# taz.de -- Die Potsdamer Straße als neue Toplage: Warten auf das Wirtschaftsw… | |
> Schmuddelkind, schick – die Potsdamer Straße ist beides. Auch Sony Music | |
> richtet sich nun hier ein, „Im Wirtschaftswunder“ heißt das Bauprojekt. | |
Bild: Hinter der Hochbahn bereits im Umbau zum „Wirtschaftswunder“, die alt… | |
Aus der Ferne sieht es so aus, als habe sich der Verpackungskünstler | |
Christo an der früheren Zentrale der Berliner Commerzbank ausgetobt. Die | |
Fassade des siebenstöckigen Gebäudes an der Potsdamer Straße in Schöneberg | |
ist mit weißer Folie verkleidet. Auf dem Baugerüst hinter dem Vorhang hört | |
man Maschinen hämmern und bohren und Arbeiter schreien. Drei riesige Kräne | |
schweben über der Baustelle, die sich um den ganzen Block bis zur | |
Steinmetzstraße erstreckt. | |
Bis Ende 2020 soll hier ein „New Work Areal mit hoher Aufenthaltsqualität“ | |
öffnen. „Im Wirtschaftswunder“ heißt das Projekt der Pecan Development, d… | |
das Vorhaben auf dem ehemaligen Gelände der Commerzbank realisiert. Zu den | |
Kosten macht Pecan keine Angaben. Von insgesamt 27.000 Quadratmeter | |
Bürofläche, die hier entstehen, sind 16.000 Quadratmeter bereits vermietet: | |
KWS Saat, eines der größten Pflanzenzüchtungsunternehmen der Welt, zieht | |
mit 350 Leuten ein. Und, für die Musikszene interessant: Sony Music verlegt | |
seinen deutschen Hauptsitz und die Zentrale Continental Europe von München | |
an die Potsdamer Straße. Rund 400 Arbeitsplätze und ein Aufnahmestudio | |
richtet der weltweit zweitgrößte Musikkonzern ein, der damit nach 15 Jahren | |
an die Spree zurückkehrt. | |
Oft wird behauptet, Berlin sei für die Kreativbranche nicht mehr | |
interessant. Jan Kunze, als Projektentwickler von Pecan Development | |
zuständig für das Bauvorhaben an der Potsdamer Straße, sieht das anders: | |
„Berlin ist international hochspannend für Nutzer aus dem kreativen | |
Bereich.“ Philipp von Esebeck, Finanzchef von Sony Music Deutschland, | |
Continental Europe und Afrika, sagt, dass Berlin zwar nicht mehr das sei, | |
was es vor 20 Jahren war. Dass aber, anders als anderswo in Deutschland, | |
hier immer noch viel entstehen könne. „In München ist alles fertig“, so | |
Esebeck. „Berlin ist der deutlich größere Teich, an dem man fischen kann, | |
was kreative Talente angeht.“ ([1][Interview mit Philipp von Esebeck]) | |
Noch ist unklar, welche weiteren Unternehmen das Pecan-Projekt beziehen. | |
Auch für die 3.000 Quadratmeter im Erdgeschoss für kleine Läden und | |
Gastronomie werden noch Mieter gesucht. Eines lässt sich aber schon jetzt | |
sagen: Mit der Ankunft von Sony & Co erfährt nun auch der südliche Teil der | |
Potsdamer Straße eine deutliche Aufwertung. | |
Denn anders als der nördliche Teil der Straße, in dem sich zunehmend teure | |
Galerien, Boutiquen und Restaurants breit machen, hat das südliche Pendant | |
noch viel von seiner ursprünglichen Geschäftsstruktur und Mischung bewahrt. | |
Einzelne Gentrifizierungsopfer indes sind aber auch dort schon zu beklagen: | |
Die autonomen Jugendzentren [2][Drugstore und Potse] haben ihre Räume nach | |
46 Jahren verloren. | |
## Eine der verkehrsreichsten Straßen | |
Die Potsdamer Straße, mal liebevoll, mal verächtlich auch Potse genannt, | |
führt vom Kleistpark zum Potsdamer Platz. Täglich durchfahren sie | |
Abertausende Autos, die Straße ist eine der verkehrsreichsten der Stadt. | |
Gleich am Kleistpark steht das Kammergericht, bis Mauerfall war es Sitz des | |
Alliierten Kontrollrats, in der Nazizeit verhängte dort der | |
Volksgerichtshof unter Roland Freisler seine Todesurteile. | |
Hausbesetzungen und Straßenschlachten prägten Anfang der 80er-Jahre das | |
Gesicht der Straße, die damals noch ein Bankenstandort war. Vor der | |
Zentrale der früheren Commerzbank, wo jetzt das „Wirtschaftswunder“ | |
entsteht, starb am 21. September 1981 der Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay. | |
Bei einem Polizeieinsatz nach Häuserräumungen wurde er von einem BVG-Bus | |
überfahren. In den 90er-Jahren traf sich auf der Potsdamer Straße die | |
Drogenszene. Mittlerweile sind an Stelle der ausgemergelten Junkies, von | |
der Polizei vertrieben, Obdachlose aus Osteuropa getreten. Vor den | |
türkischen Obst- und Gemüseläden sieht man sie betteln, in den Hinterhöfen | |
Mülltonnen durchstöbern. | |
Eines aber hat sich immer gehalten: die Prostitution. Seit Ende des 19. | |
Jahrhunderts existiert rund um den Bülowbogen ein Rotlichtmileu. Anders als | |
früher, als es auf der Straße noch viele Bordelle gab, handelt es sich | |
heute aber um eine von Drogensucht und organisiertem Menschenhandel | |
diktierte Armutsprostitution, die weitgehend auf der Straße abgewickelt | |
wird. | |
Die Kreuzung Kurfürstenstraße mit dem heruntergekommenen Sexkaufhaus LSD – | |
Love, Sex and Dreams – auf der einen und dem nicht weniger | |
heruntergekommenen Woolworth auf der anderen Seite markiert die | |
Gebietsgrenze. Nördlich gehört die Potsdamer Straße zum Bezirk Mitte, | |
südlich zu Tempelhof-Schöneberg. Das LSD sei kürzlich für 40 Millionen Euro | |
verkauft worden, heißt es. Auch Woolworth soll die Baupläne für eine | |
Aufstockung zu Büroetagen in der Schublade liegen haben. | |
## Mittlerweile eine Toplage | |
Immobilienexperten zufolge explodieren die Büromieten in Berlin gerade. Die | |
Potsdamer Straße mit ihrer Anbindung an drei U-Bahn-Linien sei „eine | |
Toplage“, heißt es. Nach Informationen der taz zahlt Sony Music pro | |
Quadratmeter 30 Euro Miete – also 240.000 Euro im Monat – an die Pecan | |
Development. | |
Der Schöneberger Norden – mit dem südlichen Teil der Potsdamer Straße, wo | |
sich nun der [3][Musikkonzern] ansiedelt – stand lange unter | |
Quartiersmanagement. Ein Drittel der Bevölkerung lebt dort von | |
Transferleistungen. Mehr als jedes zweite Kind ist von Kinderarmut | |
betroffen. Größter Eigentümer in dem Gebiet ist die städtische | |
Wohnungsbaugesellschaft Gewobag, was eine gewisse Mietenstabilität | |
garantiert. | |
Aber man kennt es aus anderen Bezirken, wie das mit der Gentrifizierung | |
funktioniert, wenn Softwareentwickler mit hohem Einkommen einen Kiez | |
fluten, die Mieten explodieren und familiengeführte Geschäfte nicht mehr | |
mithalten können. | |
Die Kreuzberger haben rechtzeitig die Reißleine gezogen, als Google im | |
früheren Umspannwerk in der Ohlauer Straße einen Campus mit 300 | |
Arbeitsplätzen für Start-ups einrichten wollte. Eine vergleichbare | |
Protestbewegung gibt es im Schöneberger Norden nicht. Dafür aber eine | |
Interessengemeinschaft Potsdamer Straße mit einer rührigen Vorsitzenden. | |
Aber muss es wirklich so schlimm kommen? Manche sehen in der Veränderung | |
auch eine Chance. | |
## Eine Festung für härtere Zeiten | |
Ein Ausbund an Schönheit war das Haus der Commerzbank nicht, das derzeit | |
unter dem Projektnamen „Im Wirtschaftswunder“ für Sony Music & Co umgebaut | |
wird. In ihrem 1983 erschienenen Buch über die Potsdamer Straße sprechen | |
Benny Härlin und Michael Sontheimer von einem grobschlächtigen Klotz. „Die | |
dunkelbraune metallbeschlagene Festung scheint bestens für härtere Zeiten | |
gerüstet zu sein.“ Gemeint waren die Straßenschlachten zwischen Polizei und | |
Hausbesetzern, die seinerzeit hier an der Potsdamer Straße Ecke Bülowstraße | |
tobten. | |
Die braunen Platten an der siebenstöckigen Fassade werden derzeit nun unter | |
Lärm und Getöse abmontiert und mit einem Lift in die Tiefe geschafft. | |
Jan Kunze, Geschäftsführer der Projektentwickler der | |
Grundstückseigentümerin Pecan Development, überlegt genau was er sagt, | |
bevor er spricht. Ob er sich als Gentrifizierer sehe? „Gute Frage.“ | |
Schweigen. Man müsse das so sehen, sagt Kunze, Mitte vierzig, schlank, | |
großes dunkles Brillengestell, dann: „Wir haben einen nach außen | |
verschlossenen Bankenstandort vorgefunden. Einen schweren, dunklen | |
Gebäudekomplex. Nach außen geschlossene Fassade, nach innen versiegelte | |
Parkflächen für Autos.“ | |
Anstelle der Parkplätze schaffe man in der Innenanlage nun Grünflächen. | |
Mikroklima und Geräuschkulisse würden sich so deutlich verbessern. Davon | |
profitiere auch die Nachbarschaft, selbst wenn der grüne Innenbereich an | |
sich den künftigen Mitarbeitern vorbehalten bleibe. | |
Auch die im Erdgeschoss entstehende Ladenzeile komme der Umgebung zugute. | |
Man müsse das auch im Vergleich zu vorher sehen, sagt Kunze. | |
„Kreativbranche und Namen wie Sony Music stehen doch für einen ganz anderen | |
Livestyle als eine Bank.“ | |
## Undurchsichtiges Geflecht | |
Die Baugenehmigung für die Pecan sei bereits erteilt gewesen, als er Ende | |
2016 ins Amt kam, erzählt Jörn Oltmann, grüner Baustadtrat von | |
Tempelhof-Schöneberg. „Ich halte die Ansiedlung von Sony aber für einen | |
Gewinn – nicht nur für Berlin, auch für den Schöneberger Norden.“ | |
Hat er keine Angst vor einer Gentrifizierung? Sind Drugstore und Potse kein | |
warnendes Beispiel? Den autonomen Jugendzentren war Ende 2018 ihr | |
Treffpunkt in der Potsdamer Straße 180 gekündigt worden. 46 Jahre hatten | |
sie dort ihre Werkstätten, Probe- und Konzerträume. Das Gebäude, einst im | |
Besitz der BVG, war in den letzten Jahren mehrfach verkauft worden. Die | |
neue Eigentümerin verbirgt sich hinter einem undurchsichtigen | |
Firmengeflecht. Nun wird vermutet, dass sich der internationale Coworking- | |
und Coliving-Riese Rent24 auf der Etage von Drugstore und Potse ausbreiten | |
will. Rent24 ist schon Mieter im Haus und im Nachbargebäude. | |
So offensichtlich wie bei den Jugendclubs, sagt Oltmann, sei | |
Gentrifizierung selten. Normalerweise erfolge Verdrängung eher schleichend. | |
Schon im Wohnungszusammenhang könne man diese Prozesse schwer greifen, im | |
gewerblichen sei es noch schwieriger. Dass die südliche Potsdamer Straße | |
von Gentrifizierung bislang weitgehend verschont geblieben ist, führt | |
Oltmann vor allem auf die Gewobag zurück, die in Schöneberg Nord 3.000 | |
Wohnungen und 400 Gewerbeeinheiten vorhält. | |
An dem früheren Bankenstandort tue der Potsdamer Straße eine Entwicklung | |
aber gut, meint der Baustadtrat. Die Läden in der Umgebung würden davon | |
profitieren. Aber man müsse die Neuen auch in die Pflicht nehmen. „Unter | |
der Fragestellung: Sony, was kannst du für deinen Kiez tun, wenn du dahin | |
ziehst?“ | |
## Lebensqualität und Aufwertung | |
Einen halben Kilometer weiter nördlich ist zu sehen, was passiert, wenn | |
neue kaufkräftige Menschen in einem Kiez Einzug halten. Nukleus der | |
Gentrifizierung ist der 2013 fertiggestellte Park am Gleisdreieck. An | |
dessen Rändern und in den Seitenstraßen der Potsdamer Straße sind viele | |
Eigentumswohnungen entstanden. Er habe nichts gegen die Veränderungen, sagt | |
Stephan von Dassel, grüner Bezirksbürgermeister von Mitte. „Wenn wir | |
wollen, dass mehr Lebensqualität in eine Straße zieht, hat das auch etwas | |
mit Aufwertung zu tun.“ | |
Grundstückseigentümer in der Potsdamer Straße ist auch die Immobilienfirma | |
Arnold Kuthe. Ihr gehören das Gelände, auf dem das Wintergarten Varieté | |
steht, und die Mercator Höfe, in denen bis 2009 der Tagesspiegel gedruckt | |
wurde. In einer weißgetünchten Fabrikhalle dort hat Andreas Murkudis, Sohn | |
griechischer Einwanderer und Bruder des Modedesigners Kostas Murkudis, 2010 | |
einen Concept Store aufgemacht. Vorn an der Straße hat er noch einen | |
Einrichtungsladen. Murkudis, graugesträhntes Haar, Dreitagebart, Hemd und | |
Hose dunkelblau, sagt, er sei der Erste gewesen. Galerien, Boutiquen, | |
Fachgeschäfte und Restaurants sind ihm an die Potsdamer Straße gefolgt. In | |
Mitte, wo sein erstes Geschäft war, sei es ihm zu touristisch geworden, | |
erzählt Murkudis, der seine Produkte in kleinen Stückzahlen weltweit bei | |
Manufakturen einkauft. | |
Das Teuerste in Murkudis Laden ist ein handgewebter Teppich aus Nepal mit | |
Kolibris, die aussehen wie gemalt. 25.000 Euro kostet das Stück. Kleidung | |
fängt bei ihm bei 60 Euro an und endet bei 3.000 Euro. 40 Angestellte | |
arbeiten für Murkudis. Über seinen Umsatz und die Höhe der Gewerbemiete | |
schweigt er sich aus. | |
Er komme aus einem linken Haushalt, erzählt der 58-Jährige. Seine Eltern, | |
die Griechenland 1949 nach dem Bürgerkrieg in Richtung DDR verlassen | |
mussten, seien Kommunisten gewesen. Als Gentrifizierer sehe er sich nicht. | |
„Wir haben hier niemanden verdrängt.“ Die meisten Läden hätten leer | |
gestanden, einige täten das immer noch. „Natürlich grenzt man mit so einem | |
Ladenkonzept gewisse Leute aus“, gibt Murkudis zu. Aber gute Dinge hätten | |
nun mal ihren Preis, dafür seien sie nachhaltig und langlebig. | |
Alteingesessene Geschäfte in der Nachbarschaft wie die Fleischerei Staroske | |
oder der von der libanesischstämmigen Familie Harb geführte | |
Gemischtwarenladen profitierten außerdem von der neuen Kundenklientel. Er | |
sei hier zur Schule gegangen und kenne die Gegend wie seine Westentasche, | |
erzählt Murkudis. „Die Potsdamer Straße ist eine der hässlichsten Straßen | |
Berlins.“ Es sei gut, dass sie sich wandele. „Eine Spielhölle, die Leuten | |
das Geld aus der Tasche zieht, ist echt nicht schützenswert.“ | |
## Von Gentrifizierung vertrieben | |
Das Ave Maria, ein christlicher Devotionalienladen, ist von der | |
Gentrifizierung vertrieben worden. Nach 20 Jahren musste das Geschäft an | |
der Potsdamer Straße aufgegeben werden, die Gewerbemiete wurde verdoppelt. | |
In dem Schaufenster, in dem früher handgeschnitzte Engel ausgestellt waren, | |
hängt nun ein „Travel-Suit“ für 1.005 Euro. Darunter weiße Sneaker für … | |
Euro. Eine Boutique ist jetzt hier, während das Ave Maria doch noch Glück | |
hatte und in einer Seitenstraße unterkam, direkt neben dem Absturzladen | |
Kumpelnest 3.000. | |
Vor dem Eingang der Begine im südlichen Teil der Potsdamer Straße stehen | |
Blumentöpfe. Sie sind mit Rosen und Lavendel bepflanzt. „Wir sind das | |
schmuddelige Schöneberg“, sagt Beate Seifert, die neben ihr sitzende | |
Barbara Hoyer lacht. Die Frauen, kurze Haare, um die 60, gehören zu den | |
Betreiberinnen von Berlins einziger Kneipe, die ausschließlich für Frauen | |
ist. „Lesen macht lesbisch“, steht auf einem Plakat im Schaufenster. „Seit | |
der MeToo-Debatte gibt es einen neuen Feminismus“, erzählt Hoyer. Bei | |
manchen Veranstaltungen reiche der Platz inzwischen kaum noch aus. | |
Vor dem Eurogida-Supermarkt auf der anderen Straßenseite werden Melonen, | |
Stückpreis 1,40 Euro, aufgestapelt. Fluktuation in einer urbanen Gegend sei | |
ganz normal, sagt Baustadtrat Jörn Oltmann. „Aber es muss auch Konstanten | |
geben, auf die man sich verlassen kann.“ Die Gewobag, die türkischen Obst- | |
und Gemüseläden, die Begine und der Rewe-Markt – das sind für Oltmann | |
Konstanten im Kiez. | |
Seit 2002 ist der Rewe in der Potsdamer Straße 129 um die Ecke der | |
Kurfürstenstraße im Besitz der Familie Ahmet. „Aldi, Penny, Reichelt, alle | |
haben damals zugemacht nach dem Motto: Zu viel Rotlicht, kannste | |
vergessen“, erzählt Sulaf Ahmet, Sohn eines aus dem Irak kommenden Kurden | |
und einer ehemaligen DDR-Bürgerin. „Und nun beneiden uns alle um den | |
Umsatz.“ Ahmet senior, unter Saddam Hussein Kulturattaché in Ostberlin, war | |
mit der Familie in den 80er Jahren in den Westen geflohen. Das Geschäft in | |
der Potsdamer Straße floriert mitterweile so gut, dass die Söhne Sulaf und | |
Soran in der Bautzener Straße einen zweiten Rewe aufgemacht haben, ein | |
dritter in der Kurfürstenstraße folgt. Die Ahmet-Söhne, der eine Ende | |
dreißig, der andere Mitte vierzig, engagieren sich aber auch im Kiez. Die | |
Suppenküche der Schöneberger Zwölf-Apostel-Gemeinde haben sie regelmäßig | |
mit Lebensmitteln unterstützt. | |
## Das schützende Bollwerk | |
Das Geheimnis der Brüder ist, dass sie den Spagat hingekriegt haben, sich | |
mit ihrem Sortiment auf alle Nutzergruppen der Gegend einzustellen. Ihr | |
Supermarkt in der Potsdamer Straße ist die Schnittstelle, wo sich die | |
KiK-Fraktion mit der Gucci-Fraktion trifft. Abends, wenn die härtere | |
Klientel unterwegs ist, steht Security am Eingang. Aber für die | |
Prostituierten lege er seine Hand ins Feuer, sagt Sulaf Ahmet. Noch nie sei | |
bei ihm eine der Frauen beim Diebstahl erwischt worden. | |
Wenn es ein Bollwerk gibt, das die Potsdamer Straße vor Gentrifizierung | |
schützt, ist es das Rotlichtmilieu. Darauf konnte man sich in der | |
Vergangenheit verlassen. Und nun? | |
Fast alle Brachflächen, auf die sich die Frauen bisher mit den Freiern | |
zurückgezogen haben, sind zugebaut. „Es gibt nicht mehr viele | |
Verrichtungsorte im öffentlichen Raum“, sagt Polizeirat Dominik Freund vom | |
zuständigen Abschnitt 41. „In zehn Jahren wird die Prostitution | |
verschwunden sein, weil es dann keine Nischen mehr gibt“, prognostiziert | |
der Bürgermeister von Mitte Stephan von Dassel. Dem Grünen wäre das nur | |
recht. Stünde es in seiner Macht, hätte er das Quartier längst zu einem | |
Sperrgebiet erklärt. | |
Zumindest, was die Anbahnung betreffe, werde die Prostitution vor Ort | |
bleiben, sind dagegen der Polizeirat und der Baustadtrat von | |
Tempelhof-Schöneberg Oltmann überzeugt: „Dazu ist der Strich viel zu | |
gefestigt.“ Außerdem: Der Straßenstrich gewährleiste für die | |
Sexarbeiterinnen auch einen gewissen Schutz durch soziale Kontrolle, sagt | |
Oltmann. | |
Warum musste es ausgerechnet die Potsdamer Straße für Sony Music sein, Herr | |
von Esebeck? Der Finanzchef des Entertainmentkonzerns, Ende vierzig, | |
fränkischer Dialekt, sucht nicht lange nach einer Antwort. Da, wo es „ein | |
bisschen rougher, kreativer“ ist, fühle sich Sony Music besser aufgehoben | |
als neben schicken Geschäften. | |
## Der Ruf der Potse | |
Regine Wosnitza geht auf die Barrikaden, wenn sie solche Sätze hört. „Der | |
Ruf der Potse als hippes raues Pflaster wird benutzt, statt sich erst mal | |
in den Kiez einzubringen – das ärgert mich.“ Die 59-Jährige mit dem | |
strubbeligen Kurzhaarschnitt ist Vorsitzende der Interessengemeinschaft | |
Potsdamer Straße. Im Kiez ist die Kommunikationswissenschaftlerin so eine | |
Art Jeanne d’Arc. Nach dem Motto „leben und leben lassen“ setzt sie sich | |
dafür ein, dass die Lebensqualität steigt, gleichzeitig aber niemand | |
verdrängt wird. Alle Versuche, für die gekündigten Jugendclubs Potse und | |
Drugstore neue Proberäume zu finden, sind bisher aber gescheitert. | |
In München habe sich die Gegend, in die Sony Music vor gut fünf Jahren | |
gezogen war, „wahnsinnig entwickelt“, sagt von Esebeck. Viele Agenturen, | |
Start-ups und Künstler seien gefolgt, „und die bauen da jetzt weiter“. | |
Jan Kunze hat für die Pecan Development inzwischen mitgeteilt, man habe | |
sich entschlossen, einen sozialen Beitrag für den Kiez zu leisten. „Wir | |
sind uns bewusst, dass wir dort ein großer Player sind und sich daraus eine | |
Verpflichtung ergibt.“ In welcher Form dieser soziale Betrag geleistet | |
wird, sei aber noch nicht entschieden. | |
Philipp von Esebeck ließ für Sony Music wissen, die Idee sei vielleicht gar | |
nicht so schlecht, junge Musiker, die keine Proberäume hätten, zu | |
unterstützen. „Vielleicht“, so der Sony-Mann, „ist da auch jemand dabei, | |
der später bei uns unter Vertrag kommen kann.“ | |
Das Baugrundstück an der Potsdamer Straße ist von einer Bretterwand | |
umgeben. Nachts, wenn die Maschinen ruhen, sieht man Frauen vor einer Lücke | |
im Zaun um Freier werben. Das „Wirtschaftswunder“ ist schon voll im Kiez | |
angekommen. | |
5 Jun 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Interview-mit-Finanzchef-von-Sony-Music/!5597103 | |
[2] /Berliner-Drugstore-und-Potse/!5595658 | |
[3] /Musikspielplatz-Berlin/!5598719/ | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
## TAGS | |
Stadtentwicklung | |
Musikgeschäft Berlin | |
Tempelhof-Schöneberg | |
Berlin-Mitte | |
Investor | |
Prostitution | |
Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin | |
Tempelhof-Schöneberg | |
Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin | |
Ramona Pop | |
Prostitution | |
Potse | |
CDU Berlin | |
Musikgeschäft Berlin | |
Musikindustrie | |
Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Straßenprostitution in Berlin: Unruhiges Wohnen im Alter | |
In einem Seniorenwohnhaus im Schöneberger Norden wehren sich Bewohner gegen | |
Eindringlinge und Prostitution im Haus. Und haben trotzdem Verständnis. | |
Gentrifizierung am Straßenstrich: Stadträte blockieren Hochhäuser | |
An der Potsdamer Straße in Berlin will ein Investor hoch hinaus, 14 | |
Stockwerke sollen es sein. Doch die zuständigen Bezirksämter winken ab. | |
Streit um Waffenladen in Berlin: Waffen in der böllerfreien Zone | |
Die Gewobag hat in der Potsdamer Straße einen Gewerbemietvertrag mit einem | |
Waffenhändler abgeschlossen. Jetzt hangelt es Proteste. | |
Gentrifizierung in Berlin: Potse bald in sauber | |
Sexstore und Woolworth an der Potdamer Straße sollen Neubauten weichen. | |
Investor will Dax-Konzerne und Teile des queeren Kulturhauses E2H | |
ansiedeln. | |
Sony Music zieht nach Berlin: Richtfest mit Ramona | |
Sony Music verlegt seinen deutschen Hauptsitz und die Zentrale Continental | |
Europe im Sommer 2020 nach Berlin. Die neue Adresse: Potsdamer Straße. | |
Prostitution in Berlin: Mitte will Sperrgebiet light | |
Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne) schlägt vor, Prostitution | |
nur noch in Boxen zu erlauben. Der Senat lehnt ein Sperrgebiet ab. | |
Jugendzentrum droht weiter Räumung: Bezirk sieht keine Lösung für Potse | |
Das Gericht schlägt im Streit um das Schöneberger Jugendzentrum Potse eine | |
Mediation vor. Doch die scheitert schon vor Gesprächen am Bezirk. | |
Nachruf Heinrich Lummer: Nicht unsympathisches Arschloch | |
Der Christdemokrat Heinrich Lummer, Berliner Innensenator von 1981 bis | |
1986, ist am 15. Juni im Alter von 86 Jahren gestorben | |
Musikspielplatz Berlin: Der Laden läuft wieder | |
Auch Sony Music profitiert von Streaming und kehrt nach Berlin zurück, wo | |
schon alle anderen Akteure des Geschäfts sitzen. | |
Sony Music-Finanzchef über Berlin-Umzug: „Ein bisschen rougher, kreativer“ | |
Von München zurück nach Berlin: Sony Music zieht an die Potsdamer Straße. | |
Weil es da noch nicht so schick ist, sagt Philipp von Esebeck. | |
Berliner Stadtplanung: Ohne städtebauliche Vision | |
Die „Europacity“ in Berlin sollte in zentraler Lage ein vollwertiger | |
Stadtteil werden. Doch nun deutet alles auf einen weiteren urbanisierten | |
Gewerbepark. |