| # taz.de -- Grüne Politik im Alltag: Einer von hier | |
| > Kassem Taher Saleh wuchs als irakischer Flüchtling in Sachsen auf. Nun | |
| > sitzt er für die Grünen im Bundestag und hält engen Kontakt zur alten | |
| > Heimat. | |
| Bild: Vater und Mutter warnten vor der Politik. Nun steht Saleh vor seinem Wahl… | |
| Plauen taz | An einem Abend im Oktober macht Kassem Taher Saleh einen | |
| Ausflug in sein altes Leben. Er beginnt auf dem Sportplatz von Wacker | |
| Plauen. Dienstag, 18 Uhr, die Herrenmannschaft trainiert. Es ist dunkel, | |
| die Spieler stehen im Flutlicht. Taher Saleh hat sich nicht angekündigt. | |
| „Die kennen mich hier alle noch“, sagt er. Sieben Jahre hat er, der Kurde, | |
| hier gespielt. | |
| „Ey, wo haste deine Fußballschuhe?“, fragt der Erste. | |
| „Was wollen denn die Ausländer wieder hier?“, ruft einer. Fistbumps. | |
| „Spaß!“ | |
| „Mit euch Grünen können wir uns die Energie nicht leisten. Ihr habt uns die | |
| ganze Scheiße eingebrockt“, meint ein anderer. „Spielste am Donnerstag | |
| mit?“ | |
| „Nee, eher nicht. Termine.“ | |
| Kassem Taher Saleh, 29, spielt jetzt Mittelfeld, im FC Bundestag. | |
| 2003, er ist zehn, flieht Taher Salehs Familie aus dem Irak nach Plauen im | |
| Vogtland, ins Dreiländereck von Sachsen, Thüringen, Bayern. Im | |
| Flüchtlingsheim wächst er auf. Wacker Plauen, der Fußballklub ein paar | |
| Straßen weiter, ist seine Brücke in die deutsche Gesellschaft. | |
| Mit 20 geht Taher Saleh nach Dresden, studiert Bauingenieurwesen. 2019 | |
| tritt er den Grünen bei, 2021 wird er in Dresden in den Bundestag gewählt. | |
| Das Vogtland ist einer der beiden Wahlkreise, die er mitbetreuen muss. Dazu | |
| schläft er nun manchmal in seinem alten Kinderzimmer, fährt mit dem VW | |
| seiner Eltern herum. Die führen ein Lebensmittelgeschäft in der Innenstadt. | |
| Plauen ist kein sonderlich guter Ort für Grüne. Im Bundestagswahlkampf | |
| griff ein 50-Jähriger den Grünen-Stand an, verletzte die 19-jährige | |
| Kreisvorsitzende Lea-Sophie Gauglitz. Er habe „seinen Unmut äußern“ wolle… | |
| sagt die Polizei. Auch die Redner der [1][wöchentlichen Großdemos] des | |
| rechtsextremen „Forums für Demokratie und Freiheit“ wollen das. Anfang | |
| November giftete der Auftaktsprecher über eine „wohlstandsverwahrloste | |
| grüne Sekte und ihren rot-gelben Wurmfortsatz, die an die Seelen unserer | |
| Kinder und Enkel will“, zum Zwecke „abscheulicher Experimente“. Tausende | |
| klatschten begeistert. | |
| In Plauen hat [2][die Nazipartei Dritter Weg] ihre Zentrale und unterhält | |
| ein Stadtteilzentrum. 2021 klebte sie Plakate mit der Aufschrift: | |
| [3][„Hängt die Grünen!“] Gerade eben erst, Anfang November, weigerte sich | |
| ein Amtsrichter, deswegen ein Verfahren gegen den Dritten Weg zu eröffnen. | |
| Das also ist die Stadt, in die Taher Saleh alle zwei Monate fährt, um den | |
| Leuten zu erklären, dass die Grünen ihre Sache in der Regierung ganz gut | |
| machen. Wie schafft man das? | |
| Es hilft, wenn man von hier kommt. | |
| „Es wird schlimmer dargestellt, als es ist“, sagt der Trainer auf dem | |
| Fußballplatz über die Energiepreise. „So sieht man mal, wie sehr man im | |
| Überfluss lebt und was man einsparen kann.“ Die Solaranlage fürs | |
| Vereinsheim ist bestellt. „Früher nach dem Training war eine halbe Stunde | |
| das Licht an. Jetzt machen wir es direkt aus, warum nicht, ist doch gut, | |
| haben ja auch keinen Bock auf fette Nachzahlung.“ | |
| „Ja, schade, dass es einen Krieg braucht dafür“, sagt Taher Saleh. Und | |
| später, auf dem Weg zur Pizzeria: „Das hat mich überrascht, dass es hier | |
| ein Umdenken gibt.“ | |
| Der Schwatz auf dem Fußballplatz ist gewissermaßen das Aufwärmen für einen | |
| Termin am nächsten Tag. Wegen dem ist Taher Saleh eigentlich hier. Der | |
| Krisenstab der Stadt Reichenbach sieht die Energiepreise nicht so locker | |
| wie der Fußballtrainer. In einem offenen Brief an Robert Habeck fordert er | |
| „bedingungslose Versorgungssicherheit“ und Verhandlungen mit Russland. Aus | |
| der „emotionalen Empörung“ über den russischen Angriff seien Entscheidung… | |
| gefällt worden, die mit einer „rationaleren Analyse und Strategie | |
| vermeidbar“ gewesen wären, schreiben die Kommunalpolitiker. | |
| „Das wird kein Heimspiel da“, sagt Taher Saleh. „Konservatives Lager.“ | |
| Beim Verein, gerade eben, war es ein Heimspiel. Trotz der Sprüche von | |
| Spielern. Die habe es früher auch gegeben. „Das ist nicht böse gemeint, ich | |
| nehm ihm das nicht übel. Menschlich ist er total okay.“ Früher sei er | |
| „nicht so sensibel“ dafür gewesen, sagt Kassem Taher Saleh, „ich hab | |
| mitgelacht.“ Heute empfinde er das anders. „Wenn ich dem heute was über | |
| Rassismus erzählen würde, der würde sagen ‚Was erzählst du mir, Kassem? Du | |
| bist der Ausländer und fertig.‘ “ | |
| Respektiert habe er sich trotzdem immer gefühlt. „Wenn man gut spielt, dann | |
| wird das honoriert.“ Man müsse in Plauen die „harte Schale knacken, dann | |
| sind die Leute absolut loyal“. Wenn bei gegnerischen Klubs Nazis | |
| mitgespielt hätten, sei immer Verlass auf seine Mannschaft gewesen. Und so | |
| empfinde er „Sachsen gegenüber Dankbarkeit“. | |
| Wofür genau? | |
| „Aufnahme, Loyalität, eine Perspektive, meine Ausbildung.“ | |
| Deshalb habe er etwas zurückgeben wollen. Er war Schiedsrichter, später | |
| Schülersprecher, hat die Spielberichte [4][für die Vereinswebseite] | |
| geschrieben. Und ist jetzt eben: Abgeordneter. | |
| Der Bruder des Pizzabäckers hat auch bei Wacker Plauen gespielt. Sein Vater | |
| steht heute hinterm Tresen. „Was machst du heute?“, fragt er Taher Saleh. | |
| „Politik. Bin Abgeordneter.“ | |
| „Politik? Kommt nix bei raus. Ist scheiße.“ | |
| „Meinste?“ | |
| „Ja.“ | |
| Den Grünen trat Taher Saleh erst 2019 bei, als er mit der Uni fertig war. | |
| „Menschenrechte, Minderheiten“, diese Themen waren ihm wichtig. „Ich hab | |
| mich selbst als Minderheit gefühlt.“ | |
| Kurz danach brach Corona aus. Deshalb bestand seine Parteikarriere zunächst | |
| vor allem aus Zoom-Calls. Schon nach einem Jahr geriet er auf die | |
| Landesliste. „Natürlich gibt es da Neid. Manche fragen: ‚Warum mache ich | |
| das seit Jahren hier, wenn Kassem sofort in den Bundestag kommt?‘ “ | |
| Er hat in Plauen ein Büro in der Innenstadt, gemeinsam mit dem grünen | |
| Landtagsabgeordneten Gerhard Liebscher. Am Abend trifft er den Ortsverein | |
| dort zum ersten Mal persönlich. Es könnte genauso gut ein Treffen in | |
| Baden-Württemberg sein: klassisches Grünen-Milieu, weiße Akademiker, leicht | |
| ergraut, langjährig engagiert. | |
| Die Kreisvorsitzende, Ulrike, sagt zur Begrüßung: „Man braucht hier gerade | |
| ein dickes Fell.“ Durch die aktuelle Lage gerate man bisweilen in | |
| Erklärungsnot. „Deswegen ist es gut, dass mal wer von der Regierung hier | |
| ist.“ | |
| Taher Saleh legt eine Tupperdose mit Nusskeksen auf den Tisch. „Das hat | |
| meine Mutter gebacken.“ | |
| Dann fängt er an. Habeck mache seine Sache super, Baerbock auch. „Aber wir | |
| sind in einer schwierigen Lage und verletzen unsere Werte bei den Themen | |
| Verteidigung und Energie. Wir wollen ehrlich kommunizieren, da gehört es | |
| dazu, das zu sagen. Gleichzeitig haben wir viele Erfolge. Beim Ausbau der | |
| Erneuerbaren zum Beispiel.“ | |
| Die Parteileute sehen es ähnlich. Sie nicken. | |
| „Worüber wollen wir reden?“, fragt Taher Saleh. „Menschenrechte, Katar, | |
| LNG, das Zukunftszentrum in Plauen?“ | |
| Ein Mann, der sich als Dieter vorstellt, will über Habeck sprechen: „Erst | |
| war er sehr kommunikativ, jetzt taucht er ab, nach dem Crash mit der | |
| Gasumlage. Jetzt sieht er auch körperlich nicht mehr so gut aus. Ich mache | |
| mir ernsthaft Sorgen um ihn.“ | |
| Ein anderer sagt, er habe Habeck live auf dem Parteitag gehört. „Schlapp | |
| und müde“ sei der „gegenüber der Annalena“ gewesen. [5][„Der Mann ist… | |
| die Ecke gedrängt, der kämpft wie ein Löwe, und dann stellt sich der | |
| Lindner hin, als wäre er der nächste Kanzler“], sagt der Mann. „Vielleicht | |
| ist der Robert zu defensiv? Wie gut ist sein Backoffice? Hat der da Idioten | |
| sitzen?“ | |
| Taher Saleh erzählt von der Dreier- und der Sechserrunde der Koalition und | |
| davon, wie Habeck übel mitgespielt worden sei mit der Gasumlage: „Die FDP | |
| macht immer schon abgesprochene Sachen wieder auf, das ist extrem | |
| kraftraubend.“ | |
| Jemand fragt, warum Scholz [6][im Hamburger Hafen die Chinesen einsteigen | |
| lässt]: „Das stinkt doch!“ Taher Saleh hat auch darauf eine Antwort parat. | |
| Man müsse „den Sicherheitsbegriff erweitern“ und „auf kritische | |
| Infrastruktur fokussieren“. | |
| Das ist eine typische Politformel – aber sie ist nicht falsch. Und wie will | |
| man ganz ohne Stanzen durch solche Tage kommen, an denen man alles Mögliche | |
| erklären soll, man ist ja schließlich von der Regierung. Über viele Themen | |
| haben die Leute hier schon diskutiert, da war Taher Saleh noch gar nicht | |
| geboren. Die langjährige politische Sozialisation, die junge Grüne | |
| üblicherweise haben, fehlt ihm mit seiner Blitzkarriere. Aber er schlägt | |
| sich nicht schlecht. Die Basis ist anscheinend zufrieden mit ihm. | |
| Das Asylbewerberheim, in dem Taher Saleh seine Jugend verbrachte, liegt in | |
| einer alten Kaserne im Westen Plauens. Fünf Jahre lebte Taher Salehs | |
| Familie hier, sechs Personen in drei Zimmern im ersten Stock. | |
| Deutschunterricht gab ihnen eine Ehrenamtliche im Keller, auch sie eine | |
| Grüne. | |
| Als er jetzt auf den Eingang des Heims zugeht, kommt ein Mannschaftswagen | |
| der Polizei angerast. Einer der Bewohner hat einen anderen mit einem Messer | |
| verletzt. Männer stehen hinter dem Gittertor und schauen zu, wie Polizisten | |
| den Angreifer abzuführen versuchen. Der wehrt sich aus Leibeskräften und | |
| brüllt, als ging es um sein Leben. | |
| „Gehen Sie weiter“, sagt ein Wärter zu Taher Saleh. „Ich bin | |
| Bundestagsabgeordneter“, entgegnet dieser, als sei es normal, dass | |
| Politiker abends um zehn vor Flüchtlingsheimen herumstehen. Der Wärter | |
| murmelt etwas, er scheint Taher Saleh nicht zu glauben. | |
| Der Angreifer trägt nur T-Shirt und Hose, er brüllt und tritt um sich. Es | |
| ist eine bedrückende Szene. Drei Polizisten versuchen, den Mann auf den | |
| Rücksitz des Mannschaftswagens zu setzen, aber er leistet zu viel | |
| Gegenwehr. Sie zerren an ihm, schlagen ihn aber nicht. Vielleicht liegt das | |
| an Taher Saleha Anwesenheit. „Das wird hier nichts. Den kriegen wir nicht | |
| gewahrsamsfähig“, sagt einer der Polizisten. Sie entscheiden, ihn von | |
| Sanitätern abholen zu lassen. Es ist wohl nicht die schlechteste | |
| Entscheidung. In einem Krankenhaus scheint der Mann zweifellos besser | |
| aufgehoben als in einer Zelle. | |
| Taher Saleh beobachtet alles schweigend. | |
| „Ein bisschen retraumatisierend“ sei die Situation für ihn gewesen, sagt er | |
| später, denn „früher gab es das hier auch“. Wobei die Polizei damals „v… | |
| offensiver, viel aggressiver“ gewesen sei. „Die kamen nachts immer mit | |
| Schäferhunden rein.“ Die Familien hätten sie okay behandelt, am schlimmsten | |
| sei es alleinstehenden Männern ergangen. „Aber so was als Kind dauernd | |
| ansehen zu müssen, ist schon schrecklich.“ | |
| Für seine Eltern sei das Leben in der Asylunterkunft hart gewesen. „Man | |
| kommt, spricht die Sprache nicht, hat keinen Alltag. Ich hatte schon | |
| Alltag, mit Schule und Fußball. Aber meine Eltern haben gelitten ohne Ende, | |
| hatten Depressionen.“ Sein Bruder habe Medikamente gebraucht, ihm ging es | |
| psychisch so schlecht, dass die Familie 2008 in die Wohnung ziehen durfte, | |
| in der sie heute noch lebt, obwohl ihr Asylantrag noch gar nicht durch war. | |
| Erst 2011 sorgte ein Härtefallantrag für ein Bleiberecht. | |
| Seine Mutter war im Irak Lehrerin, sein Vater, ein Volkswirt, arbeitete | |
| beim Zoll. Mit ihrem Lebensmittelgeschäft kämen sie heute zurecht. Aber sie | |
| konnten in Deutschland erst spät anfangen zu arbeiten. „Altersarmut ist da | |
| auch ein Thema“, sagt Taher Saleh. Als seine Eltern hörten, dass er in die | |
| Politik gehen wollte, waren sie dagegen. „ ‚Konzentrier dich auf dein | |
| Studium‘, haben sie gesagt.“ Aber schließlich wurde er eben doch | |
| Abgeordneter und lud seine Eltern in den Bundestag ein. „Sie waren super | |
| stolz, ohne Frage.“ | |
| Wenn er schon mal mit einem Reporter in der Stadt unterwegs ist, in der er | |
| aufwuchs, gibt er gern eine kleine Führung. Der Skateshop: „Da waren alle | |
| cool, fresh, gestylt. Stabile Jungs, die sprayen und HipHop mögen. Und sie | |
| waren immer klar gegen Rassismus“, sagt Taher Saleh. So sei der Laden ein | |
| „Safe Space“ für ihn gewesen. | |
| Etwas weiter die Straße hinunter liegt das Islamische Zentrum | |
| Al-Muhadjirin. Nazis haben das Gebäude schon mehrfach mit [7][Schweineblut | |
| und Schweineköpfen] geschändet. Jahre nachdem Taher Saleh Plauen verlassen | |
| hatte, wurden [8][Salafismus-Vorwürfe gegen Prediger des Zentrums] laut. | |
| Als Jugendlicher hatte er hier Koran- und Arabisch-Unterricht. „Meiner | |
| Mutter war das extrem wichtig, ich hatte da damals überhaupt keinen Bock | |
| drauf.“ Er betet nicht, verzichtet aber auf Schweinefleisch und Alkohol, | |
| hält den Ramadan ein. „Weil mich das immer wieder zurück zu meinen Wurzeln | |
| bringt.“ | |
| Die Straßenbahnhaltestelle: „Da saßen immer alle. Sehen und gesehen | |
| werden“, erinnert sich Taher Saleh. „Meine Eltern haben gesagt:,Hey mein | |
| Sohn, bleib zu Hause!' Aber ich wollte auch cool sein, dazugehören.“ | |
| Anderen stand dafür der Alkohol offen, für ihn blieb der HipHop: „Massiv, | |
| Bushido, Sido, Hose in den Socken.“ Dieser Style scheint bei ihm noch heute | |
| durch, mit einer Frisur wie beim Rapper Haftbefehl, und auch diese | |
| bestimmte Art zu sprechen glimmt manchmal auf. Er habe selbst mal gerappt, | |
| sagt Taher Saleh, „aber das ist zum Glück bei Myspace verschwunden“. | |
| Die Westseite der Altstadt liegt auf einem Höhenzug mit Blick auf die | |
| waldigen Hügel des Vogtlands. Seine Eltern hätten immer betont, wie schön | |
| es in der Region sei. „Die waren happy, dass wir nicht in einer größeren | |
| Stadt gelandet sind, wegen Drogen und so.“ | |
| Taher Salehs einstige Schule liegt in einem Plattenbauviertel. Im | |
| Musikzimmer warten Jugendliche auf ihn, er ist zu einer Fragestunde | |
| gekommen. Seine frühere Informatiklehrerin legt ihm eine Hand auf die | |
| Schulter und fragt: „Wie alt bist du jetzt?“ Die Direktorin scherzt: „Da | |
| merkt man, wie alt man selber ist.“ Sie ist offensichtlich stolz auf ihren | |
| früheren Schüler. | |
| Taher Saleh trägt einen weiten Pulli, bunte Sneaker, bunte Socken. Das | |
| Einzige, was die Seriosität des Worts „Bundestag“ verströmt, ist eine | |
| braune Wildledermappe für sein iPad. Er schildert seinen Werdegang und | |
| schließt den kleinen Vortrag mit den Worten: „Die Plauener haben mich | |
| immer unterstützt“. Dann fragt er in die Runde: „Worüber wollt ihr reden? | |
| Klimakrise? Zocken? Cannabis?“ Für Jugendliche eine ausnehmend passende | |
| Ansprache – und sofort kommen die ersten Fragen. | |
| „Wie viel verdienen Sie?“ | |
| Er rechnet vor, dass ihm von den 10.000 Euro Diät nach allen Abgaben – auch | |
| an die Partei – etwa 4.000 netto bleiben. „Viel Geld.“ Die Schüler nehmen | |
| es regungslos zur Kenntnis. | |
| „Dürfen Sie irgendetwas nicht sagen in der Öffentlichkeit?“ | |
| „Nein, ich bin frei.“ | |
| Am Vortag war er schon mal hier in der Schule, in einer anderen Runde. Die | |
| Lokalzeitung Freie Presse hat einen Artikel darüber geschrieben. „Haben Sie | |
| schon mal gekifft?“, lautet die Überschrift. Die Direktorin hält den | |
| Artikel hoch. „Es gab bessere Fragen“, sagt sie. | |
| „Es gab bessere“, bestätigt Taher Saleh. „Aber das ist Pressefreiheit.“ | |
| Die Schüler finden allerdings, dass es keine bessere als die Frage nach dem | |
| Marihuana gibt, also: [9][„Wie war das erste Mal, als Sie gekifft haben?“] | |
| „Nichts gemerkt. Ich mache das nur punktuell, das entspannt mich“, sagt | |
| Taher Saleh. Dann erzählt er von der geplanten Legalisierung: „Nächstes | |
| Jahr können wir den ersten legalen Joint rauchen.“ | |
| Es ist wieder ein Heimspiel. | |
| Anders als in Reichenbach, wo Taher Saleh am selben Tag noch den | |
| aufgebrachten Krisenstab besänftigen will, der einen Wutbrief an Robert | |
| Habeck geschickt hat. | |
| Taher Salehs Referent hat ihm die Zahlen zur geplanten Gaspreisbremse zu | |
| spät geschickt, ein nervöses Telefonat ist fällig, während er mit dem | |
| elterlichen VW nach Reichenbach brettert. „Wie viel ist das genau?“, fragt | |
| Taher Saleh und schaut an einer Ampel ungeduldig auf sein Smartphone. Dann | |
| gibt er wieder Gas. „Pünktlich da sein ist sehr wichtig. Respekt.“ | |
| Er schafft es gerade noch rechtzeitig, parkt auf dem Marktplatz, schlüpft | |
| in ein hellblaues Hemd und ein braunes Sakko. Die bunten Sneaker und Socken | |
| lässt er an. Der Bürgermeister, der Leiter der Stadtwerke, die Chefin der | |
| Wohnungsbaugesellschaft und der Vorsitzende der Wirtschaftsvereinigung, ein | |
| Wurstfabrikant, sind gekommen. Sie hatten den Offenen Brief geschrieben. | |
| Wütend auf die Regierung sind sie immer noch. Auch ein grüner Ratsherr | |
| sitzt im Saal, und ein Reporter der Lokalzeitung. | |
| Der Bürgermeister sagt, dass die Menschen „ja nicht zu Habeck gehen, | |
| sondern die stehen bei mir vor dem Schreibtisch“. | |
| Der Fabrikant sagt, dass es „im Lebensmittelbereich sehr kritisch“ sei. „… | |
| können manche nächstes Jahr dicht machen.“ Das „Hüh und Hott“ der Koal… | |
| habe „extrem genervt. Wir fühlen uns nicht mitgenommen“. Und warum werde | |
| ignoriert, dass Fachleute sagen, dass der Weiterbetrieb der AKWs sinnvoll | |
| sei? | |
| Der Chef der Stadtwerke findet es „unfassbar, mit wie viel Geld um sich | |
| geschmissen wird. Wer soll das finanzieren?“ [10][Regional Strom zu | |
| produzieren, das wolle man ja auch, aber so gehe das alles nicht.] „Der | |
| Zappelstrom“ – er meint Sonne und Wind – „der ist mal da und mal nicht.… | |
| brauchen aber Transformation in gesicherte Leistung.“ | |
| Die Frau von der Wohnungsbaugesellschaft sagt: „Wenn 50 Prozent unserer | |
| Kunden die Erhöhung der Nebenkosten nicht zahlen können, sind wir in sieben | |
| Monaten pleite.“ | |
| Taher Saleh erwidert, dass er als Bauingenieur im Bundestag [11][im | |
| Bauausschuss] sitze. Dass er aus Plauen stamme und seine Eltern auch nicht | |
| viel Geld hatten. | |
| Der Krisenstab nickt. | |
| Umrüstungsförderung. 200 Milliarden Abwehrschirm. Preisbremse. 12 Cent | |
| für Privathaushalte, 7 Cent für Gewerbe und Kommunen. Das alles seien die | |
| Antworten der Ampel auf die „bekannte Problematik“. Taher Saleh spricht von | |
| LNG-Terminals, davon, dass „jetzt alle zusammen an einem Strang ziehen“. | |
| Und er duzt die Runde: „Ich höre mir hier eure Wünsche an, und nächste | |
| Woche gehe ich auf das Ministerium zu: Da müssen wir noch mal ran, und da | |
| müssen wir noch mal ran.“ | |
| Gegen den Ausbau der Erneuerbaren habe ja eigentlich keiner etwas, sagt der | |
| Fabrikant. „7 Cent, das ist Planungssicherheit, auch wenn die uns nicht | |
| gefällt. Aber jetzt können wir unsere Preise danach ausrichten.“ | |
| Der Geschäftsführerin der Wohnungsbaugesellschaft brennt noch etwas anderes | |
| unter den Nägeln, sie stört sich an der Russlandpolitik. „Warum ist | |
| Russland jetzt der Teufel?“, fragt sie. „Das Land hat unsere Besatzungszone | |
| geprägt. Wo sind denn jetzt die Diplomaten, die verhandeln?“ | |
| Taher Saleh sagt, er sei ein Fan von Diplomatie. „Aber Putin hat sich | |
| selbst isoliert.“ Die Frau ist nicht überzeugt. „Die viertgrößte | |
| Wirtschaftsnation schafft sich selber ab“, behauptet sie. „Das ist doch | |
| nicht die deutsche Mentalität, die ich kenne“, entgegnet Taher Saleh. „Wir | |
| machen den radikalen Wandel, um wieder Weltmarktführer zu werden.“ | |
| Solche Sätze hört man hier natürlich gern. Dann werden Selfies gemacht. | |
| Ein guter Termin, sagt der Bürgermeister hinterher: „Zu den Menschen | |
| runterkommen, um unsere Perspektive zu verstehen.“ Taher Saleh setzt sich | |
| in die Dönerbude gegenüber vom Rathaus und bestellt Halloumi. „Ich hab’s | |
| noch härter erwartet“, sagt er. „Man kriegt sie über Respekt. Und über d… | |
| ‚zusammen‘. Alle ein Team, gemeinsam. Und über die Identität. Meine Eltern | |
| sind ja ebenfalls von hier, verdienen auch keine 3.000 Euro.“ | |
| „Bundestagsabgeordneter nimmt Reichenbacher Sorgen mit nach Berlin“, steht | |
| am nächsten Tag in der Freien Presse. „Aus Plauen stammender Politiker hört | |
| sich die Nöte der Menschen in der Stadt an. Umsetzbarkeit von Politik soll | |
| geprüft werden.“ | |
| Es hilft, wenn man von hier kommt. | |
| 19 Nov 2022 | |
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| [1] /Rechtsextreme-Montagsdemos/!5882340 | |
| [2] /Neonazi-Partei-III-Weg/!5850506 | |
| [3] /Nazi-Plakate-in-Bayern-und-Sachsen/!5795617 | |
| [4] https://www.wacker-plauen.de/jm/ | |
| [5] /Koalition-in-der-Krise/!5887442 | |
| [6] /Regierung-stoppt-Uebernahmen/!5890709 | |
| [7] /Deutscher-Terror-gegen-den-Islam/!5299037 | |
| [8] https://jungle.world/artikel/2018/31/sind-so-viele-salafisten | |
| [9] /Cannabis-Legalisierung-in-Deutschland/!5887274 | |
| [10] /Energiewende-auf-dem-Land/!5863859 | |
| [11] /Nachhaltige-Stadtentwicklung/!5883701 | |
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