| # taz.de -- Haitianer:Innen auf Kuba: Sterben ist schön – „mourir est beau… | |
| > Wie Haiti die kubanische Kultur beeinflusst hat und was davon heute noch | |
| > übrig ist. Ein Reisebericht. | |
| Bild: Die Gruppe Petit Dancé in ihrem Hauptsitz in Las Tunas, Cuba | |
| Das Städtchen Barranca in den Bergen im Osten Kubas ist abgelegen – weder | |
| Minibusse noch Allrad-Pkws, nicht mal Jeeps russischer Bauart kommen dort | |
| hinauf. Also kommt die Parade unserer Reisegruppe entgegen: Trommeln, | |
| Kostüme und Voodoo-Utensilien aller Art werden auf einem Ochsenkarren in | |
| Richtung des Dorfes Thompson ins Tal transportiert. | |
| Dort angekommen, beginnt auch schon die Voodoo-Zeremonie, die von einem | |
| Houngan, einem Hohepriester, angeführt wird. Die Parade vollzieht sich in | |
| engem Spalier von Trommlern aus Thompson. Ein Huhn und eine Ziege werden im | |
| Zuge des Rituals dann als Gaben geopfert und später auch am Spieß gebraten, | |
| ein Festschmaus fürs ganze Dorf. | |
| Die Gagá-Parade aus Barranca stolziert den kleinen Hohlweg aus den Bergen | |
| wie in einer Prozession auf uns zu. Schon von weitem sind ihre prachtvollen | |
| blauweißen Kostüme zu erkennen. Sie sammelt sich in einem | |
| Freiluft-Gemeindesaal in der Dorfmitte, wo das Trommelensemble in den | |
| nächsten Stunden ein perkussives Purgatorium entfesselt. | |
| ## Voodoogemeinschaft ist legendär | |
| Unter Volkskundlern und Anthropologen gilt die lokale Voodoogemeinschaft | |
| von Barranca, gegründet 1912, als legendär. Im selben Jahr begann die | |
| sogenannte Bracero-Auswanderung von Haitianer:Innen, die nach Kuba | |
| migrierten. Als Folge wurde auch die Kultur von Oriente, wie der Ostteil | |
| Kubas genannt wird, transformiert. | |
| Überall in Oriente finden sich haitianische Spuren, selbst im Westen Kubas | |
| hat sich haitianische Kultur breitgemacht, wenn auch in verwässerter Form. | |
| Haitianos, wie die auf Kuba geborenen Menschen mit haitianischen Vorfahren | |
| heißen, bewahren ihre Wurzeln durch spiritistische Zeremonien, | |
| folkloristische Traditionen und autonome Gemeinschaftsprojekte. | |
| In der kubanischen Stadt [1][Guantánamo, deren Ruf durch das gleichnamige | |
| Hochsicherheitsgefängnis auf dem US-Militärstützpunkt] beschädigt wurde, | |
| hat es sich Francisco Diáz Diáz, Präsident der haitianischen Assoziation | |
| (Asociación de Haitianos y Descendientes de Guantánamo), zum persönlichen | |
| Anliegen gemacht, mit möglichst allen in der Region lebenden Haitianos in | |
| Kontakt zu bleiben. | |
| So probt etwa die haitianische Performancegruppe Los Cossía, die 2025 ihr | |
| 45-jähriges Bestehen feiert, im Hinterhof-Patio des Gebäudes der Asociacón, | |
| wo Díaz auch wohnt. | |
| In der einst blühenden Eisenbahnknotenstadt Cueto (verewigt im [2][Song | |
| „Chan Chan“ von Compay Segundo]), treffen wir Ramón Casals Castillo, | |
| genannt Choco. Sein Projekt „Nuevas Raíces Haitianas“ bringt Kindern | |
| Kreolisch-Sprechen und die haitianischen Drumbeats sowie Tanzschritte bei. | |
| ## Die haitianische Nationalhymne wird gesungen | |
| Das ganze Viertel sieht bei der Performance zu, eingerahmt von | |
| haitianischen und kubanischen Flaggen an den Häuserwänden. In Las Tunas | |
| wiederum beginnt die Gruppe Petit Dancé jede ihrer Aufführungen mit dem | |
| Absingen der haitianischen Nationalhymne „La Dessalinienne“, – eine | |
| besonders morbide Zeile daraus: „mourir est beau“. | |
| Die Armut in Oriente ist noch drastischer als im Westen Kubas, | |
| nichtsdestotrotz verwendet Petit Dancé nur die feinsten Stoffe für ihre | |
| handgefertigten Kostüme, ein Merkmal aller haitianisch-kubanischen | |
| Voodoogruppen. | |
| Kostüme sind auch elementarer Teil der Präsentation von Ciego de Ávila’s, | |
| einer sogenannten fanm-zetwal-Frauenkulturgruppe, in der ausschließlich | |
| fantasievoll gekleidete Tänzerinnen und Trommlerinnen mitwirken. | |
| Wissenschaftler im Dokumentationszentrum „Casa del Caribe“ in Santiago de | |
| Cuba erforschen solche kulturellen Netzwerke seit Gründung der Institution | |
| 1982, auch beim jährlich jeweils im Juli stattfindenden Festival „Fiesta | |
| del Fuego“ wird ihnen gehuldigt. Jedoch spielen Haitianos im offiziellen | |
| staatlichen Diskurs über afrokubanische Kultur keine Rolle, hier liegt der | |
| Fokus einzig auf Menschen, die direkt aus Afrika in den Westen Kubas | |
| migriert sind. | |
| ## Zwangsarbeit auf den Zuckerrohrplantagen | |
| Rund 700.000 afrikanische Sklav:Innen, vor allem Kongo, Carabalí, Yoruba | |
| und Gangá wurden nach Havanna und Matanzas im Westen Kubas verschleppt und | |
| für Zwangsarbeit auf den Zuckerrohrplantagen eingesetzt. Das Erbe jener | |
| Menschen auf Kuba ist weltweit anerkannt. Im Osten Kubas gab es keine | |
| nennenswerte Anzahl an Plantagen. Erst nach der formalen Unabhängigkeit | |
| Kubas von Spanien 1902 entstand in Oriente auch eine Zuckerindustrie. | |
| Um Zuckerrohr zu ernten, wurden von den Plantagenbesitzern Erntehelfer aus | |
| Haiti angeworben. Der Anthropologe Abelardo Larduet Luaces hat sie als | |
| „gefilterte Afrikaner“ bezeichnet. Die Migration aus Haiti erfuhr zwischen | |
| 1912 und 1937 ihren Höhepunkt, damals wurden von den Behörden bereits viele | |
| wieder zurück nach Haiti geschickt. Dennoch kamen bis in die 1950er-Jahre | |
| kleinere Kontingente mit haitianischen Arbeiter:Innen nach Kuba. | |
| Schon in seiner Kindheit nahm Fidel Castro von den Haitianos Notiz. Sein in | |
| Spanien geborener Vater führte in der Stadt Birán im Oriente eine Plantage | |
| und beschäftigte eine große Zahl von Haitianern. Im Dokufilm „Reembarque“ | |
| der Filmemacherin Gloria Rolando wird geschildert, wie Fidel in seiner | |
| Jugend Baseball gespielt hat, unweit einer Barackensiedlung, in der die | |
| haitianischen Erntehelfer gewohnt haben. | |
| ## Die Mehrheit der Haitianer blieb auf Kuba | |
| Nach der Machtübernahme der Kommunisten 1959 wurde die Bracero-Politik | |
| gestoppt, ZuckerrohrarbeiterInnen wurden vor die Wahl gestellt: Nach Hause | |
| zurück oder die kubanische Staatsbürgerschaft annehmen. Die Mehrheit ist | |
| geblieben. Noch heute finden sich Heiligenbildchen von Castro auf den | |
| Hausaltären bei den Haitianos, so auch bei Francisco Díaz Díaz. | |
| Das gemeinsame Kulturerbe von Kuba und der Nachbarinsel, die von den | |
| Spaniern „La Espanola“ genannt wurde, reicht freilich weiter zurück in eine | |
| Zeit vor der Kolonialisierung im 16. Jahrhundert, als Indigene zwischen den | |
| Inseln hin und her reisten. | |
| Auch 1802, als [3][auf Haiti die blutige Revolution unter Toussaint | |
| Louverture ausbrach], flohen rund 15.000 Weiße, freie Schwarze und | |
| geflohene Sklaven vor der Gewalt nach Kuba. Sie importierten | |
| französisch-haitianische Kultur und sorgten dafür, dass auch Kaffeebohnen | |
| auf Kuba angebaut wurden. | |
| Auch kulturell hinterließ diese Einwanderungswelle auf Kuba ihre Spuren: | |
| Die sogenannten tumba-francesa-Gruppen wurden von der Unesco sogar mit dem | |
| Siegel „immaterielles Weltkulturerbe“ ausgezeichnet. | |
| Jene sehr engagierten Musikperformancegruppen tanzen den contredanse, aber | |
| auch spezifische afrikanische Tänze um einen Maibaum in Begleitung von | |
| ohrenbetäubender afrikanischer Perkussion. Dazu tragen sie Kostüme, die dem | |
| Stil der franko-haitianischen Salons im 18. Jahrhundert nachempfunden sind. | |
| Bis heute existieren auf Kuba drei tumbas francesas, eine Truppe gibt es in | |
| Santiago, eine in Guantánamo und eine, deren Existenz erst 1976 bekannt | |
| wurde, im abgelegenen Bergdorf Bejuco. | |
| ## Schon in siebter Generation in der tumba | |
| „La Caridad de Oriente“, die tumba francesa von Santiago de Cuba, wurde | |
| 1842 gegründet. Ihr Leiter, Queli Irca Figueroa Quiala, ist ein energischer | |
| junger Drummer, dessen Familie schon in siebter Generation an der tumba | |
| mitwirkt. Er sagt, die Trommeln, die zum Einsatz kommen, sind rund 200 | |
| Jahre alt. | |
| Wenn das stimmt, dann haben sie die drei Kriege zwischen Kuba und Spanien | |
| (1868-1898) überlebt, die, teils inspiriert vom Unabhängigkeitskampf der | |
| haitianischen Revolution, auch in Oriente ausgefochten wurden, mit | |
| tumba-Mitgliedern als Soldaten und Generälen. Ein Porträt des | |
| Unabhängigkeitshelden Guillermón Moncada hängt im tumba-Hauptquartier im | |
| Viertel Los Hoyos von Santiago. | |
| Wenn sich die tumba tanzend und trommelnd in Bewegung setzt, werden die | |
| Vorfahren wieder zum Leben erweckt von den feuerspeienden Trommeln, die | |
| schon bollern, seit Kuba spanische Kolonie war. | |
| ## Kulturelles Erbe gefährdet | |
| Es liegt auf der Hand, dass das kulturelle Erbe der Haitianos gefährdet | |
| ist. Beide Länder, Haiti und Kuba, verarmen zusehends, wobei die Lage von | |
| Haiti als gescheiterter Staat, der von kriminellen Bandenfehden überzogen | |
| ist und mit Hundertausenden AR-15-Schnellfeuergewehren aus US-Produktion | |
| überschwemmt, außer Kontrolle geraten ist. | |
| Wenigstens regieren in Kuba keine Gewehre, die Straßen sind sicher wie | |
| nirgends sonst in Lateinamerika. Aber die Straßen werden mehr und mehr | |
| entvölkert, weil die Massenemigration weg von der Insel anhält und die | |
| Geburtenrate mit inzwischen 24 Prozent auf einem historisch niedrigen Stand | |
| ist. Wenn sich die Menschen aus Kuba zerstreuen, zerstreuen sich auch ihre | |
| kulturellen Eigenheiten. Die Vorfahren mögen weiter auf Kreolisch singen, | |
| aber die Last derjenigen, die auf Kuba portadores genannt werden, | |
| Traditionsüberbringer, wird immer größer. | |
| Aus dem Englischen von Julian Weber | |
| 3 May 2025 | |
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