| # taz.de -- Autorin und ehemalige Busfahrerin: „Ein halbes Hochhaus auf Räde… | |
| > Busfahren ist für Frauen immer noch eine schwierige Berufswahl. Bei einem | |
| > Spaziergang über die Potsdamer Straße erklärt Susanne Schmidt, warum. | |
| Bild: Als Busfahrerin ist Susanne Schmidt am liebsten die Strecke des M48ers ge… | |
| Die Busstrecke des M48ers sei ihr die Liebste, sagt Susanne Schmidt, denn | |
| sie bilde einen „schönen Querschnitt der gesamten Stadtbevölkerung“ ab. W… | |
| treffen uns an der Haltestelle Kurfürstenstraße, damit die 61-Jährige von | |
| ihrer Zeit bei der „BVG Familie“ und den Erlebnissen als Busfahrerin in | |
| Berlin erzählen kann. | |
| Gekommen ist sie heute mit dem Fahrrad. Als Busfahrerin war sie aber häufig | |
| mit dem M48er unterwegs. „Auf dieser Strecke habe ich an jeder Haltestelle | |
| ein neues Glücksgefühl empfunden“, erzählt sie. Warum? | |
| „Weil immer wieder tolle neue Leute einsteigen.“ In Zehlendorf an der | |
| Busseallee, wo der Bus in diese Richtung startet, sei es eher ruhig | |
| gewesen. Je weiter man dann in die Stadt gekommen sei, desto belebter wurde | |
| es, sagt Schmidt. | |
| Besonders den Abschnitt, den wir heute begehen, liebe sie sehr. Als | |
| alteingesessene Schönebergerin weiß sie die gesellschaftliche Mischung der | |
| Potsdamer Straße zu schätzen. Früher war hier der sogenannte Babystrich, | |
| auf dem sich Minderjährige prostituierten. | |
| ## BVG sucht „ältere Frauen“ für ihre Busflotten | |
| Auch heute noch gilt die Ecke zwischen dem Sexkaufhaus LSD auf der | |
| Schöneberger Seite und der gegenüberliegenden Woolworth-Filiale, die schon | |
| zum Bezirk Mitte-Tiergarten zählt, als [1][Zentrum der Berliner | |
| Straßenprostitution]. Ein krasser Gegensatz zu den [2][Galerien und | |
| schicken Modeboutiquen], die sich seit einigen Jahren schon hier ansiedeln. | |
| Unweit von hier, in der Nummer 139, befindet sich die Begine, ein | |
| Kulturverein für Frauen, der seinen Ursprung in der | |
| Besetzer*innenszene der Achtzigerjahre hat, sagt Susanne Schmidt. Die | |
| Begine sowie „das beste Absturzlokal Berlins“ (Anm. d. Redaktion: So heißt | |
| es bei Wikipedia), das Kumpelnest 3000 in der Lützowstraße, die wir | |
| kreuzen, kennt sie noch aus ihrem ersten Jahrzehnt in der Hauptstadt. | |
| Nach Berlin gekommen ist sie 1976. Gearbeitet hat sie seitdem bereits als | |
| Erzieherin, Drehbuchautorin, Stadtführerin und Social-Media-Managerin. | |
| 2015 bewarb sie sich bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG), nachdem | |
| diese per Anzeige ausdrücklich nach „älteren Frauen“ für ihre Busflotten | |
| gesucht hatten. | |
| Studien zufolge sollen ältere Frauen im Straßenverkehr entspannter und | |
| weniger schnell abgelenkt sein sowie in schwierigen Situationen | |
| deeskalierend agieren. Das und eine bis dahin eher bescheidene Frauenquote | |
| von etwas mehr als 17 Prozent hatte zum eindeutigen Gesuch der BVG geführt, | |
| das Susanne Schmidt zu ihrem damaligen Job verhalf. | |
| ## „Machen sie mal zügig die Mitteltür frei“ | |
| „Wie toll, dass endlich mal das Alter und die Erfahrung gesucht werden!“, | |
| schreibt Schmidt in ihrem im Frühjahr erschienenen Buch [3][„Machen sie mal | |
| zügig die Mitteltür frei“ (Hanserblau, Berlin)] – quasi die Zauberformel | |
| unter Busfahrer*innen. An Erfahrungen mangelte es ihr nicht, doch gehören | |
| Frauen höheren Alters sonst nicht zu den am häufigsten gesuchten | |
| Neueinsteigerinnen. | |
| Dass ausgerechnet die BVG so modern daherkäme, hätten sich ihre | |
| Mitbewerberinnen und sie nicht gedacht, schreibt Schmidt. Doch dass die | |
| 1928 gegründeten Verkehrsbetriebe längst nicht so fortschrittlich sind, wie | |
| es ihr Jobangebot vermuten lässt, lernen die neuen Fahrschülerinnen | |
| schnell. | |
| Von den Alteingesessenen – hauptsächlich Männern – hat hier keiner auf die | |
| wagemutigen Frauen gewartet. „Ihr glaubt wohl, nur weil ihr Frauen seid, | |
| kommt ihr her und schnappt uns unsere Jobs weg“, heißt es gleich vom ersten | |
| Ausbilder, „aber da habt ihr euch geschnitten.“ Dies ist nur einer von | |
| vielen Sätzen, die deutlich machen, wie wenig sich hier auf die weiblichen | |
| Busfahrerinnen eingestellt werden will. [4][Misogynie und verstaubte | |
| Ansichten] sind an der Tagesordnung. | |
| Niemand habe in Erwägung gezogen, dass viele der Neubewerberinnen sich | |
| morgens um Kinder zu kümmern und nach dem Dienst Hausarbeit zu erledigen | |
| haben, erzählt Schmidt, während wir die Potsdamer Straße entlang an | |
| Dönerbuden, Secondhandshops und Galerien laufen. „Ich habe früh angefangen, | |
| mir Notizen zu machen“, so unglaublich sei ihr der verstaubte Betrieb | |
| vorgekommen. | |
| ## Für Busfahrer*innen ist die BVG ihre Familie | |
| Den Notizen sei Dank, folgt ihr Buch einer chronologischen Reihenfolge vom | |
| Einstellungsgespräch über den theoretischen und praktischen Unterricht bis | |
| hin zum auslaugenden Schichtbetrieb. Die Regeln und die unlogisch wirkende | |
| Arbeitszeiteinteilung kritisiert sie dabei scharf. Zwar war von Anfang an | |
| von Schichtdienst die Rede, doch dessen Umsetzung stellte Susanne Schmidt | |
| sich anders vor. Statt wöchentlich wechselnder Dienstzeiten sah jeder Tag | |
| anders aus. | |
| „In dieser Woche beginnt um 4.46 Uhr, um 7.39 Uhr, um 9.34 Uhr, um 3.53 | |
| Uhr, um 6.01 Uhr und um 5.40 Uhr die Arbeit“, schreibt Schmidt. Die Zeiten | |
| entnimmt sie kleinen Zetteln, die sie immer bei sich trägt. Was nirgendwo | |
| abzulesen ist, ist wie man Freizeit und Schlaf nach den Unregelmäßigkeiten | |
| planen soll oder, um es in Schmidts Worten zu sagen: „Wie funktioniert die | |
| innere Uhr, wenn die äußeren Begebenheiten ständig wechseln?“ | |
| Nach der Ausbildung wird jede*r Busfahrer*in einem der sechs | |
| Betriebsbahnhöfe zugeteilt, die jeweilig zu befahrenden Strecken wechseln | |
| von dort aus täglich. Nur weil man seine Schicht im X9er beginnt, heißt das | |
| nicht, dass man sie auch dort beendet. Keine Routine, keine Regelmäßigkeit | |
| – für die Busfahrer*innen ist die BVG ihre Familie und der widmet man | |
| seine ganze Zeit. | |
| Beschwerden prallen mit den Worten „wir machen das schon immer so“ ab, und | |
| auch Vorschläge, die das Fahren durch die Stadt besonders für | |
| Anfänger*innen erleichtern könnten, werden nicht angenommen. So | |
| verfährt sich Susanne Schmidt anfangs, übersieht Bushaltestellen oder biegt | |
| falsch ab. Doch die Benutzung eines Navigationssystems wird als zu | |
| ablenkend angesehen, dabei ist sie nicht die Einzige, der das passiert. | |
| ## „Sich-dick-Machen“ ist für Frauen nicht vorgesehen | |
| Trotz aller Widrigkeiten ist die Leidenschaft fürs Busfahren sowohl ihrer | |
| Abschrift als auch den Erzählungen bei unserem Spaziergang zu entnehmen. An | |
| der Haltestelle Potsdamer Platz hält ein Doppeldecker der Linie M85. „Der | |
| Doppeldecker ist einfach der schönste Bus“, schwärmt Susanne Schmidt mit | |
| Blick auf das gelb-schwarze Ungetüm. „Wie ein halbes Hochhaus auf Rädern“, | |
| dabei führen sich die Fahrzeuge trotz der zwei Etagen sehr angenehm. | |
| Gemeinsam beobachten wir, wie der Bus an der nächsten Kreuzung links | |
| abbiegt. Eineinhalb Spuren braucht der Fahrer dafür, die Autos hinter ihm | |
| müssen wohl oder übel warten und Platz machen. „Manchmal braucht es gut und | |
| gerne auch zwei Spuren, um so einen Bus um die Kurve zu manövrieren“, | |
| erzählt Schmidt. „Sich-dick-Machen“, nannte das Anita, die einzige | |
| weibliche Fahrlehrerin bei der BVG. Diese Anekdote im Buch ist besonders | |
| schön. | |
| Denn Sich-dick-Machen ist in unserer Gesellschaft für Frauen eher nicht | |
| vorgesehen. „Wir haben von klein auf gelernt, Platz zu machen, statt uns | |
| Platz zu nehmen“, schreibt Schmidt. Dieses Durchbrechen anerzogener | |
| Stereotype habe sie fasziniert, sagt sie, und sei eine wunderbare Lektion | |
| fürs Leben gewesen. | |
| Beim Busfahren ist es aber eine Notwendigkeit, denn den Platz braucht so | |
| ein großes Fahrzeug einfach. Im Berliner Straßenverkehr werde viel zu wenig | |
| Rücksicht auf Busse genommen, dabei sind sie, laut Schmidt, „das wichtigste | |
| Verkehrsmittel auf der Straße“. Denn im Gegensatz zu Autos und Fahrrädern | |
| ist der Bus für die Gemeinschaft da. | |
| ## „Ein Bus zeigt den Zustand einer Gesellschaft“ | |
| Leider werde der Bus aber als Störung wahrgenommen und ständig geschnitten. | |
| Dass das für alle Insass*innen gefährlich ist, daran würden andere nicht | |
| denken. Hauptsache, man komme schnell an ihm vorbei. | |
| Der Verkehr ist ein Grund für die ständigen Verspätungen der Busse. | |
| Insgesamt werde aber vor allem zu wenig Zeit für die Strecken eingeplant, | |
| erzählt Schmidt. Für die Strecke des M48er habe sie knapp eine Stunde Zeit | |
| gehabt; bei über vierzig Haltestellen, die die Linie zu Schmidts Zeiten | |
| anfuhr, sei das nicht zu schaffen gewesen. Vermutlich wurde die Strecke | |
| deshalb verkürzt: Heute fährt der M48 nur noch 38 statt 43 Stationen an. | |
| Ob Zeitmangel, Druck und prekäre Arbeitsbedingungen auch für die fast schon | |
| legendäre Unfreundlichkeit der Berliner Busfahrer*innen verantwortlich | |
| sind, vermag Schmidt nicht zu beantworten. Möglich wäre es. In ihrem | |
| Charakter sei das nicht angelegt, sie habe sich immer gefreut, wenn | |
| Fahrgäste eingestiegen seien. | |
| Den Mythos der unfreundlichen Fahrerin habe sie nicht bedienen wollen, | |
| schließlich kann jeder noch so kleine Kontakt einen positiven Einfluss auf | |
| den hektischen Alltag in der Großstadt haben. „Ein Bus zeigt viel mehr den | |
| Zustand einer Gesellschaft, als uns bewusst ist“, sagt sie, während wir den | |
| Rückweg nach Schöneberg antreten. | |
| Dass sie diesen Zustand nicht mehr als Busfahrerin positiv beeinflussen | |
| kann, ist schade. Susanne Schmidts entspanntes und heiteres Gemüt hätte den | |
| Verkehrsbetrieben sicher gut zu Gesicht gestanden. Doch die Umstände | |
| machten es für sie unmöglich, den Beruf längerfristig auszuüben. | |
| Nach einer Krankschreibung, die unmittelbar mit ihrer Tätigkeit zu tun | |
| hatte, verließ sie die BVG. „Die Arbeitsbedingungen konnten sie nicht | |
| ändern“, sagt sie, „also wurde ich gekündigt.“ Groll ist ihren Worten n… | |
| zu entnehmen, kritisch gegenüber den eingefahrenen Betriebsstrukturen sind | |
| sie dennoch. | |
| 12 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophia Zessnik | |
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