# taz.de -- Straßenprostitution in Berlin: Unruhiges Wohnen im Alter | |
> In einem Seniorenwohnhaus im Schöneberger Norden wehren sich Bewohner | |
> gegen Eindringlinge und Prostitution im Haus. Und haben trotzdem | |
> Verständnis. | |
Bild: Ingrid Gärtner und Erich Jäger vor dem Seniorenwohnhaus Bülow- Ecke Fr… | |
BERLIN taz | Bezirksbürgermeisterin Angelika Schöttler (SPD) war kürzlich | |
vor Ort. Auch Vertreter der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Gewobag | |
waren da. Einigkeit habe geherrscht, dass die Zustände in dem | |
Seniorenwohnhaus an der Bülowstraße 94/95 Ecke Frobenstraße unzumutbar | |
seien, erzählt Bewohner Erich Jäger. „Aber einer schiebt dem anderen die | |
Verantwortung zu.“ Für die Mieter heiße das, „dass wir mit der Situation | |
vollkommen alleingelassen werden“, ergänzt Bewohnerin Ingrid Gärtner. | |
Jäger (70) und Gärtner (84) sind Mieter in dem Eckhaus in Schöneberg Nord. | |
Das Seniorenwohnhaus mit rund 180 Ein- und Zweizimmerwohnungen steht mitten | |
in dem Kiez, der seit Jahrzehnten Zentrum der Berliner Straßenprostitution | |
ist. Um Mieter in dem einstigen Wohnheim werden zu können, muss man über 60 | |
Jahre alt sein und einen Wohnberechtigungsschein haben. | |
Viele Bewohner seien körperlich eingeschränkt, einige litten an Demenz, | |
erzählt Jäger. Auch er, früher Gewerkschaftssekretär, ist auf einen | |
Rollstuhl angewiesen. Gärtner, Bibliothekarin im Ruhestand, nutzt einen | |
Rollator. Sonst ist das Gespann aber ziemlich rüstig. Jäger und Gärtner | |
sind das Gesicht eines aus 10 bis 12 Aktivisten bestehenden Mieterteams, | |
das die Verhältnisse nicht auf sich beruhen lassen will. | |
Seit Jahren schon ist der Straßenstrich rund um das Haus von einer Mischung | |
aus Armutsprostitution, Zuhälterei, Drogenabhängigkeit und Obdachlosigkeit | |
gekennzeichnet. Viele der Prostituierten, die hier arbeiten, kommen aus | |
Osteuropa. [1][Aufgrund des Baubooms], der eine wohlsituierte Mittelschicht | |
in das Quartier geführt hat, gibt es für diese Klientel kaum noch Nischen, | |
geschweige denn Unterschlupfmöglichkeiten. Selbst die Müllanlagen der | |
umstehenden Wohnhäusern sind inzwischen verriegelt. Die Folge: Das Elend | |
verdichtet sich und konzentriert sich auf Bereiche, wo die Bewohnerschaft | |
schwach ist. | |
## Verstörende Bilder | |
Die Szenen, die sich nicht erst seit gestern in dem Seniorenhaus abspielen, | |
dokumentiert Erich Jäger auf einem Videoblog. Die Bilder zeigen Menschen, | |
die auf Treppenabsätzen und in aufgebrochenen Kellerverschlägen schlafen, | |
benutztes Drogen-Spritzbesteck, blutverschmierte Taschentücher, | |
manipulierte Steckdosen, an denen Handys aufgeladen werden, Urinlachen, | |
Kleiderhaufen, Zigarettenkippen und Müll. | |
Die Bilder verstören, auch ob ihrer Privatheit. Die Gesichter hat Jäger | |
zumeist unkenntlich gemacht. Es ist nicht der Anblick purer Verwahrlosung. | |
So, wie die Menschen aussehen, könnten sie auch am nächsten Tag zur Arbeit | |
gehen, ohne dass man merken würde, wo sie die Nacht verbracht haben. Eine | |
Schlafende hat auf der Treppenstufe neben sich eine Tube Zahnpasta | |
aufgestellt. | |
Auch zum Geschlechtsverkehr würden Flure und Keller genutzt erzählen Jäger | |
und Gärtner. In früheren Jahren sei das auch schon vorgekommen, auch, dass | |
mal jemand in eine Ecke geschissen habe. Aber seit Beginn der Pandemie sei | |
es extrem geworden. Auf Druck der Mieter habe die Gewobag ein paar Monate | |
lang einen Sicherheitsdienst beauftragt. Der Dienst sei aber Anfang Mai aus | |
Kostengründen eingestellt worden. Wenn sie morgens die Wohnungstür öffne, | |
liege davor manchmal ein Mensch, erzählt Gärtner: „Das macht mir Angst.“ … | |
Haus stinke es wie in einer ungepflegten öffentlichen Toilette. Auch die | |
regelmäßige Reinigung ändere daran nichts. | |
Früher war das Seniorenhaus ein richtiges Heim mit angeschlossener | |
Pflegestation. Lange, schlecht ausgeleuchtete Flure zeugen davon. Das | |
Gebäude ist verwinkelt und unübersichtlich, von der Straße aus gibt es drei | |
verschiedene Eingänge. Durch Manipulation und Zerstörung der Türen gelinge | |
es Außenstehenden immer wieder, Zugang zu bekommen, sagt Jäger. „Und wenn | |
einer drin ist, rufen ihn die anderen über Handy an, dass er aufmacht.“ | |
Vermutlich werde auch ausgenutzt, dass demente Hausbewohner den Türöffner | |
betätigten. | |
## Nichts gegen Sexarbeit | |
Jäger lebt seit sieben Jahren in dem Haus, Gärtner seit 2017. Er denke gar | |
nicht daran, klein beizugeben, sagt Jäger. Er habe nichts gegen Sexarbeit, | |
und er gehöre auch nicht zu den Leuten, die nach einem | |
Prostitutions-Sperrbezirk riefen. „Die Frauen tun mir leid“, sagt Gärtner. | |
Auf eine Art könne sie verstehen, dass die Frauen mit den Freiern „lieber | |
zum Bumsen“ in das Seniorenhaus gingen: „Die Bioklos sind doch eklig und | |
entwürdigend.“ | |
[2][Fünf Bioklos] gibt es im Kiez. Aufgestellt wurden sie auf Veranlassung | |
der Bezirksämter von Mitte und Tempelhof-Schöneberg. Die Holzhäuschen | |
dienen gleichzeitig als Klo und als sogenannte Verrichtungsboxen. | |
Bezirksbürgermeisterin Angelika Schöttler bestätigte am Freitag auf | |
Nachfrage, dass das Seniorenhaus mit dieser Problemlage ziemlich alleine da | |
stehe. „Ich habe sonst keine derartigen Beschwerden vorliegen, wie sie von | |
den Anwohnenden der Gewobag an mich heran getragen werden.“ Sie sei aber | |
bereits „durchaus aktiv“ geworden, so Schöttler. „Im Rahmen der | |
bezirklichen Möglichkeiten“ habe sie die Streetwork in dem Gebiet | |
intensiviert, mit sozialen Trägern das Gespräch gesucht und mit der Polizei | |
über die aktuelle Situation gesprochen. „Gleichwohl enden unsere | |
staatlichen Möglichkeiten an der Haustür der Gewobag“, so Schöttler. Aber | |
auch da habe sie konkrete Verbesserungsvorschläge gemacht. | |
Sicherheitsdienst abgelehnt | |
Eine Sprecherin der Gewobag ließ am Freitag gegenüber der taz wissen, Türen | |
und Kellerfenster in dem Objekt würden regelmäßig repariert. Eine hellere | |
Beleuchtung der Flure sowie Bewegungsmelder an den Hoftüren seien geplant. | |
Die Haustürschließung sei bereits auf ein Chipsystem umgestellt worden. „Um | |
eine dauerhafte Sicherheit unserer MieterInnen zu gewährleisten, sind wir | |
jedoch auf ihre Unterstützung angewiesen.“ Soll heißen: Es sind auch die | |
Mieter selbst, die Fremde ins Haus lassen. | |
Eine Fortsetzung des Sicherheitsdienstes, wie es Jäger und Gärtner fordern, | |
lehnt die Gewobag ab. Der erprobte Service habe nicht den gewünschten | |
Erfolg erzielt und sei auch zu kostenintensiv, heißt es. Zudem seien die | |
Problem dadurch in andere Häuser verlagert worden. | |
Fazit der Gewobag: „Wir sehen uns hier als landeseigenes | |
Wohnungsbauunternehmen nicht in der alleinigen Verantwortung, zumal unser | |
Bestand von der Situation im Kiez beeinflusst wird.“ Durch die Pandemie und | |
fehlende Rückzugsorte im öffentlichen Raum hätten sich die Probleme im | |
Wohnumfeld noch verstärkt. Hier sehe man das Bezirksamt in der Pflicht. | |
Am 11. August wird sich der Quartierstrat Schöneberg Nord mit dem Haus | |
beschäftigen. „Vielleicht gibt uns die Tatsache, dass Wahlen sind, ja ein | |
bisschen Rückenwind,“ hofft Jäger. | |
2 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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