# taz.de -- Neuer Comic über Wohlstandsgesellschaft: Unaufrichtigkeit siegt | |
> In Anna Sommers Graphic Novel „Das Unbekannte“ wird ein Baby ausgesetzt, | |
> ein Hund angeschafft und nach dem Glück gesucht. | |
Bild: Eine Szene aus dem Comic | |
Kurz vor Ladenschluss entdeckt Helen in der Umkleidekabine ihrer Boutique | |
einen schreienden Säugling. Im Hinterzimmer versorgt sie den Neugeborenen | |
und bettet ihn in einen Pappkarton. Danach kehrt sie allein zu Paul in die | |
gemeinsame Wohnung zurück. Ihrem Lebensgefährten aber verheimlicht die | |
Mittvierzigerin ihren Fund. Stattdessen führt sie fortan im Laden ein | |
Doppelleben als Ersatzmutter. | |
Mit linearen schwarzen Konturen, ohne Schraffur oder Grautöne entwickelt | |
Anna Sommer in „Das Unbekannte“ eine schnörkellos gezeichnete | |
Bildgeschichte mit raffiniert angelegter Dramaturgie. So wechseln in der | |
neuesten Graphic Novel der Schweizer Illustratorin und Comiczeichnerin | |
Szenen aus Helens plötzlich kompliziert gewordenem Leben mit Episoden aus | |
dem Alltag der jungen Vicky ab. Der Teenager, der sich das Zimmer im | |
Internat mit ihrer verwegenen Freundin Wanda teilt, leidet unter dem Ende | |
einer Affäre mit dem Geschichtslehrer und verbirgt die verdrängte | |
Schwangerschaft hinter ihrem Übergewicht. | |
Auch weil Helens und Vickys Geschichte zeitlich nicht parallel, sondern | |
versetzt verlaufen, finden beide Erzählstränge erst mit Verzögerung | |
zueinander. Doch entwickelt sich daraus bald ein komplexes | |
Beziehungsgeflecht voll lebendiger Details, das beiläufig sogar noch das | |
zerrüttete Verhältnis zwischen Vickys abwesendem Vater und ihrer | |
geschiedenen Mutter touchiert. | |
## Von unerfüllten Wünschen in der Wohlstandsgesellschaft | |
Sommer, die als Illustratorin vor allem für ihre unverwechselbaren | |
Papierschnitt-Collagen bekannt ist, erzählt in „Das Unbekannte“, mit Tusche | |
gezeichnet, unsentimental und humorvoll von der Normalität der Lüge, von | |
verdrängten Bedürfnissen und unerfüllten Wünschen in einer | |
Wohlstandsgesellschaft, die alles hat und in der so viel fehlt. | |
Zusätzliche Fahrt nimmt die verzwickte Geschichte auf, als Paul plötzlich | |
auf die Idee kommt, seine vermeintlich kinderlose Frau mit Gorki, einem | |
kleinen Hund, zu überraschen. Helen bleibt also nichts anderes übrig, als | |
das Tier an ihrem Geheimnis teilhaben zu lassen und es tagsüber mit in den | |
Laden zu dem kleinen Silvester zu nehmen. Doch zum Glück schließen Gorki | |
und das Findelkind gleich innige Freundschaft. | |
Auch bei Vicky überschlagen sich die Ereignisse unvermeidlich. Aus | |
verschiedenen Perspektiven ohne viele Worte erzählt laufen nun die Fäden | |
der Handlung allmählich zusammen. Schon bald ist Helen gezwungen, sich | |
zwischen Paul und dem Baby zu entscheiden. Die tatsächlichen Hintergründe | |
und die Herkunft des ausgesetzten, seltsam reif wirkenden Kindes bleiben | |
ihr – anders als uns LeserInnen – bis zuletzt verborgen. In dieser tragisch | |
komischen Situation beweist zumindest Gorki, der Hund, Herz und Courage. | |
17 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
## TAGS | |
Comic | |
Graphic Novel | |
Deutscher Comic | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
Gérard Depardieu | |
Graphic Novel | |
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