Abgefuckten geheiligt worden war: Chet Baker, | |
Johnny Guitar Watson oder eben Dizzy Gillespie, der Erfinder des Bebop, der | |
Mann mit der verbogenen Trompete und der Ochsenfroschblastechnik. | |
Alle schwärmen ja immer vom coolen Baker, man kann ihn auch nur lieben, | |
aber ohne Gillespie wäre es mit ihm in den 1970er-Jahren vorbei gewesen. | |
Auch musikalisch ist der dann vermutlich doch die wichtigere Figur gewesen, | |
offener, umtriebiger – jemand, der vielleicht weniger dem perfekten Klang | |
nachjagt und sich mit ihm von der Welt abschließt, sondern mehr ihre | |
kommunikativen Möglichkeiten auslotet und erweitert. | |
Deshalb scheint sein Konzert auch nach fast 40 Jahren aus der Konserve | |
genossen noch immer das lebendigste geblieben: Es gibt auch Momente des | |
Smalltalks mit dem Publikum, Dizzy switcht von Witz zu Ernst und zurück, so | |
wie auch seine Präsidentschaftskandidatur 1964 eben nur halb spaßig gemeint | |
war: Klar, er betrieb sie ohne Aussicht auf Erfolg, nur, „weil ein guter | |
Präsident den Willen zum Swing“ haben und die Politik einfach groovyer sein | |
müsse. | |
Aber es erinnert doch daran, dass in jener Zeit die Größen der Black | |
American Music echte Weltstars waren, die in Eskapaden den Rock und | |
Pop-HeroInnen in Nichts nachstanden. Und Personen des öffentlichen Lebens | |
waren, deren Taten und Worte infolge ihrer Prominenz Gewicht hatten. | |
Gillespie war jemand der erkannt und erfahren hatte, dass er diese | |
politische Dimension seines Auftretens – mindestens, um nicht fremdbestimmt | |
zu werden – annehmen und kultivieren musste. Und so lässt er das Publikum | |
in Hamburg über ein paar Worte gegen Rassenhass jubeln, schiebt ein paar | |
Worte gegen Judenhass nach, und fängt dann an zu spielen: „The Land of Milk | |
and Honey“ ist damals ein neues Stück, ungewohnt in seinem von Zäsuren | |
geprägten, blockhaften Refrain, ein wenig wie die Fanfaren aus | |
Sandalenfilmen, nur freilich viel subtiler, im Hintergrund meint man | |
zwischendurch Gläser klirren zu hören und die Luft vorm CD-Player wird | |
rauchig. | |
Später bläst Gillespie noch seinen längst zum Standard avancierten | |
1940er-Jahre-Hit „A Night in Tunesia“, ein Klassiker des Bebop: Die Songs | |
sind selbst Statements, wenn auch keine politischen Forderungen oder | |
Botschaften. Nie habe man sich gesagt, komm’ „let’s play eight bars of | |
protest“, lass uns acht Takte Protest spielen. Man sei aber, indem man die | |
eigene Musik gespielt hat, „die unsere Identität proklamiert hat“ eine | |
„avantguard of social change“ gewesen – eine Avantgarde des | |
gesellschaftlichen Wandels. So hat das Gillespie in seiner Autobiografie | |
„To Be Or Not To Bop“ 1979 geschrieben. Es ist klar, dass der auch ein | |
Wandel der Technologie war – und dessen treibende Kraft Musik war, Musik, | |
Musik, Musik. | |
29 May 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_125.htm | |
[2] https://www.hdm-stuttgart.de/~curdt/PA-Technik.pdf | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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