| # taz.de -- Graphic Novel „Bloody Mary“: Die verstoßene Tochter | |
| > In ihrem gut recherchierten Comic „Bloody Mary“ zeichnet die Hamburgerin | |
| > Kristina Gehrmann die Lebensgeschichte der ersten Königin Englands. | |
| Bild: Königin Mary wie die Zeichnerin Kristina Gehrmann sie sieht | |
| Die Geschicke des britischen Königshauses treiben seit jeher weit mehr als | |
| nur die eigenen Untertanen um. Doch auch wenn die Geschichte längst nicht | |
| auserzählt ist, verschiebt sie sich sichbar in ihren Schwerpunkten. So | |
| begann zuletzt etwa der Netflix-Hit „The Crown“ die erste Staffel wie | |
| selbstverständlich mit der Krönung von Elisabeth II. – einer Frau. Zu | |
| Beginn der 1950er-Jahre spielte der Dauerkonflikt um den männlichen | |
| Thronfolger keine Rolle mehr. Das war nicht immer so. | |
| Wie lang der Weg zum Thron noch für Mary I. als erste Königin Englands war, | |
| zeigt die kürzlich erschienene Graphic Novel „Bloody Mary. Die Geschichte | |
| der Mary Tudor“ der Künstlerin Kristina Gehrmann aus Hamburg. Ihr Blick auf | |
| das England des 16. Jahrhunderts macht deutlich, wie weit die komplizierten | |
| Beziehungen zwischen vermeintlich privaten und dabei unweigerlich immer | |
| auch politischen Belangen im Königshaus zurückreichen und welches Ausmaß | |
| sie über die Jahrhunderte erlangt haben. Das ist es wohl, was die Historie | |
| der Königsfamilie zu einem so dankbarem Material macht. | |
| Wie in all ihren bisher erschienenen Novels beweist Gehrmann in „Bloody | |
| Mary“ neben ihrem Interesse an historischen Stoffen auch Lust an | |
| gründlicher Recherche. 2016 erhielt sie für ihr Debüt „Im Eisland“ den | |
| deutschen Jugendliteraturpreis. Die Trilogie über die verschollene | |
| Franklin-Expedition im Jahr 1845 sowie ihre Adaption von Upton Sinclairs | |
| sozialkritischem Roman „The Jungle“ über die Arbeiter:innen in | |
| Chicagoer Schlachthöfen des späten 19. Jahrhunderts wurden ins Englische | |
| übersetzt und erlangten auch international Aufmerksamkeit. | |
| Nach Forschung und Lohnarbeit geht es nun also bei den Mächtigen weiter: In | |
| „Bloody Mary“ zeichnet Gehrmann die Lebensgeschichte der ersten Königin | |
| Englands in insgesamt vier Kapiteln – auf etwas mehr als 300 Seiten von der | |
| Verbannung als Kind bis zu ihrem Tod. | |
| Zur Erinnerung: Mary Tudor, oder auch Mary I., war die verstoßene Tochter | |
| des ewig pubertierenden Bad Boys der Royals: Henry VIII. Mit sechs Ehen im | |
| Lebenslauf und gleich zwei Ehefrauen auf dem Gewissen tyrannisierte Henrys | |
| Super-Ego zwischen 1509 und 1547 nicht nur England, sondern sorgte in ganz | |
| Europa für Unruhe, als er sich anstelle des Papstes zum Oberhaupt der | |
| Kirche ernannte. Ein Eklat, zumal sich der Katholizismus damals bereits von | |
| ketzerischen Lutheranern bedroht sah. | |
| König Henry kamen diese Zerwürfnisse vermutlich auch persönlich ganz | |
| gelegen. Als Kirchenoberhaupt war er im Recht, seine thronfolgerlose Ehe | |
| mit Katharina von Aragon für ungültig zu erklären. Damit verabschiedete | |
| Henry VIII. seine erste Ehefrau vom Königshof – und die gemeinsame Tochter | |
| Mary gleich mit. Mehrere Kriege und Intrigen zogen ins Land, bis der | |
| alternde König Prinzessin Mary irgendwann doch an den Hof zurückholte, wo | |
| sie es nach dem frühen Tod ihres Bruders und Thronfolgers Edward VI. 1553 | |
| schließlich selbst auf den Thron schaffte. Die Bevölkerung hatte große | |
| Erwartungen an die erzkatholischen Mary und hoffte auf ein Ende der Launen | |
| und Frevel ihres Vaters. Die folgenden Jahre ihrer Regentschaft waren | |
| jedoch von grausamen Rekatholisierungsmaßnahmen geprägt, die ihr zum | |
| Beinamen „Bloody Mary“ verhalfen, der titelgebend für Gehrmanns Novel ist. | |
| Der ist allerdings ein bisschen irreführend, denn besonders blutrünstig ist | |
| Gehrmanns Mary weder in Text noch Bild zu erleben. Zwar erfahren die | |
| Leser:innen von der Wiedereinsetzung des längst abgeschafften Strafmaß’ | |
| Scheiterhaufen zur Läuterung protestantischer Seelen und ihrem auch sonst | |
| fanatischen Gottesglauben, doch ist eben auch zu lesen, welchem Stress, | |
| welchen Ängsten und Demütigungen Mary Tudor zeitlebens ausgesetzt war. | |
| Mit dieser psychologischen Ebene bleibt Gehrmann allerdings angenehm | |
| zurückhaltend. Das mag daran liegen, dass Mary selbst die Erzählerin ihrer | |
| Geschichte in kurzweiligem Ton ist. Auch ansonsten wird das Material, | |
| welches das tragische Leben der Mary Tudor bietet, nicht überstrapaziert. | |
| Es ist weniger die sprachliche Erzählung als die Bildebene, auf der sich | |
| Gehrmann dem Gefühlsleben ihrer Protagonistin vorsichtig nähert. So gibt es | |
| immer wieder Panels mit Close-ups von Marys Händen: mal zum Gebet gefaltet, | |
| mal beim Notlügen mit gekreuzten Fingern, dann wieder zu Fäusten geballt. | |
| ## Fein gearbeitete Verläufe | |
| Und wo wir von Blut sprachen: Dunkelrot kommt das Buch daher, auf dessen | |
| Cover die großäugige und stupsnasige Mary abgebildet ist, der man die | |
| Manga-Sozialisierung Gehrmanns zumindest ein bisschen ansehen kann. | |
| Farblich gibt es aber auch zwischen den Buchdeckeln Einiges zu sehen. Wie | |
| das Making-of am Ende des Buchs verrät, steckt Gehrmann bemerkenswert viel | |
| Zeit in das Kolorieren ihrer Linienzeichnungen. Tatsächlich werden | |
| Narration und Zeichnungen durch die Vielfarbigkeit und die fein | |
| gearbeiteten Verläufe noch um eine weitere Konstante ergänzt, die | |
| Stimmungen transportiert und affektiv erzählt. | |
| Auch ohne größeres historisches Vorwissen lässt sich den Verwicklungen und | |
| verwirrenden Machtspielen gut folgen, ohne dass die Komplexität zugunsten | |
| der Übersichtlichkeit verloren ginge. Das macht „Bloody Mary“ nicht nur | |
| lesenswert, sondern Gehrmann beweist auch erneut eine Erkenntnis ihrer | |
| früheren Arbeiten. Nämlich, dass die Adaption von Romanen oder | |
| historischen Stoffen in Form von Graphic Novels nicht notwendigerweise | |
| bloße Vereinfachung bedeutet. | |
| Und wer „Bloody Mary“ dann übrigens bis zum Ende blättert, bekommt im | |
| Anhang nicht nur ein paar leser:innenfreundliche Infos zu | |
| historischen Persönlichkeiten, sondern erfährt an dieser Stelle auch, wer | |
| die Protagonistin von Kristina Gehrmanns nächstem Comic sein wird. Klingt | |
| fast, als wäre eine neue Trilogie in Planung. | |
| 29 May 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva Königshofen | |
| ## TAGS | |
| Graphic Novel | |
| Comic | |
| Britisches Königshaus | |
| Deutscher Comic | |
| Deutscher Comic | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Preisgekrönter Comic „Anna“: Vom Großsein als Frau | |
| Mia Oberländers Comic „Anna“ erzählt mit feinem Humor von drei Frauen, die | |
| größer gewachsen sind, als es die gesellschaftliche Norm erlaubt. | |
| Graphic Novel über Wilhelm II.: Kaiser mit Hackebeil | |
| „Der Kaiser im Exil“: Jan Bachmanns groteske Graphic Novel ist vielleicht | |
| das Lustigste, was die Hohenzollern-Debatte zu bieten hat. |