# taz.de -- Comics über den Zar und Erich Mühsam: Kinder und Bären der Revol… | |
> Zwei neue Graphic Novels zeigen Erich Mühsam als jungen Bohemien und | |
> erzählen von Zarismus und Sowjets. Spaß machen beide. | |
Bild: Der Comic-Künstler Simon Schwartz vor seinem Zeichentisch in seinem Hamb… | |
Eine ausgesprochen lange Nase. Darauf ein runder Zwicker. Drum herum | |
wuchert ein dunkler Haarwald, auf dem Kopf, am Kinn, ohne Übergang. So | |
zeichnet der Schweizer [1][Comicautor Jan Bachmann] seinen Helden Erich | |
Mühsam, wie er vor über 100 Jahren gelebt hat. | |
Der 1878 in Berlin geborene Schriftsteller, Bohemien und politische | |
Aktivist Mühsam ist bis heute vor allem als einer der maßgeblichen | |
Initiatoren der Münchener Räterepublik bekannt. Sie wurde ein halbes Jahr | |
nach Ende des Ersten Weltkriegs und der Novemberrevolution im April 1919 in | |
Bayern ausgerufen. Zu ihren bekannten Sprechern gehörten zunächst | |
Anarchisten und Pazifisten wie Mühsam, Ernst Toller und Gustav Landauer. | |
Von 1910 bis 1924 schrieb Erich Mühsam Tagebücher, unter anderem über eine | |
Reise in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz. Den | |
32-jährigen Kurzfilmregisseur Jan Bachmann hat diese zu seinem ersten Comic | |
inspiriert, der von diesem frühen Lebensabschnitt des Querdenkers erzählt. | |
Entstanden ist eine anekdotenreiche Geschichte über einen Poeten, der | |
1910 von seinen Verwandten aus Deutschland zur Kur in die Schweizer Berge | |
geschickt wird. Und der sich dort zwischen Darmspülungen und gemeinsamen | |
Dinners der Kurgäste vor allem langweilt. Mühsam setzt sich von der | |
Zwangskur bald ab, trifft sich mit Schweizer Freunden und Gleichgesinnten, | |
um ins Museum zu gehen oder gegen die lahme Sozialdemokratie zu wettern. | |
## Von SS-Männern im KZ Oranienburg zu Tode geprügelt | |
Mühsams Gedankenwelt charakterisiert Bachmann als die eines versponnenen | |
Tagträumers. Während er zur Abstinenz verdonnert ist, denkt er an seinen in | |
der Schweiz lebenden Geliebten Johannes Nohl, aber auch an die ein oder | |
andere Dame. Finanziell ist der Anarchist von den Launen seiner gut | |
situierten Verwandten abhängig. Dennoch hofft er, bald von seinen | |
Einkünften als politischer Redner, Dichter und Autor von Chansontexten | |
leben zu können. | |
Bachmann orientiert sich in Strich und Farbgebung am krakeligen wie | |
lebhaften Zeichenstil des Franzosen Joann Sfar („Chagall in Russland“), | |
erzielt jedoch andere Effekte. Während bei Sfar grotesk-fantastische | |
Elemente überwiegen, sucht Bachmann das (Tragi-)Komische im Bohemeleben des | |
aufstrebenden Aktivisten herauszustellen. Er findet dabei immer wieder | |
treffende und witzige Bildeinfälle. Gelegentlich erreicht gar die Realität | |
den Träumer im Schweizer Idyll, wenn er eine Zeitung erwischt, in der die | |
allgemeine Zeppelinbegeisterung des Volkes oder die Todesstrafe in Preußen | |
thematisiert wird. | |
Bei aller Leichtigkeit, mit der Bachmann erzählt, hätte man seiner | |
Annäherung an diesen „politischen Bohemien“ jedoch einen größeren | |
zeitlichen Ausblick gewünscht, um die wenig rosige Zukunft des Anarchisten | |
Mühsam anzudeuten. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs wird in diesem | |
Band noch nicht thematisiert. Auch nicht, was auf die Bohemejahre folgt, | |
die kurze Phase als ein Anführer der Münchner Räterepublik und die langen | |
fünf Jahre im Zuchthaus. 1934 wurde der unbequeme, in Lübeck geborene Jude | |
Erich Mühsam von SS-Männern im KZ Oranienburg zu Tode geprügelt. | |
Nur wenige Jahre später als in „Mühsam, Anarchist in Anführungsstrichen“ | |
setzt die Handlung von „Ikon“ ein. [2][Simon Schwartz] stützt sich in | |
seiner neuen Graphic Novel ebenfalls auf reale Biografien. Es ist die Zeit | |
des Ersten Weltkriegs, in Russland zeichnet sich die Oktoberrevolution ab. | |
Um 1916 wähnt sich die Zarenfamilie noch in Sicherheit, und der junge Gleb | |
Botkin (1900–1969), Sohn des Leibarztes des Zaren, wächst mit den | |
Zarenkindern zusammen auf. | |
Zwei Jahre später erlebt er die Ermordung der Zarenfamilie und kann selbst | |
durch Flucht entkommen. In einem orthodoxen Kloster wird er daraufhin von | |
Mönchen zum Ikonenmaler ausgebildet. Parallel zu Botkins Werdegang erzählt | |
Schwartz vom Schicksal einer psychisch kranken jungen Frau, Franziska | |
Czenstkowski (1896–1984). Sie lebt um 1920 in einem Berliner Sanatorium und | |
wird von einer Krankenschwester als die Zarentochter Anastasia | |
„identifiziert“. Die Kranke nimmt die von Zeitungen aufgegriffene Legende | |
gerne an, um die eigenen Traumata zu vergessen. | |
## „Zaristische“ Bären, die eine Affen-Revolution abwehren | |
1928, in Amerika, kreuzen sich ihre Wege mit denen Gleb Botkins, der | |
inzwischen zum Stifter einer eigenen Religion wurde, der Church of | |
Aphrodite. Inspiriert von der verloren geglaubten Spielgefährtin | |
Anastasia, fantasiert Botkin, die „Ikone“ seiner Kindheit wiedergefunden zu | |
haben. Doch Czenstkowski wird zum Spielball unterschiedlicher Interessen. | |
Verglichen mit früheren Arbeiten des 1982 geborenen Hamburger Zeichners, | |
die ebenfalls geschichtliche Stoffe aufgriffen – „Packeis“ (2012) als | |
Graphic Novel über einen Polarforscher sowie die Kurzporträts von „Vita | |
Obscura“ (2014) – ist „Ikon“ deutlich epischer angelegt. | |
Überzeugend gelingt Simon Schwartz in seiner Graphic Novel die | |
dramaturgische Verzahnung beider Schicksale bis in die späten achtziger | |
Jahre hinein (in leichter Zuspitzung, da Botkin bereits 1969 starb). Die | |
komplex verschachtelte Erzählweise findet ihre Entsprechung in einer | |
düsteren, schwarz-weiß gehaltenen Grafik, die manchmal auf raffinierte, der | |
jeweiligen Epoche entsprechende Allegorien setzt. Etwa, wenn Franziska auf | |
ein Film-Werbeplakat mit der Aufschrift „Du musst Caligari werden“ blickt | |
und so zu ihrem Identitätswandel inspiriert wird. | |
In den Figurenzeichnungen lehnt sich der Zeichner erneut an den für ihn | |
prägenden Stil der Mosaik-Heftreihe in modernisierender Weise an. Einzelne | |
Szenen und Dialoge der meist eitel dargestellten echten Adeligen sind | |
allerdings etwas hölzern geraten – subtilere Zwischentöne hätten manchen | |
Nebenfiguren gutgetan. Jedoch gelingt es dem Zeichner anhand der bisher | |
weitgehend unbeachteten historischen Randfigur Gleb Botkin, die | |
Verwerfungen einer Epoche, die auf einzelne menschliche Schicksale wenig | |
Rücksicht nahm, zu veranschaulichen. | |
Nebenbei webt Schwartz in seine Erzählung eine ganze Geschichte der | |
Ikonendarstellung ein. Er verweist dabei auf Zeichnungen des jungen Gleb, | |
womit der während der Gefangenschaft in Jekaterinburg die Zarenkinder | |
erfreute: historisierende Bildergeschichten um „zaristische“ Bären, die | |
erfolgreich eine Revolution der Affen abwehren. | |
8 Jul 2018 | |
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## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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