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# taz.de -- Roman von Andrej Platonow: Bald kommt das irdische Paradies
> Nach der Oktoberrevolution setzte schnell die Ernüchterung ein. Davon
> erzählt Andrej Platonows Roman „Die glückliche Moskwa“.
Bild: Melancholie in seinen Figuren, in seinem Blick: Andrej Platonow
Zu Beginn der [1][Oktoberrevolution], als Moskwa Iwanowna Tschestnowa noch
ein kleines Mädchen ist, guckt sie eines Nachts aus dem Fenster und sieht
einen Mann mit einer Fackel die Straße hinunterlaufen.
Dann hört sie einen Schuss, kurz darauf einen Schrei. Ihr ganzes Leben muss
sie an diesen Fackelläufer und Revolutionär denken. Als ein paar Jahre
später nach der Mutter auch ihr Vater stirbt, muss Moskwa sich mehrere
Jahre allein durch das nachrevolutionäre Russland schlagen.
In dem Kinderheim, das sie schließlich aufnimmt, kann sie sich nicht mehr
an ihren Namen erinnern. „Da bekam sie zu Ehren der Stadt Moskau den
Vornamen, den Vatersnamen zum Gedenken an Iwan, den gewöhnlichen
Rotarmisten, der im Kampf gefallen war, und den Nachnamen als Zeichen der
Ehrlichkeit des Herzens, das noch nicht unehrlich zu sein vermochte, obwohl
es lange unglücklich war.“
Später dann flieht Moskwa Tschestnowa von der Schule, schlägt sich wieder
allein durch, lernt aber, nach ihrer erzwungenen Rückkehr, umso eifriger
und wird glühende Anhängerin der Revolution. Durch Zufall bekommt sie einen
Platz an der Luftfahrtschule.
Sie wird Fallschirmspringerin, aber als sie einen neuartigen
Fallschirmstoff ausprobieren soll, gibt es einen Unfall: Bei dem Versuch,
sich in der Luft eine Zigarette anzuzünden, setzt sie den Schirm in Brand.
Nur der Ersatzfallschirm rettet ihr das Leben. Doch ihr Fehler wird ihr
nicht angelastet. Im Gegenteil, als tollkühne Fallschirmspringerin wird sie
danach zur Heldin.
## Emotion und Sozialismus
Obwohl die Idee, die hinter Andrej Platonows Roman steht, schnell deutlich
wird, drängt sie sich nicht ständig in den Vordergrund, sondern schimmert
nur gelegentlich durch seine eigentümlich poetische Schreibweise hindurch.
Dass der Traum vom Sozialismus, von der gerechten Welt auch für den
heutigen Leser noch nachvollziehbar ist, liegt zum einen an seinem
technokratischen Charakter; zum anderen an Platonows erzählerischem Können,
das die Euphorie nach der Oktoberrevolution überzeugend beschreibt.
Damals schien es nur eine Frage der Zeit, bis die Menschheit das Elend
hinter sich gelassen und im Kommunismus – dem irdischen Paradies – ankommen
würde. Ein aus dem Elend erwachsener Kinderglaube, dessen Attraktivität
sich „Väterchen Stalin“ zunutze machte und der in der Katastrophe des
Gulags endete.
Auch Platonows einziger Sohn wurde im Alter von fünfzehn Jahren aus der
Schule heraus verhaftet und zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Im
Lager infizierte er sich mit Tuberkulose und starb 1943.
Platonows Protagonisten sind tragische Figuren, deren Scheitern beim Leser
ein Gefühl von Vergeblichkeit und Melancholie hinterlassen. Verstärkt wird
dieses Gefühl dadurch, dass „Die glückliche Moskwa“ ein „Liebesroman
zeitgenössischer Idealisten in ihrer Epoche“ ist, wie Lola Debüser, eine
der beiden Übersetzerinnen des Textes, in ihrem Nachwort schreibt. Immer
wieder scheitert Moskwa bei dem Versuch, den Widerspruch zwischen ihrem
Engagement für den Sozialismus und ihren Emotionen zu überwinden.
## Durch alle Qualen hindurch
Auch der Ingenieur Sartorius – wohl eine Art Alter Ego Platonows – verliebt
sich unglücklich in sie. Auch er spürt, dass die menschliche Realität –
hier: seine Gefühle – nicht mit dem Projekt des Sozialismus in Einklang zu
bringen sind. „Er fühlte sich so, als hätten die Menschen vor ihm nicht
gelebt und ihm stünde es bevor, sich durch alle Qualen hindurchzuquälen,
alles von neuem zu erproben, um für jeden Menschenkörper ein noch nicht
existierendes, großes Leben zu finden.“
Vor „Schwermut und Unerträglichkeit“ lässt er sich dann auf seine Kollegin
Lisa ein. Er küsste sie, „und diese nahm sein Gefühl ernst. Aber danach
schlief er lange mit ausgezehrtem Herzen und wachte voll Verzweiflung auf.
Moskwa Teschestnowa hatte recht, dass Liebe nicht Kommunismus [Zukunft]
und Leidenschaft traurig war.“ Statt weiter die gescheiterten
sozialistischen Ziele zu verfolgen, versucht er in einer Art
existenzialistischer Revolte im Camus’schen Sinne trotzdem Humanität zu
leben.
Wahrscheinlich hatte Platonow für „Die glückliche Moskwa“ noch ein weiter…
Kapitel mit dem Titel „Die Reise von Leningrad nach Moskau im Jahre 1937“
vorgesehen. Dieser Teil des Romans wurde ihm jedoch auf einer
Eisenbahnfahrt nach Ufa gestohlen.
Da Platonow bei Stalin 1931 bereits in Ungnade gefallen war, könnte es
gezielt entwendet worden sein und taucht vielleicht irgendwann einmal in
einem russischen Geheimdienstarchiv wieder auf. Platonow starb 1951, dieser
Roman blieb unvollständig, auf Deutsch erschien er erstmals 1993 und nun in
einer überarbeiteten Neuübersetzung.
Schon das kurze Fragment dieses melancholischen Romans über den Widerspruch
zwischen dem Traum von einer besseren Welt und der menschlichen
Wirklichkeit lohnt die Lektüre.
21 Jan 2020
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[1] /100-Jahre-Oktoberrevolution/!5457857
## AUTOREN
Fokke Joel
## TAGS
100 Jahre Oktoberrevolution
Russland
Sowjetunion
Stalin
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