# taz.de -- Graphic Novel über Ärzte ohne Grenzen: Ein Geist im Gepäck | |
> Realer denn je: In Judith Vanistendaels Graphic Novel „Penelopes zwei | |
> Leben“ entscheidet sich eine Ärztin dafür, Menschen in Krisengebieten zu | |
> retten. | |
Bild: Die Mutter ist weit weg, die Oma muss der Tochter den Gebrauch eines Tamp… | |
„Ich webe nicht. Ich warte nicht“, heißt es zu Beginn von Judith | |
Vanistendaels neuester Graphic Novel. Die belgische Illustratorin spielt | |
damit auf die mythologische Erzählung des herumirrenden Odysseus und seiner | |
treu ergebenen, auf ihn zu Hause wartenden Frau Penelope an. | |
Penelope heißt auch Vanistendaels Protagonistin, doch anders als in der | |
griechischen Mythologie webt und wartet diese eben nicht, sondern zieht aus | |
in die weite Welt, um als Ärztin ohne Grenzen in Syrien zu arbeiten. | |
Wer in „Penelopes zwei Leben“ stattdessen wartet, sind Tochter und Ehemann. | |
Beide hat Penelope zu Beginn der Geschichte seit nun mehr vier Jahren nicht | |
mehr gesehen. Ihrer mittlerweile 18-jährigen Tochter Helena widmet sie das, | |
wovon die folgenden Seiten handeln. | |
## Konträre Welten | |
Ihre Erzählung beginnt Vanistendaels mit einem Rückblick auf die Zeit von | |
vor vier Jahren und mit einem harten Bruch. Auf zwei übereinanderlaufenden | |
Strips stellt sie zwei völlig konträre Welten einander gegenüber: Auf dem | |
unteren Streifen sind zerstörte Straße zu sehen, Männer, die einen Körper | |
auf einer Trage transportieren, grüne Kittel und Plastikhandschuhe, | |
Krankenhausutensilien, ein scheinbar bewusstloses Mädchen und Blut – immer | |
wieder Blut. | |
Blut sehen wir auch auf dem Streifen darüber, der in seinen Panels eine | |
viel ruhigere Atmosphäre zeichnet. Hier schläft die damals 14-jährige | |
Helena in ihrem Bett in Brüssel, während ihre Mutter in Aleppo versucht, | |
einem gleichaltrigen Mädchen das Leben zu retten. Wo der Verlust des Blutes | |
bei der einen das Leben gefährdet, initiiert er bei der anderen einen neuen | |
Abschnitt – denn Helena bekommt ihre erste Periode. | |
Vanistendael selbst sei nicht in Syrien gewesen, erzählt sie im Podcast | |
Kompressor, einem Format vom Deutschlandfunk Kultur. Stattdessen habe sie | |
mit einem Mediziner gesprochen, der durch „Ärzte ohne Grenzen“ bereits in | |
Kriegsgebieten gearbeitet habe. | |
## Menschenunwürdige Zustände | |
Außerdem besuchte sie 2017 das mittlerweile abgebrannte Flüchtlingslager | |
Moria auf Lesbos. Ihre beeindruckende zeichnerische Reportage von den | |
menschenunwürdigen Zuständen dort ist ihrer aktuellen Graphic Novel | |
angehängt und füllt die letzten zehn Seiten, hätte aber gut und gern ein | |
eigenes Buch verdient. Eine Ärztin, die sie vor Ort traf, diente der | |
Illustratorin als Vorbild für ihre Penelope. | |
Penelopes Patientin stirbt auf den ersten Seiten, und die Ärztin kehrt | |
zurück nach Hause, um Weihnachten mit ihren Liebsten zu verbringen. Müde | |
und abgekämpft kommt sie am Brüsseler Flughafen an – abholen tut sie schon | |
lange niemand mehr. | |
Auch die Begrüßung von Mann und Kind fällt wenig euphorisch aus: kein | |
Jubel, keine Umarmung, bloß die Anerkennung darüber, dass Penelope | |
heimgekehrt ist. An Liebe und Zuneigung fehlt es Vanistendaels erdachter | |
Familie zwar nicht, durch ihre vielen Auslandseinsätze scheint Penelope | |
aber fremd im eigenen Leben geworden zu sein. | |
## Der Geist des toten Mädchens | |
Auch kann sie das, was sie als Ärztin im Krieg erlebt hat, nicht einfach | |
vor Ort lassen. Mit ihr im Gepäck reist der Geist des toten Mädchens. Rot | |
wie ihr verlorenes Blut entsteigt sie Penelopes Tasche und begleitet sie | |
durch den beschaulichen Familienalltag; sitzt in der Ecke, wirft sich um | |
Penelopes Hals und teilt mit ihr und ihrem Mann Otto das Bett. Auch bei der | |
psychologischen Supervision ist der Geist an ihrer Seite und deutet an, was | |
Therapeut*innen als posttraumatische Belastungsstörung diagnostizieren | |
würden. | |
Benannt werden muss das nicht. Vanistendael gelingt es, und zwar weniger | |
durch ihre Sprechblasen als durch den Gebrauch mal sanfter, mal kräftigerer | |
Aquarellfarben, komplexe Stimmungen verständlich zu transportieren. Immer | |
da, wo sich die Emotionen verdichten – etwa wenn sich Penelope über die | |
Banalität ihres belgischen Alltags ärgert, sie sich von ihrer Familie | |
unverstanden fühlt, sie und Otto sich lieben oder bei ihren Therapiestunden | |
–, tritt die Aquarellfarbe über die schwarzen Konturen oder löst sie gar | |
auf. | |
Was sich nicht aufzulösen scheint, ist der innere Konflikt, der Penelope | |
begleitet. Ihre beiden Leben lassen sich nicht miteinander vereinbaren, | |
eine Erkenntnis, die schleichend einsetzt. Penelope trifft eine | |
Entscheidung, für die sich Frauen heute immer noch rechtfertigen müssen. | |
„Weißt du“, erklärt Otto seiner Tochter beim Abendessen, „nach deiner | |
Geburt wurde die Frau, die ich liebte, Mutter. Alle erwarteten, dass sie | |
dich künftig wichtiger finden würde als alles andere.“ Dass sie andere | |
Prioritäten gesetzt habe, Penelope sich weigerte „eine Maske zu tragen“, | |
habe ihn erst verstört, dann beeindruckt. | |
In dieser Szene, in der Vanistendael dem Gesicht der Protagonistin eine | |
tatsächliche Maske verpasst, schwingt mit, welchen gesellschaftlichen | |
Erwartungen Frauen ausgesetzt sind: Spätestens wenn sie Mütter werden, zum | |
Wohle ihrer Kinder auf ein eigenständiges Leben zu verzichten. Doch dieses | |
Opfer zu bringen, ist Penelope nicht bereit. Sie wählt ihre Berufung – das | |
Leben fremder Menschen zu retten – und verlässt die Familie wieder, während | |
sich ihr Odysseus die Maske der Care-Arbeit aufsetzt. | |
## Mütter tragen Hauptlast | |
Gerade die Pandemie verdeutlicht, wie weit unsere Gesellschaft noch davon | |
entfernt ist, dass Frauen mit Kindern ihren Jobs vorbehaltlos nachgehen | |
können. Mareice Kaiser, Chefredakteurin des feministischen Magazins Edition | |
F, schreibt auf Instagram dazu: „Seit Monaten schaffe ich weniger, denn | |
meine Hauptaufgabe ist es, mich um mein Kind zu kümmern.“ Das sei politisch | |
so gewollt, erwerbstätige Mütter trügen die Hauptlast der Krise, während | |
sich Männer als Experten zur Pandemie äußern würden. | |
Zwar spielt „Penelopes zwei Leben“ in einer Welt fern von Corona und doch | |
wirkt Vanistendaels Geschichte realer denn je. Wünschenswert wäre, sie | |
zeichnete eine Zukunftsvision, in der sich Frauen nicht mehr dafür schämen | |
oder erklären müssten, wenn sie ihren Beruf priorisierten, sondern wie | |
Penelope den Rücken von den Vätern gestärkt bekämen. | |
Und in dieser Vision webt und wartet eben Odysseus auf seine Penelope. | |
29 Apr 2021 | |
## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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