| # taz.de -- Graphic Novel über Wilhelm II.: Kaiser mit Hackebeil | |
| > „Der Kaiser im Exil“: Jan Bachmanns groteske Graphic Novel ist vielleicht | |
| > das Lustigste, was die Hohenzollern-Debatte zu bieten hat. | |
| Bild: Der entmachtete Monarch fuchtelt immer noch kaiserlich herum | |
| Was macht ein Kaiser, wenn er sein Kaiserreich verliert? Dieser Frage geht | |
| Jan Bachmann in seinem neuesten Comic nach und wirft einen Blick auf das | |
| Leben von Wilhelm II. nach dessen Abdankung und Flucht ins niederländische | |
| Exil. | |
| Zurate gezogen hat der Schweizer Comiczeichner hierfür Quellen aus dem | |
| direkten Umfeld des Monarchen a. D.: Tagebücher und Notizen kaisertreuer | |
| Gefolgsleute zeichnen ein skurriles Bild vom Alltag Wilhelms, kurz nach | |
| dessen Niederlage im Ersten Weltkrieg. | |
| Abwechselnd kommen des Kaisers Flügeladjutant Sigurd von Ilsemann, Lady | |
| Norah Bentinck sowie Gräfin Elisabeth Bentinck-Ilsemann zu Wort. Letztere | |
| beiden waren Verwandte des Grafen Bentinck, auf dessen Schloss Amerong | |
| Wilhelm und seine Frau Auguste Viktoria sich zunächst einquartierten, bevor | |
| sie ihre Altersresidenz Haus Doorn bezogen. | |
| In „Der Kaiser im Exil“ neigt sich das Jahr 1918 dem Ende zu, die Monarchie | |
| hat ihres bereits erreicht, Europa liegt in Trümmern, es wird protestiert | |
| und revolutioniert, doch alles, was Ilsemann und die Bentincks zu | |
| dokumentieren wissen, sind die Dessertvorlieben des Kaisers sowie dessen | |
| Erregung fürs Holzfällen. | |
| ## Der Kaiser mit Beil am Bock | |
| „In einem schlichten Tuchanzug, kragenlos, das Hemd am Halse geöffnet, | |
| Stunden um Stunden am Sägebock – für den obersten Kriegsherrn, der er noch | |
| das Jahr zuvor gewesen war, gewiss ein tief empfundener Wechsel“, heißt es | |
| an einer Stelle. Daneben die stark überzeichnete Karikatur Wilhelms in | |
| verschiedenen Posen, mit Beil am Bock. | |
| Wie Bachmann den Ex-Kaiser hier inszeniert, ist großartig: Dieser bückt und | |
| streckt sich, zieht und schlägt, fuchtelt so militärisch wie einst umher. | |
| Dank der grafischen Linienführung bekommt des Kaisers Performance etwas | |
| Skurril-Komisches, fast wie eine Yoga-Anleitung eigens für | |
| Holzfäller*innen. | |
| Die Bäume, die Wilhelm hackt (teils hacken lässt), tragen auf Bachmanns | |
| Bildern Gesichter und werden so zu Zuschauer*innen des eigenen | |
| Schicksals. Mit ihnen habe sich der Schweizer Comicautor am meisten | |
| identifizieren können, sagt er im Interview mit dem Onlinemagazin Comic. | |
| Im Gegensatz zu seinen beiden früheren Werken – [1][„Mühsam – Anarchist… | |
| Anführungsstrichen“] und „Der Berg der nackten Wahrheiten“ –, in denen | |
| Bachmann sich historisch mit linken, gar anarchistischen Figuren | |
| beschäftigte, fehlt es hier tatsächlich merklich an Protagonist*innen | |
| mit Identifikationspotenzial. Für Sympathien mit dem Monarchen und seinem | |
| Hoheitsverlust reichen die realitätsfernen, verblendeten Aufzeichnungen | |
| seiner Untertan*innen nicht. | |
| ## Keine Verantwortung übernommen | |
| Was die Geschichte stattdessen trägt, ist das Absurde, über das man mit | |
| mehr als 100 Jahren Abstand nur lachen kann, das aber eigentlich vor allem | |
| einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Statt Verantwortung für seine | |
| Taten zu übernehmen, versteckt sich der ehemalige Kaiser und lamentiert vor | |
| seinem Flügeladjudanten. Darüber, wie er von seinen Generälen – allen voran | |
| General Erich Ludendorff und Feldmarschall Paul von Hindenburg – erst | |
| übergangen, dann verlassen wurde, für die er doch „so viel getan“ habe. | |
| „[2][Man inszenierte sich in der Öffentlichkeit natürlich als Opfer. Und | |
| das tut man nach wie vor]“, sagt Bachmann zum textlichen Inhalt. [3][Von | |
| der Aktualität des Diskurses rund um die Familie Hohenzollern] sei er eher | |
| überrumpelt worden. Sie sei nicht die Initialzündung für das Projekt | |
| gewesen. Umso besser, dass es sie gibt, denn so bekommt die Graphic Novel | |
| einen zeitgenössischen Touch, der ein ums andere Mal die Verachtung der | |
| Adelsfamilie für ihre Verantwortung verdeutlicht. | |
| [4][Eine Verachtung, die den Verlust des eigenen Besitzes bis heute höher | |
| hält] als die Gräueltaten, die an der Bevölkerung begangen wurden. Über | |
| diese adelige Ignoranz gegenüber den im Krieg verheizten Soldaten und den | |
| brutal ermordeten Bewohner*innen der deutschen Kolonien, die nie oder | |
| nur unzureichend entschädigt wurden, könne man sich nur lustig machen, so | |
| Bachmann. | |
| Deswegen setzt er den Aufzeichnungen von Ilsemann, der die herrliche | |
| Aussicht auf dem Weg zwischen Amerongen nach Utrecht hervorhebt, | |
| skelettartige Zeichnungen ausgemergelter Passant*innen gegenüber. Oder | |
| aber er inszeniert die ehemalige Kaiserin Auguste Victoria als La Catrina – | |
| einer im vorrevolutionären Mexiko geschaffenen Skelettfrau, die als | |
| sarkastisches Sinnbild für die Oberschicht steht. | |
| ## Entmenschlichte Figuren | |
| Im Gegensatz zu seinen vorherigen Comics, in denen Bachmanns Strich und | |
| Farbauswahl noch an den französischen Zeichner Joann Sfar erinnerten – | |
| überzeichnet, leicht fantastisch –, wechselt er im Kaiser-Cartoon ins | |
| Grafische. „Ein poetisches Aufrüsten als Selbstverteidigung“, nennt er es. | |
| Lange strichförmige Nasen, runde Wangen – all das erinnert an eine Mischung | |
| aus Kubismus und Surrealismus; an eine Melange aus Dalí, Miró und Picasso. | |
| Die Gestalten, die da entstehen, sehen beinah entmenschlicht aus. Sie | |
| erinnern viel mehr an märchenhaft-skurrile Wesen, die tierische wie | |
| maschinenhafte Attribute tragen. | |
| Besonders sticht der Vogel heraus, den der Kaiser hat. Stets auf dessen | |
| Kopf sitzend, büßt auch er, wie sein Träger, an Stattlichkeit ein. So wird | |
| aus dem majestätischen Adler ein Täubchen, wie aus dem Herrscher ein | |
| Exilant. | |
| 11 Aug 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophia Zessnik | |
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