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# taz.de -- Antisemitismus in München 1918-23: Bedrohung mit System
> Der Historiker Michael Brenner hat den Antisemitismus der 20er Jahre in
> München untersucht. Der radikalisierte sich mit der Niederschlagung der
> Räterepublik.
Bild: Hitlers Leibwächter, „Stosstrupp-Hitler“ verhaftete am 9.11. 1923 so…
„Im Kaiserreich war München demokratisch und das Asyl all derjenigen im
Norden als revolutionär verschrienen Elemente, die der Unduldsamkeit
norddeutscher Polizeiorgane weichen mussten. Jetzt ist wiederum München
deutscher Asylort. Aber nun für die Vertreter jener alten preußischen
Junkerherrschaft, gegen die die Bayern früher nicht genug Sturm laufen
konnten.“
Dass Verhältnisse wandelbar sind und politische Systeme nicht unumstößlich,
ist heute, angesichts von Frieden seit Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 und
der gefestigten bundesdeutschen Demokratie, schwierig zu vermitteln.
Obiges Zitat aus der Vossischen Zeitung vom Oktober 1923 belegt nur, wie
rasch sich das Gesellschaftsgefüge Münchens verändert hatte, von einer
modernen, kulturaffinen, in Teilen liberalen Großstadt mit dem
Kulminationspunkt Schwabing bei der Ausrufung der [1][Münchner Räterepublik
am 7. November 1918] über deren brutale Niederschlagung im Mai 1919 und der
Errichtung des reaktionären Regimes durch Gustav von Kahr und der
sogenannten „Ordnungszelle Bayern“ 1920/21 bis zum faschistischen
„Hitlerputsch“ wenige Tage nach Publikation jenes Artikels am 9. November
1923. Das Zitat findet sich in Michael Brenners Studie „Der lange Schatten
der Revolution“, der ebendiesen fünfjährigen Zeitraum beleuchtet.
Ihr Untertitel „Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923“ ist
allerdings etwas irreführend. Der Österreicher Hitler lebte zwar seit 1913
und dann ab 1918 erneut in der Stadt. Er war wie viele andere vom Ersten
Weltkrieg versehrte Soldaten extrem antisemitisch geprägt. In den Monaten
der Räterepublik trat er jedoch noch nicht politisch in Erscheinung.
Mutmaßlich erledigte er für das bayerische Militär Spitzeldienste und
überwachte pazifistische Aktivisten. Seine Spuren im München von 1918/19
sind spärlich und der Autor geht auch nur am Rande auf diese ein.
## Aktiv gegen Diskriminierung
Was Brenner in „Der lange Schatten der Revolution“ jedoch sehr überzeugend
darstellt, sind die allgemeinen antijüdischen Tendenzen in Bayern, die
bereits vor dem Ersten Weltkrieg virulent sind und nach dem gewaltsamen
Ende der Räterepublik verstärkt hervortreten. Warum Juden so zahlreich in
den Räten aktiv waren, hat mit ihrer gesellschaftlichen Diskriminierung zu
tun: „Viele von ihnen erblickten im Sozialismus eine Möglichkeit, ihrer
eigenen sozialen Notlage zu entkommen“, schreibt Brenner.
Ab 1871 waren sie im Deutschen Reich zwar rechtlich gleichgestellt und auch
in den Parlamenten vertreten, wurden aber nur im linksliberalen und linken
Lager akzeptiert. Vor 1914 gab es bei den Sozialdemokraten die meisten
jüdischen Abgeordneten, während die Mehrheit der jüdischen Wähler für
konservative Parteien stimmte. Auch in München und Bayern war die große
Mehrheit der jüdischen Bürger konservativ eingestellt und betrachtete die
Entwicklungen nach der Ausrufung der Räterepublik mit Sorge.
Als sich Kurt Eisner am 7. November 1918 zum Ministerpräsidenten Bayerns
ernannte und den Freistaat begründete, wurde er damit überhaupt zum ersten
jüdischen Repräsentanten an der Spitze eines deutschen Landes. Sofort wurde
er mit antisemitischer Hetze überzogen. Thomas Mann schrieb im Frühjahr
1919 vom „Typus des russischen Juden, des Führers der Weltbewegung, dieser
sprengstoffhaften Mischung aus jüdischem Intellektual-Radikalismus und
slawischer Christus-Schwärmerei“. Und verlangte, mit „standrechtlicher
Kürze gegen diesen Menschenschlag“ vorzugehen.
Manns antisemitische Einlassung wirkt angesichts von völkischen Hetzern,
die den gebürtigen Berliner Journalisten und Politiker Eisner und den
gebürtigen Karlsruher Philosophen [2][Gustav Landauer] unisono als
„galizische Juden“ verunglimpften, eher noch gemäßigt. Wie Brenner anhand
von Zahlen belegt, lebten damals wenige Hundert aus Galizien eingewanderte
Juden in München, die dann zum Teil tatsächlich aus Bayern ausgewiesen
wurden. Sie hielten als Feindbild her.
## „Landfremde Elemente“
Verunglimpfung und Bedrohung hatten System. Sofort wurden die
[3][Räterevolutionäre] in der völkischen Propaganda als „landfremde
Elemente“ bekämpft. Auch nach Niederschlagung der Räterepublik blieben die
Stereotype: Vergewaltiger, Wucherer, Christusmörder, das ganze Arsenal
antisemitischer Begriffe kam zum Einsatz. Brenners Buch liefert viele
unappetitliche Fundstücke: So stürmten rechte Studenten im Dezember 1919
eine Aufführung von Frank Wedekinds Theaterstück „Schloss Wetterstein“ in
den Münchner Kammerspielen, verprügelten jüdisch aussehende Besucher:innen,
riefen „Hurenstall“ und „jüdische Schweinebande“.
Die Polizei ließ daraufhin das Stück absetzen, nicht etwa die Schläger
verfolgen. Münchens Weg hin zur „Hauptstadt der Bewegung“ verdeutlicht
Brenner mit zahlreichen Fakten. Ursache (Aussagen von rechten Politkern)
und Wirkung (Gewalt) werden anschaulich. Bereits im September 1923 wurden
Juden in München auf offener Straße verprügelt, werden Synagogenfenster
zerdeppert. Zu diesem Zeitpunkt hatten viele prominente Schriftsteller und
Künstlerinnen die Stadt bereits Richtung Berlin verlassen.
Was „Der lange Schatten der Revolution“ abhebt von den bisherigen Analysen
der Räterevolution, ist ein Perspektivwechsel, den sein Autor, Professor
für Jüdische Geschichte in München und Direktor des Center for Israel
Studies in Washington, vornimmt. Michael Brenner zeigt „zumeist
ausgeblendete Aspekte“, etwa, wie heterogen die jüdische Bevölkerung der
bayerischen Landeshauptstadt war.
In München lebten Zionisten, Liberale, aber auch Monarchisten sowie
ultrakonservative Nationalisten jüdischen Glaubens. Und Brenner lässt sie
in seinem Buch alle zu Wort kommen; anhand von Zeitungsartikeln,
Justizakten und Tagebucheinträgen belegt er, wie sie von rechten Kräften
drangsaliert wurden. Wie sich Antisemitismus in politischen Kreisen und
auch in breiten Bevölkerungskreisen Bahn brach. Wie unterschiedlich Juden
andererseits die Impulse und Ideen der Räterevolutionäre beurteilten.
Zunächst platziert der Historiker jedoch kurze biografische Porträts
derjenigen jüdischen Akteure, die Anteil an der Ausrufung Bayerns zum
Freistaat hatten: Kurt Eisner, Gustav Landauer, Felix Fechenbach, Sonja
Lechner, [4][Erich Mühsam] suchten ihr Heil in einer fortschrittlichen
linken und – nach Kriegsausbruch 1914 – pazifistischen Politik. Die
Genannten charakterisiert Brenner als „gottlose Juden“, weil sie entweder
nicht sehr religiös geprägt waren oder nie öffentlich mit ihrer Herkunft
argumentiert haben.
## Auseinandersetzung mit den Wurzeln
Am Beispiel Gustav Landauer erklärt Brenner sehr anschaulich dessen
lebenslange intensive Auseinandersetzung mit seinen Wurzeln. Und mit dem
Schriftsteller Erich Mühsam, der penetrant auf seine jüdische Herkunft
reduziert wurde, zeigt Brenner, wie gelassen dieser auf solche Anwürfe
reagiert hat. „Daß ich Jude bin, betrachte ich weder als Vorzug, noch als
Mangel; es gehört einfach zu meiner Wesenheit wie mein roter Bart, mein
Körpergewicht oder meine Interessen-Veranlagung“, antwortete Mühsam auf
einen öffentlichen Brief des orthodoxen Juden Siegmund Fraenkel in den
Münchner Neuesten Nachrichten.
Dass Brenners Buch auch aktuell von Interesse ist, nicht nur wegen des
Andenkens an die Räterevolution 100 Jahre danach, steht außer Frage: Die
Bedrohung durch den Antisemitismus ist weiterhin ernst zu nehmen. Im
München gab es 2019 eine Zunahme von antisemitischen Straftaten.
Beunruhigend stimmt besonders die Tatsache, wie offen, wie frech
Rechtsextreme zu Werke gehen, wie mühsam der Kampf gegen die tägliche
Bedrohung ausfällt, wie wenig Resonanz dies in der breiten Bevölkerung
findet.
Geradezu ungeheuerlich mutet die Nachricht an, dass der gebürtige
Österreicher Harald Z. vor wenigen Tagen einen [5][„germanischen
Arbeiterverein“] in München gründen wollte, in einem Wirtshaus in der
Münchner Innenstadt, in dem sich vor 100 Jahren schon einmal ein
nationalsozialistischer Arbeiterverein gründete, der das Hetzblatt
Völkischer Beobachter herausgab. Dies konnte mithilfe des Wirts, einigen
Gegendemonstranten und der anwesenden Polizei verhindert werden.
Brenners Buch liefert sehr viel historisches Anschauungsmaterial zum Thema
Antisemitismus, das auch für aktuelle Debatten bedeutsam ist. Zudem füllt
seine Untersuchung eine Leerstelle zur jüdischen Seite der Münchner
Räterepublik und räumt mit falschen Behauptungen auf. Während die Herkunft
der Revolutionäre von der Linken oftmals heruntergespielt wurde oder
schlichtweg übersehen, argumentierte die konservative Geschichtsschreibung
auch nach 1945 noch mit Klischees und falschen Kausalitäten: Selbst
renommierte Historiker wie Golo Mann vertraten die These, die jüdische
Herkunft von Kurt Eisner, Gustav Landauer und Erich Mühsam seien direkt für
das Aufkommen des Antisemitismus mitverantwortlich. Brenner belegt, dass es
Antisemitismus in Bayern längst gab, bevor die Räterevolutionäre in München
tätig waren, und wie er sich nach 1919 zunehmend radikalisierte.
15 Jan 2020
## LINKS
[1] /100-Jahre-Freistaat-Bayern/!5544530
[2] /Gedenken/!5474243
[3] /Fund-von-Gerichtsakten-im-Fall-Landauer/!5588911
[4] /Erich-Muehsams-Tagebuecher/!5611820
[5] https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-germanischen-arbeiterverein-b…
## AUTOREN
Julian Weber
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