# taz.de -- Hitlerputsch vor 100 Jahren: Das Porträt muss größer | |
> Im November 1923 griff Adolf Hitler in München zum ersten Mal nach der | |
> Macht. Der Antisemitismus war stark, die Verfolgung der Putschisten | |
> schwach. | |
Bild: SA-Truppen aus dem Umland kommen in München während des sogenannten Hit… | |
Eigentlich war für den Führer nur eine Nebenrolle vorgesehen. Denn das, was | |
in die Geschichtsbücher als „Hitlerputsch“ einging, war weder allein und | |
zuerst von Hitler geplant worden, noch sollte der Umsturzversuch auf | |
München und Bayern beschränkt bleiben. Mit dem, was am 8. November 1923 in | |
München nach einer Bierkellerrede begann und am 9. November nach einem | |
Marsch in einem Feuergefecht mit 20 Toten vor der Feldherrnhalle endete, | |
kam Hitler den anderen Verrätern nur zuvor. | |
Ein „Marsch auf Berlin“ nach Vorbild des faschistischen italienischen | |
Diktators Benito Mussolini, der 1922 von Südtirol aus nach Rom marschiert | |
war, schwebte rechtsgerichteten Kreisen auch außerhalb Bayerns vor. Manche | |
sprachen auch von einer „Angora-Lösung“, nach Vorbild Atatürks, der im | |
April 1920 von Angora (dem heutigen Ankara) aus das damals in Istanbul | |
ansässige türkische Parlament stürzen wollte. | |
In Bayern wurde mobil gemacht gegen das „jüdische und marxistische | |
Sündenbabel“ Berlin, die Reichshauptstadt, in der der „Versailler | |
Schmachfrieden“ von den „Novemberverbrechern“ umgesetzt wurde, so die | |
Diktion der Ultrarechten. Mit Verschwörungstheorien formten sie aus den | |
Bemühungen der Republik, als Teil des Friedensabkommens von 1918 den | |
Reparationszahlungen an die Alliierten nachzukommen, freche Lügen. | |
## Ludendorffs Dolchstoßlegende | |
Hitlers prominentester Mitverschwörer am 8. November 1923, General Erich | |
Ludendorff, gehörte bis 1918 zur Obersten Heeresleitung und war | |
mitverantwortlich für die deutsche Kriegsführung im Ersten Weltkrieg. Statt | |
dafür Verantwortung zu tragen, setzte Ludendorff die Dolchstoßlegende in | |
die Welt, wonach jüdische und sozialdemokratische Kreise dem „unbesiegten“ | |
deutschen Heer im November 1918 mit den Versailler Friedensverhandlungen in | |
den Rücken gefallen seien. | |
In Bayern nährte Gustav Ritter von Kahr diese Lüge und wirkte als | |
Ministerpräsident aktiv mit an der Schaffung eines demokratiefeindlichen | |
Klimas. Der Königstreue hatte bereits im September 1923 konkrete Pläne, die | |
Reichsregierung von Stresemann in Berlin zu stürzen, und konnte sich auf | |
namhafte Mitverschwörer in Militär und Wirtschaft verlassen. | |
Am Abend des 8. November hielt von Kahr im Bürgerbräukeller die Rede „Vom | |
Volk zur Nation“, bis Hitler, mit einer Pistole herumfuchtelnd, mit seinen | |
Leuten den Saal stürmte und ihm das Zepter für 24 Stunden entriss. Die SA | |
hatte bereits an jenem Abend jüdische Münchner in einem Nebenraum des | |
Bürgerbräukellers eingesperrt und zusammengeschlagen, am nächsten Tag traf | |
es SPD-Bürgermeister Eduard Schmid und weitere linke Münchner:innen. | |
Als Ministerpräsident (von 1920–1921) entwickelte von Kahr Bayern im | |
Eiltempo zur „Ordnungszelle“. [1][Mit diktatorischen Maßnahmen behielt er | |
den nach der Räterepublik verkündeten Ausnahmezustand bei. So orchestrierte | |
er 1920 eine Kampagne gegen „Ostjuden“ und ließ Hunderte von ihnen aus | |
Bayern ausweisen.] Juden, die während der Münchner Räterepublik wichtige | |
Positionen erlangt hatten, waren von Kahr und der gesamten Rechten | |
verhasst: [2][Weder passte ihnen die pazifistische Gesinnung der Räte noch | |
deren Eingeständnis der deutschen Kriegsschul]d. | |
Nach der brutalen Niederschlagung der Münchner Räterepublik im Mai 1919 | |
wurden diejenigen, die [3][unter den Linken an die 2.000 Menschen | |
massakriert hatten], von der Justiz nicht zur Verantwortung gezogen. Die | |
Freikorps lösten sich nur zum Schein auf. Um der im Versailler | |
Friedensvertrag festgeschriebenen Demilitarisierung zu entgehen, | |
deklarierten sie sich um zu vaterländischen Vereinen, gaben zur Tarnung | |
wenige Gewehre ab und schlossen sich unter Duldung von Polizei mit | |
völkischen Ideologen zu einem Staat im Staate zusammen. | |
## Straßenterror war Teil der Bewegung | |
Antisemitische Hetze und Straßenterror waren von Anfang an Teil der | |
Bewegung. „Oberbayern wurde […] in ein Waffenlager verwandelt“, schreibt | |
der Historiker Wolfgang Niess in seinem Buch „Der Hitlerputsch 1923“ (C. H. | |
Beck, München 2023). Geheime Arsenale wurden auf adeligen Landsitzen, in | |
Einödhöfen und Klöstern angelegt. | |
Politisch ging die bayerische Regierung auf separatistischen | |
Konfrontationskurs mit Berlin, egal ob in der Steuerpolitik oder bei der | |
Demilitarisierung, die noch auf tönernen Füßen stehende demokratische | |
Grundordnung der Weimarer Republik wurde bekämpft. Dabei gelang es der | |
Berliner Regierung, der zu jener Zeit grassierenden Inflation mit einer | |
Reihe von Maßnahmen entgegenzuwirken. Doch die gehorteten Waffen der | |
Rechten kamen bald zum Einsatz: Etwa am 26. August 1921, als der ehemalige | |
Reichsfinanzminister Matthias Erzberger im Schwarzwald ermordet wurde. | |
Die Spur von Erzbergers Mördern führte nach München, wo der ehemalige | |
Reichswehroffizier Hermann Ehrhardt aus seinem Freikorps die Organisation | |
Consul (OC) geformt hatte. Nicht nur Politiker, auch die bayerische | |
Bevölkerung wurde von Fememorden eingeschüchtert, gefährdet waren etwa | |
Frauen und Männer, die von den Waffenlagern wussten. Die OC war „nach | |
heutigem Rechtsverständnis […] eine terroristische Vereinigung, die aus | |
nationalistischen Motiven schwerste Verbrechen verübte“, schreibt Wolfgang | |
Niess. Die Täter für den Mord an Erzberger wurden zwar ermittelt, aber die | |
Münchner Polizei verhalf ihnen aktiv zur Flucht nach Ungarn. | |
Der mittellose Postkartenmaler Adolf Hitler war bereits 1913 von Wien nach | |
München übergesiedelt. Es ist nicht bekannt, wie er es schaffte, sich im | |
Ersten Weltkrieg bei dem bayerischen Militär anzudienen. Nach Kriegsende | |
konnte Hitler beim Militär bleiben und wurde 1919 V-Mann, der ausspionieren | |
sollte, ob es unter bayerischen Soldaten noch Revolutionäre gab. Im Zuge | |
dieser Arbeit absolvierte Hitler Rednerkurse an der Münchener Universität | |
und kam in Kontakt mit dem national-konservativen Historiker Karl Alexander | |
von Müller. | |
## München Hochburg der Antisemiten | |
München war schon vor 1914 eine Hochburg von Antisemiten und völkischen | |
Ideologen. Hitler setzte sich in diesem in den 1920ern blühenden Milieu nun | |
fest und trat in die DAP ein, eine rechtsradikale Kleinpartei, die er als | |
V-Mann zunächst observierte. Bald findet Hitler Gönner:innen in höchsten | |
Kreisen, etwa in Helene Bechstein, Gattin des Klavierfabrikanten Edwin | |
Bechstein. Von Müller charakterisierte Hitler als kuriose Erscheinung: | |
„Durch die offene Tür sah man, wie er […] die Gastgeberin fast unterwürfig | |
höflich begrüßte, wie er Reitpeitsche, Velourhut und Trenchcoat ablegte, | |
schließlich einen Gürtel mit Revolver abschnallte. Das […] erinnerte an | |
Karl May.“ | |
Auch der Schriftstellerin Paula Schlier ist Hitler in jener Zeit begegnet. | |
Schlier, die aus Ingolstadt stammte und durch ihre ältere Schwester, eine | |
Klassenkameradin von Marieluise Fleißer, zur Pazifistin wurde, | |
veröffentlichte 1926 den neusachlichen und von heute aus feministisch zu | |
lesenden Coming-of-Age-Roman „Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer | |
Jugend nach dem Diktat der Zeit“. Ein Kapitel des autobiografisch | |
inspirierten Werks dreht sich um eine Stenotypistin, die in den Monaten vor | |
dem Hitlerputsch in der Redaktion des NSDAP-Parteiorgans Völkischer | |
Beobachter arbeitet und darüber Tagebuch führt. | |
Chefredakteur Dietrich Eckart diktiert der Protagonistin im Brüllton: | |
„Adolf Hitler – gesperrt schreiben: Hitler! – wird sprechen in vierzehn | |
großen Massenversammlungen über den Verrat, nein, schreiben Sie, den | |
schändlichen, nein noch einmal, den verruchten, schändlichen Verrat – | |
gesperrt schreiben.“ Wenig später schaut Hitler – im gelben Gummimantel – | |
selbst in der Redaktion vorbei und verlangt, sein Porträtfoto müsse | |
vergrößert werden. Er „brüllt, noch lauter als E. […] mit Gebärden, als | |
wolle er den ganzen Raum durchfegen.“ | |
Alles Cholerische half nicht, Hitlers dilettantisch durchgeführter | |
Putschversuch im November 1923 scheiterte kläglich. Nach Verbüßung seiner | |
Haftstrafe hätte er nach Österreich abgeschoben werden müssen. Das | |
unterließ die bayerische Justiz, wie auch ihr Prozess gegen Hitler und die | |
anderen Hochverräter im Jahr darauf zur Farce geriet. Von Kahr und andere | |
Rechte sorgten dafür, dass sie im Prozess nicht als Mitwisser belangt | |
wurden. Hitler ließ von Kahr im Zuge des Röhm-Putsches 1935 umbringen. | |
Paula Schlier überlebte die Nazidiktatur und eine zeitweilige Gestapohaft | |
übrigens in Tirol. Ihr Roman wurde erst 2018 von dem Salzburger Otto-Müller | |
Verlag wiederveröffentlicht. | |
Zu Lebzeiten bemühte sie sich in den 1950ern und 1970ern vergeblich darum, | |
dass aus dem Kapitel über ihre Zeit als Stenotypistin ein Hörspiel beim | |
Bayerischen Rundfunk wird. [4][Das realisiert der BR nun endlich]. | |
## Was sind die Lehren aus dem Hitlerputsch? | |
Was sind die Lehren aus dem Hitlerputsch? Mit Blick auf die vereitelten | |
Umstürze von Reichsbürgern gilt: Geschichte darf nicht in Vergessenheit | |
geraten, damit sie sich auf keinen Fall wiederholt. Demokratie ist kein | |
Selbstzweck und muss jeden Tag gegen ihre Feinde verteidigt werden. | |
Für Bayern, [5][das nun erneut von dem Naziflugblattverteiler und | |
Winnetou-Freund Hubert Aiwanger und seinen Freien Wählern in einer | |
Koalition mit der CSU regiert wird], brechen unruhige Zeiten an. Eine | |
erstarkte AfD wird die Arbeit im Landtag erschweren. Vor der ersten Sitzung | |
im Landtag wurde dem rechtsextremen AfD-Abgeordneten und ehemaligen | |
Messdiener Daniel Halemba am 8. Oktober die Immunität entzogen, weil ein | |
Haftbefehl gegen ihn vorlag. | |
Anders als in Berlin können sich Juden in Bayern sicher fühlen, erklärte | |
der bayerische Innenminister Joachim Herrmann vergangenen Samstag im | |
Bayerischen Rundfunk mit Nachdruck. Zuvor hatte eine jüdische Münchnerin | |
erklärt, sie traue sich angesichts der propalästinensischen Demonstrationen | |
seit 7. Oktober nicht mehr auf die Straße. Hubert Aiwanger hatte für den in | |
muslimischen Milieus anzutreffenden Antisemitismus erst kürzlich pauschal | |
die Migration verantwortlich gemacht. Mit dieser Aussage konfrontiert, | |
lobte CSU-Innenminister Herrmann immerhin die differenzierte Rede von | |
Robert Habeck. Auf Aiwangers Aussage ging er dagegen nicht näher ein. | |
8 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Antisemitismus-in-Muenchen-1918-23/!5654560 | |
[2] /100-Jahre-Freistaat-Bayern/!5544530 | |
[3] /Fund-von-Gerichtsakten-im-Fall-Landauer/!5588911 | |
[4] https://www.br.de/presse/inhalt/pressemitteilungen/dokumentation-und-podcas… | |
[5] /Hubert-Aiwangers-Wahlprogramm/!5957786 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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