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# taz.de -- Strukturhilfen für Braunkohleregionen: Notwendiger Umbau
> Zwei Großforschungszentren sollen die Ängste der Ostdeutschen vor dem
> Kohleausstieg mildern. Ihre stabilisierende Wirkung stößt auf Skepsis.
Bild: Das Ende des Braunkohlekraftwerks Jänschwalde in der Lausitz ist für 20…
Dresden taz | Stimmungskontraste an den letzten beiden Septembertagen. In
Berlin strahlen Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger und die
Ministerpräsidenten von Sachsen und Sachsen-Anhalt, Michael Kretschmer und
Reiner Haseloff, um die Wette. Als Kompensation für den [1][auslaufenden
Wirtschaftsfaktor Braunkohle] bekommen sie zwei mit je 1,1 Bundesmilliarden
geförderte Großforschungszentren im einsamen Sorbengebiet der Oberlausitz
und in der mitteldeutschen Chemieregion zwischen Delitzsch und Leuna. Eine
mit 63 internationalen Fachleuten besetzte Kommission hatte sie im Auftrag
der Bundesregierung aus sechs Bewerbern bestimmt, die vor einem Jahr
wiederum aus 97 Antragsskizzen ausgewählt wurden.
Am Tag danach ist es in der Dresdner Staatskanzlei neben Professor Peter H.
Seeberger für das künftige Center for the Transformation of Chemistry (CTC)
vor allem der Astrophysiker Professor Günther Hasinger, der eine ansteckend
gute Laune verbreitet. Die muss man allerdings in der adressierten
Förderregion Lausitz meist vergeblich suchen.
Schon vor zwei Jahren winkten auf die Forschungspläne angesprochene
Einwohner ab. „Das rauscht an uns ebenso vorbei wie der geplante IC
Berlin–Görlitz“, hieß es. Die Region brauche vor allem Ersatzarbeitsplät…
und Gewerbeförderung, die aber das Strukturstärkungsgesetz nicht vorsieht.
Der jüngst veröffentlichte [2][„Sachsen-Monitor 2021/22“] belegt außerde…
dass alle [3][Zuversichts- und Zufriedenheitsquoten in der Oberlausitz] dem
Landesdurchschnitt um mindestens 10 Prozent hinterherhinken. Die Hälfte der
Befragten empfindet ihre Region als abgehängt. Die Angst vor einem erneuten
Strukturbruch wie vor 32 Jahren sitzt in der ehemaligen DDR-Vorzeigeregion
tief.
Losgelöst vom Kontext des Trostes für den Osten bieten die beiden
Großforschungszentren aber interessante wissenschaftliche Ansätze. Die
überschwängliche Weise, wie CTC-Sprecher Seeberger die Bedeutung der
chemischen Industrie lobt, erinnert zwar etwas an die DDR-Chemiekampagne
Mitte der 1960er Jahre. Die Notwendigkeit einer Umstrukturierung hat aber
einen aktuellen rationalen Kern. Chemie steckt zwar in fast allen Produkten
und steht am Anfang vieler Wertschöpfungsketten. Aber sie ist auch
besonders krisenanfällig, die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen und
Energieträgern betreffend. Ohne Beschönigungsversuche räumt Peter Seeberger
schädliche Folgen ein, spricht von „Umweltvergiftung“ und „immensem
Kohlendioxid-Ausstoß“.
## Kreislaufwirtschaft aufbauen
Transformation lautet deshalb das Schlüsselwort. „Wir müssen die Chemie in
eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft wandeln“, beschreibt der CTC-Sprecher
das Hauptziel künftiger Forschungsarbeit. Auf welchen Feldern sie im
Einzelnen vorangetrieben werden soll, wird noch nicht mitgeteilt. Bekannt
ist aber, dass die Ablösung traditioneller Kohlenstoffquellen ein zentrales
Problem ist. Seeberger spricht von „Grundchemikalien“, die nicht mehr nur
aus Rohstoffen, sondern in Recyclingprozessen gewonnen werden sollen.
Partner des CTC werden die Universitäten in Halle, Leipzig und Dresden
sein.
20 Kilometer nördlich von Leipzig wird der Hauptstandort in der ehemaligen
Zuckerfabrik von Delitzsch liegen, bislang eher für seine
Schokoladenprodukte bekannt. Die Stadt wurde auch deshalb ausgewählt, weil
sie einen Elektroenergieüberschuss alternativ produziert. Einbezogen wird
aber auch das sogenannte Chemiedreieck Halle-Merseburg-Bitterfeld mit den
Leuna-Werken. Die rund tausend Beschäftigten, darunter vier Fünftel
Facharbeiter und nichtwissenschaftliches Personal, sollen aus diesem Gebiet
kommen. Angestrebt wird auch eine regionale Wirksamkeit durch Ausgründungen
von Start-ups.
Solche Effekte erhofft man sich auch in der Lausitz. Ralbitz-Rosenthal hat
mit Delitzsch zunächst nur die altsorbisch-slawische Namensherkunft gemein.
Den frommen Sorben und Pilgern ist Rosenthal mit seiner großen Kirche
bislang nur als Wallfahrtsort bekannt. Und hier soll auf der grünen Wiese
ein wissenschaftlicher Brutkasten entstehen, der an das
sowjetisch-sibirische Akademgorodok bei Nowosibirsk erinnert?
Nicht auf der Wiese, sondern unter der Wiese. Ein „Low Seismic Lab“ mit den
Ausmaßen von 40 x 30 x 30 Metern in 200 Meter Tiefe als Zentrum eines
kilometerlangen Tunnelsystems bildet eine von drei Komponenten des
künftigen Deutschen Zentrums für Astrophysik. Für Präzisionsmessungen, für
die Beobachtung durch bewegte Himmelsmassen erzeugter Gravitationswellen
und die Entwicklung von Zukunftstechnologien sind hochstabile Standorte
erforderlich. Die große Lausitzer Granitplatte ist weitgehend frei von
seismischen Erschütterungen. Ihre wissenschaftliche Nutzung nährt außerdem
die Hoffnung der Lausitzer, von einem dort erwogenen Atommüll-Endlager
verschont zu bleiben.
Ursprünglich hatte man [4][in der Lausitz mit Wasserstoffforschung
gerechnet,] der bisherigen Energieregion verwandt. Jedenfalls nicht mit
Sätzen des designierten Direktors Professor Günther Hasinger wie „Was soll
ein UFO in der Lausitz?“ und „Die großen Rätsel liegen da draußen“, al…
Universum. Als einer von drei Standorten für das ab 2025 geplante
europäische Einstein-Teleskop bleibt der Lausitzer Granit immerhin im
Gespräch. Vor allem soll in Görlitz an der Neiße in einem offenen Campus
ein Superrechenzentrum entstehen, das den „Datentsunami“ aus dem All
verarbeiten kann. Das Zusammenschalten mehrerer Observatorien zu einem
weltweiten Superteleskop verlangt solche immensen Verarbeitungskapazitäten.
Auch die Verantwortlichen für das künftige Astrophysikzentrum betonen die
segensreiche Wirkung für die Region, nicht nur wegen der geplanten
ebenfalls etwa tausend Arbeitsplätze. Schon jetzt habe man ein Netzwerk von
etwa 50 Firmen aufgebaut, vom Ingenieurbüro bis zu Mittelständlern. „Wir
stärken die richtigen Leute, die nicht resignieren“, sagt der beteiligte
Professor Christian Stegmann, Direktor am Elektronen-Synchotron in
Zeuthen.
## Arbeitsplätze für Pendler
Gleichwohl regt sich auch Kritik. Regionale Linken-Abgeordnete wie Caren
Lay aus dem Bundestag und Antonia Mertsching aus dem Sächsischen Landtag
hatten schon im Juli moniert, dass Entscheidungen nicht mit den Bürgern
abgestimmt würden und die Kohle-Kernregion der Lausitz unberücksichtigt
bleibe. Professor Reint Gropp, Leiter des Instituts für
Wirtschaftsforschung Halle, stellt die Frage, warum man nicht gleich an
bestehende Institute angedockt habe und ob wirklich Ersatzarbeitsplätze
entstehen. Vermutet wird ein hoher Anteil an Pendlern.
Skepsis löst vor allem der Umstand aus, dass nach einer dreijährigen
Vorbereitungsphase praktisch erst ab 2026 mit den Bauten begonnen werden
soll. Wirkungen werden also erst in einigen Jahren erwartet. Am selben 29.
September überholte hingegen der Lausitzer Kraftwerksbetreiber LEAG die
Hightech-Großforschungsvorhaben mit der Ankündigung, schon bis 2030 auf
Tagebaubrachen einen regenerativen Energiepark im Gigawattbereich zu
installieren. Bis zu vier Millionen Haushalte könnten mit Elektroenergie
versorgt werden.
Zuvor hatten bereits das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung und
die Technische Universität Cottbus-Senftenberg in Studien Chancen der
Energiewende für die Lausitz aufgezeigt und eine jährliche Wertschöpfung
von bis zu 450 Millionen Euro für die Region errechnet. Unter
existenzsichernden Aspekten erscheinen den Einwohnern solche Vorhaben
greifbarer als die abstrakt wirkende Grundlagenforschung.
7 Oct 2022
## LINKS
[1] /Ueber-den-Strukturwandel-in-der-Lausitz/!5790184
[2] https://www.staatsregierung.sachsen.de/sachsen-monitor-2021-22-8310.html
[3] /Zufriedenheit-in-Sachsen/!5876537
[4] /Strukturwandel-in-der-Lausitz/!5760015
## AUTOREN
Michael Bartsch
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