# taz.de -- Neues Buch von Slavoj Žižek: Die zwei Linien | |
> Der Philosoph Slavoj Žižek ist bekanntlich ein Leninist. Nun hat er | |
> zentrale Texte Lenins kommentiert – um ihn zu wiederholen. | |
Bild: Und nun? Oder mit Lenin gefragt: Was tun? | |
Es ist bezeichnend, dass ein Buch über Lenin mit Stalin beginnt. Slavoj | |
Žižek, der umtriebige slowenische Starphilosoph mit dem bezaubernden | |
Sprachfehler, hat mit „Lenin heute“ allerdings ein Buch vorgelegt, das | |
nicht beim Horror des Stalinismus stehen bleibt. Entstanden ist eine | |
kommentierte Ausgabe zentraler Texte Lenins, die in Deutschland, im | |
Gegensatz zur englischen Ausgabe, nicht im Jubiläumsjahr der | |
Oktoberrevolution erschien. | |
Hier wie dort hängt der Schatten des stalinistischen Terrors über der | |
Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert. So weit reicht er, dass in | |
den letzten Jahrzehnten selbst Karl Marx als kontaminierter Autor | |
betrachtet wurde. Das Marx-Revival der letzten Jahre war nur möglich dank | |
der Trennung kommunistischer Schriften vom realexistierenden Sozialismus. | |
Anders verhält es sich mit Lenin, der als führender Revolutionär die | |
Oktoberrevolution unmittelbar mit herbeiführte. Mit Lenin tritt der | |
totalitäre Führer, der die Massen lenkt, auf die Bühne der kommunistischen | |
Geschichte. | |
Ist also Lenins verzweifelter Kampf gegen Stalin als sein Nachfolger, den | |
Lenin bis zu seinem Tod ausfocht, Beweis für dessen heldenhafte Versuche, | |
das Erbe des Kommunismus zu retten? Oder verstand Lenin plötzlich, dass der | |
Saat des Stalinismus bereits in der leninistischen Ära der Boden bereitet | |
worden war? Dass Stalin also letztlich sein Produkt war? | |
## Die Felder des Möglichen | |
Zeitsprung: In der Chruschtschow-Ära, die mit dem Eingeständnis der | |
stalinistischen Verbrechen einherging, wurden Stalinbildnisse durch | |
Leninköpfe ersetzt. Rückkehr zum unbefleckten Ursprung? Unter | |
zeitgenössischen Russen dagegen erfreut sich Stalin großer Beliebtheit als | |
politischer Führer, gleich neben Putin, während Lenin, Chruschtschow und | |
Gorbatschow Verachtung entgegenschlägt. | |
Beinahe scheint es, als müsse man der russischen Bevölkerung, die von alter | |
Großmacht träumt, das große Trauma, das von Stalin verursacht wurde, in | |
Erinnerung rufen. Oder anders: Das Ende der Sowjetunion, das mit | |
Chruschtschow seinen Anfang nimmt, weil er die Fehlbarkeit der politischen | |
Führung eingestand, bildet das viel größere Trauma als die katastrophale | |
Hungersnot, die Stalins Versuch, einen Bauernstaat in einen | |
zentralistischen Industriestaat umzuwandeln, erzeugte. | |
Žižek nun geht es, und das ist das Bezaubernde an diesem Buch, gar nicht um | |
Lenin selbst, auch wenn er in dessen Schriften einführt. Vielmehr nähert er | |
sich im Dreischritt aus Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten einer | |
Psychoanalyse der kommunistischen Seele, die daran krankt, dass der Blick | |
auf die kommunistische Geschichte von Gewaltherrschaft und Totalität | |
überschattet wird. Lenin müsse wiederholt werden, aber nicht in dem Sinne, | |
dass man seine Fehler wiederholen solle. | |
Vielmehr seien die Felder des Möglichen, die Lenins revolutionäre Aktion | |
eröffnete, von heutigen Kommunisten zu nutzen. Lenin ergriff in einer | |
scheinbar aussichtslosen Situation, im Moment des Zusammenbruchs, die | |
Macht. In der Hoffnungslosigkeit entdeckte er den Mut des Revolutionärs: | |
Der Mut der Hoffnungslosigkeit, so lautet auch der Titel des Buches, das | |
Žižek ebenfalls in diesem Jahr veröffentlichte, war entscheidend. | |
## Den Anfang wiederholen | |
Die heutige Linke stehe vor demselben Problem wie Lenin 1917. Anstelle | |
einer mutigen Revolution aber setze sie auf eine lammfromme Vision der | |
Verbesserung des bestehenden Systems im Rahmen des modernen | |
Wohlfahrtsstaates. Keine andere Lösung falle ihr ein, als die Forderung | |
nach höheren Sozialleistungen oder etwas weniger Ungerechtigkeit. Dass | |
nationale Wohlfahrt nicht die passende Antwort auf die Verwerfungen des | |
globalen Kapitalismus sein kann, erscheint logisch. Aber ob uns der | |
Rückgriff auf Lenin tatsächlich weiterhelfen kann? | |
Letztlich rechtfertigt Žižek den Rückgriff auf Lenin damit, dass in der | |
Erinnerung zeitgenössischer Linken der Kommunismus mit den Verbrechen des | |
sowjetischen Regimes verknüpft sei. Wir erinnern uns an die Traumata der | |
kommunistischen Herrschaft, wir bleiben bei der Erinnerungsarbeit bei Lenin | |
und den stalinistischen Verbrechen stehen. So wirkt die Vergangenheit | |
symbolisch weiter. | |
Wir verhalten uns daher wie Analysanden in der Psychoanalyse, die | |
traumatische Inhalte erinnern, aber nicht korrekt symbolisieren können: Wir | |
reproduzieren so Konstellationen der Vergangenheit wie bei der Übertragung | |
im Rahmen der Psychoanalyse. Unsere Erinnerung muss durch Stalin und Lenin | |
hindurchgehen, um zu dem Punkt des revolutionären Keims zurückzukehren. Den | |
Anfang wiederholen. | |
Es ist bezeichnend, dass ein Buch über Lenin mit Stalin beginnt. Aber die | |
Geschichte des Kommunismus muss nicht mit ihm enden. | |
13 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
## TAGS | |
Slavoj Zizek | |
Lenin | |
Stalin | |
Kommunismus | |
100 Jahre Oktoberrevolution | |
Mao Tsetung | |
Unterkunft | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Roman von Andrej Platonow: Bald kommt das irdische Paradies | |
Nach der Oktoberrevolution setzte schnell die Ernüchterung ein. Davon | |
erzählt Andrej Platonows Roman „Die glückliche Moskwa“. | |
K-Gruppen in Westdeutschland: Als Mao die BRD eroberte | |
Vor 50 Jahren in einer Hamburger Kneipe: 33 Leute gründen die KPD/ML. China | |
ist nicht nur Vorbild der Partei – die Volksrepublik mischt auch mit. | |
Die Wahrheit: Nagelharter Zehentee | |
Die unwirtlichsten Unterkünfte der Welt (12 und Ende). Heute: Zu Gast bei | |
Stalins alter Friseurin im russischen Rostow am Don. |