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# taz.de -- Neue Graphic Novels: Sommernachtsträume
> Sinn und Sinnlichkeit verbindet die Graphic Novels „Senso“ von Alfred
> sowie „Der ferne schöne Klang“ von „Titeuf“-Zeichner Zep.
Bild: Germano, Protagonist in „Senso“, ist eher altmodisch: Er hat kein Han…
Pralles Getümmel an einem süditalienischen Provinzbahnhof. Gerade ist ein
Zug eingefahren. Eine Lautsprecherstimme entschuldigt sich für
Verspätungen, Sprachfetzen der Reisenden überlagern sich. Der
Bahnhofsvorplatz füllt sich mit Leuten, die von Autos abgeholt werden und
dann auseinanderströmen. Danach ist die stazione wieder leer. Nur Germano
steht noch da, und wundert sich, warum er nicht abgeholt wird. In der
sengenden Mittagsglut macht er sich auf den Weg zu seinem Hotel.
Der Comiczeichner Alfred ist ein Meister darin, Stimmungen zu erschaffen.
Wie er das Gewusel und Stimmengewirr am Bahnhof in Bildern darstellt und
auflöst, ist handwerklich virtuos. Seine Statisten sind nicht einfach
Staffage, mit pointierten Strichen zeichnet er sie als eigenständige
Charaktere, um die herum man eigene Geschichten erzählen könnte.
Doch sein Protagonist in „Senso“ ist Germano, ein mittelalter, schmaler und
schüchterner Typ mit Bart und Brille, der etwas verloren wirkt und noch
nicht mal ein Handy hat. Im Hotel angekommen, erfährt der Erschöpfte, dass
seine Reservierung aufgehoben wurde und alle Zimmer belegt sind. Eine
Hochzeitsgesellschaft besetzt das komplette Hotel!
Doch der Bräutigam ist ausgerechnet ein korpulenter alter Bekannter
Germanos, der ihn jovial „Verkackarsch“ nennt (warum, erfahren wir später)
und ihm ständig dröhnend lachend auf die Schulter klopft.
## „Senso“, eine tragikomische Geschichte um einen Antihelden
Germano ist aber aus einem ganz bestimmten und gänzlich anderen Grund hier.
Anna hat eine Ausstellung im Ort (und wer Anna ist, erfahren wir
schließlich am Ende). Germano findet sich seufzend damit ab, die Nacht auf
dem Sofa in der Lobby zu verbringen, während die Hochzeitsfeier so richtig
in Schwung kommt. Neben dem grimmigen Portier lernt Germano bald auch einen
Partygast, die stets gut gelaunte Elena, näher kennen.
Der 1976 in Grenoble geborene französische Zeichner Alfred (bürgerlich:
Lionel Papagalli) ist auch italienischer Herkunft, [1][was sich schon in
seiner letzten Graphic Novel „Come Prima“ niederschlug.] Diese war im
ländlichen Italien der 1950er Jahre angesiedelt und wurde 2014 auf dem
Comicfestival von Angoulême mit dem Preis des besten Albums ausgezeichnet.
In „Senso“ erzählt Alfred nun die tragikomische, alltägliche Geschichte um
den sympathischen Antihelden Germano. Mit kräftigem, schwungvollem
Pinselstrich gelingt es ihm, seine durchweg liebenswerten, leicht karikiert
gezeichneten Charaktere zum Leben zu erwecken, vor ausgesprochen idyllisch
wirkender südlicher Kulisse. Die warmen, expressiven Farben treffen
vorzüglich die Stimmung eines Sommertages, während es sich in den
bläulich-düsteren Nachtszenen auch mal leicht gruseln lässt.
Der Titel „Senso“ ist mehrdeutig, verweist auf einen nicht näher
definierten – höheren? – Sinn oder aber auch auf erwachende Sinne, wenn
etwa in Lebensritualen gefangene Großstädter lange verschüttete Gefühle
wiederentdecken. Spätestens als sich Elena und Germano bei Einbruch der
Nacht in einem verwunschen wirkenden wilden Park verlieren, verwandelt sich
die Geschichte in einen leicht surrealen Traum.
## „Der ferne schöne Klang“ – eine Sommergeschichte
Einen Sommernachtstraum. Der Flirt der beiden „gut gereiften“ Charaktere –
des zurückhaltenden Germano mit der Stirnglatze und der selbstbewussten
Elena mit der Knollennase und grauem Pagenkopf – ist reich an Komik und
zugleich lebensnah. Auch ein kleiner, ganz realer Amor treibt sich immer
in der Nähe herum.
Am Ende der mit vollendeter Leichtigkeit erzählten erotischen
Sommernachtskomödie wird vieles klar, und doch bleibt manches offen – wie
das Rätsel um das zärtlich in sein Liebesspiel vertiefte junge Paar, das
die Erzählung in einer Art Rahmenerzählung begleitet.
Einen wesentlich ernsteren Ton schlägt der Schweizer Zeichner Zep (Philippe
Chappuis, Jahrgang 1967) in seiner Graphic Novel „Der ferne schöne Klang“
an – auch eine Sommergeschichte.
Sie beginnt mit dem monotonen Alltag des Kartäusermönchs Bruder Marcus, der
seit 25 Jahren in einem abgelegenen Kloster lebt und strengen Ritualen
wie dem Schweigegelübde folgt. Die Nachricht vom Tod seiner reichen Tante
Elise, bei der er aufwuchs, reißt ihn aus seinem Trott. Da er zur
Testamentseröffnung in Paris erwartet wird, folgt er – eher widerwillig –
der Einladung und begibt sich in seiner Kutte auf die Reise.
## Aus dem Leben eines Mönchs
Die Zugfahrt, die Begegnung mit Menschen und die urbanen Eindrücke
konfrontieren ihn wieder mit dem „Leben“. Er erinnert sich an seine Tante,
an die Zeit, als er noch William hieß, und lernt im Zug die hübsche, kranke
Mery kennen. Beim Notar sieht er seinen Cousin Gabriel und seine Cousine
Tolede wieder, die er seit der Kindheit nicht mehr sah. Er verbringt mit
ihnen den Abend.
Nach dem Erhalt der für ihn überraschenden Erbschaft – und einer hübschen
ironischen Spitze seiner Tante, die hier nicht verraten werden soll –
beschließt er, Mery aufzusuchen.
Zep zeichnet in feinen Linien sanfte Impressionen aus dem Leben eines
Mönchs, der seine sehr frühe Entscheidung, dem Leben zu entsagen, nie
bereut hat. Und doch wird die Reise zur Prüfung: Bruder Marcus scheint sich
zu verändern, vielleicht wieder zu William zu werden.
In pointierten inneren Monologen wird deutlich, dass er die alltäglichen
Erlebnisse seiner Reise als kleine Wunder wahrnimmt. Er erkennt die
Vielfalt des Lebens, entdeckt Gerüche wieder, die er vergessen hatte. Und
lässt sich sogar auf eine Liaison ein. Wird der Mönch nun abtrünnig, oder
bleibt er seiner Bruderschaft treu?
## Zeichner Zep ist mehr als seine bekannteste Figur „Titeuf“
Zep hat sein Szenario äußerst kunstvoll gewoben – in manchen Sequenzen
kontrastiert er den Dialog mit widersprechenden Gedanken oder Erinnerungen
Williams, um so bloßzulegen, dass auch dieser manchmal lügt, um manches
Geheimnis für sich zu behalten. Der Zeichner setzt auch Nadelstiche gegen
die Bigotterie: wenn etwa der Prior die mögliche Millionenerbschaft als
„Antwort des Herrn auf unsere Gebete“ deutet, um undichte Teile des
Klosters sanieren zu lassen.
Die tiefe Religiosität seines Protagonisten stellt Zep nicht infrage.
Williams Zweifel gehören zur Bestätigung seines Glaubens, wie auch seine
Wiederentdeckung der (körperlichen) Liebe neue Alternativen eröffnet. Zeps
respektvolle Charakterstudie kann so auch als unerhörte, auf subversive
Weise lästerliche Erzählung gelesen werden.
Zugleich ist sie eine philosophische Meditation, die zwischen
Ernsthaftigkeit und feinem Humor pendelt.
Kurios, dass Zep (sein Pseudonym ist eine Hommage an die Rockgruppe Led
Zeppelin) vor allem durch seine derben, im Cartoonstil gezeichneten Comics
um den Pubertierenden „Titeuf“ sehr erfolgreich und bekannt ist.
[2][Seit 2013 veröffentlicht der Schweizer auch anspruchsvolle realistisch
gezeichnete Graphic Novels] wie diese, die stilistisch einen leicht
wiedererkennbaren „Zep-Touch“ haben. Seine feinen, stimmungsvollen
Tuschezeichnungen verzichten dabei auf Panelrahmen und werden mit
monochromen, pastellenen Farbflächen unterlegt.
5 Jul 2021
## LINKS
[1] /17-Comic-Salon-in-Erlangen/!5305096
[2] /Comics-vom-Ende-der-Welt/!5701693
## AUTOREN
Ralph Trommer
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