# taz.de -- Gendergerechtigkeit in Deutschland: Objektiv messbar | |
> Nie zuvor hatten Frauen so viele Möglichkeiten, selbstbestimmt zu leben. | |
> Trotzdem hat der Feminismus sein Ziel noch längst nicht erreicht. | |
Bild: Auf drei Hochzeiten folgt rechnerisch eine Scheidung | |
Ist der Feminismus überflüssig? Steile Frage. Gestellt von [1][Martin | |
Schröder, Soziologie-Professor] an der Universität des Saarlandes. Er | |
beantwortet sie gleich selbst, in seinem neuen Buch „Wann sind Frauen | |
wirklich zufrieden“. Darin folgt er den Spuren des Gleichstellungskampfes, | |
wühlt sich durch Glücksstudien und Datenmengen zu weiblicher | |
Erwerbstätigkeit, befragt sein persönliches Umfeld. Dann nimmt er all diese | |
Ergebnisse auseinander und setzt sie auf seine Weise wieder zusammen. | |
Herausgekommen ist ein überraschendes Fazit: Frauen geht es heute so gut | |
wie nie zuvor, sie sind mit ihren Jobs genauso zufrieden oder unzufrieden | |
wie Männer, bei Bewerbungen würden sie sogar bevorzugt berücksichtigt, und | |
viele Mütter kleiner Kinder finden es richtig, dass vor allem sie und nicht | |
die Väter die Betreuuung übernehmen. Brauchen wir also dieses Gendergedöns | |
noch, wenn Frauen alles haben, alles machen und alles erreichen können, was | |
sie wollen? | |
Martin Schröder sagt – das überrascht jetzt nicht – nein. Denn | |
Diskriminierung von Frauen, so der Soziologe, sei heute nicht mehr objektiv | |
messbar, Ungleichbehandlung dürfe man heute nicht mehr pauschal | |
unterstellen. So ganz unrecht hat Schröder nicht. Frauen hatten in | |
Deutschland tatsächlich noch nie so viele Möglichkeiten wie heute, | |
selbstbestimmt und frei zu leben. | |
Sie können studieren oder eine Lehre beginnen, sich für einen Mann oder für | |
eine Frau oder für niemanden als Lebenspartner:in entscheiden, sie | |
können Kinder bekommen oder darauf verzichten. Sie können heiraten, sich | |
scheiden lassen, alleine leben, abtreiben – ohne dass ihnen dabei das | |
Gesetz oder die Gesellschaft ihnen im Wege stehen. Noch nie waren so viele | |
[2][Frauen berufstätig] wie jetzt. Von allen Erwerbstätigen in Deutschland | |
sind dem Statistischen Bundesamt zufolge rund 47 Prozent Frauen. | |
## 10 Millionen Frauen leben allein | |
Seit Mitte der 90er Jahre ist die Zahl der alleinstehenden und allein | |
lebenden Frauen um fast 16 Prozent auf knapp 10 Millionen gestiegen. | |
[3][Jede fünfte Frau hierzulande bleibt kinderlos] – manche tragischerweise | |
ungewollt, aber nicht wenige verzichten bewusst auf Nachwuchs. So hat die | |
sozialwissenschaftliche Fakultät der Dualen Hochschule Gera im vergangenen | |
Herbst in einer Studie herausgefunden, dass sich junge Frauen vielfach | |
nicht wegen „der Umstände“ [4][gegen Kinder entscheiden], sondern aus | |
„individuellen Überzeugungen“, wie Studienleiterin Claudia Rahnfeld sagt. | |
Als häufige Gründe gaben die Frauen an, ohne Kinder mehr Zeit für | |
Selbstverwirklichung zu haben. Kann man aus all dem nun schlussfolgern, | |
dass Frauen in Deutschland tatsächlich gleichberechtigt, nicht mehr | |
benachteiligt sind? Ein Blick auf das [5][Manager Barometer], das | |
regelmäßig Führungskräfte befragt, sagt Folgendes: [6][Nur jede dritte | |
Führungskraft ist eine Frau,] nach wie vor müssen sich Frauen in | |
Führungspositionen stärker beweisen als Männer, ohne Kinder haben Frauen | |
bessere Aufstiegschancen. | |
Fazit des Managerbarometers: „Karriere geht für Frauen immer noch auf | |
Kosten der eigenen Familie.“ Apropos Familie: [7][66 Prozent der | |
berufstätigen Mütter arbeiten in einem Teilzeitjob]. Bei den Vätern sind | |
das nur 7 Prozent. Dabei würden viele Mütter mit Teil- oder keinem Job | |
lieber öfter im Betrieb sein, als zu Hause Staub zu wischen, können das | |
aber nicht, weil sie keinen Kita- oder Hortplatz haben. [8][Bundesweit | |
fehlen schon jetzt fast 400.000 Kitaplätze], Tendenz steigend. Frauen | |
möchten genauso viel verdienen und dieselben Möglichkeiten auf Führungsjobs | |
wie Männer haben. | |
Doch machen wir uns nichts vor. Natürlich gibt es auch die anderen, die | |
Frauen, die freiwillig und gern zu Hause bei den Kindern bleiben. Keine | |
Frau heute ist dazu verdammt, Karriere zu machen. Auch das ist ein | |
feministscher Erfolg: Jede Frau kann einem Job nachgehen, sie muss es aber | |
nicht. Ebenso gut können Frauen vorübergehend oder dauerhaft eine | |
Teilzeitstelle annehmen. All diese Entscheidungen können Frauen in der | |
Regel selbst treffen. | |
## Geringere Rente nach Teilzeitarbeit | |
Allerdings sollten sie sich der Konsequenzen, auf die seit Jahren nicht nur | |
Feminist:innen, sondern vor allem Ökonom:innen hinweisen, bewusst sein: | |
Frauen, die weniger lohnarbeiten, verdienen logischerweise weniger Geld und | |
haben später eine geringere Rente. [9][Jede fünfte Frau ab 65 Jahren ist | |
armutsgefährdet], bei den Männern sind es nicht einmal 18 Prozent. | |
Auch weil sogenannte Frauenjobs beispielsweise in der Pflege, im | |
Gesundheitswesen, in der Bildung nach wie vor schlechter bezahlt werden als | |
vermeintliche Männerberufe. Und weil die [10][geschlechterspezifische | |
Lohnlücke] trotz Transparenzgesetz – Parameter wie Teilzeit, Elternmonate, | |
weniger Führungspositionen abgezogen – noch immer bei 8 Prozent liegt. | |
Nicht wenige Ehepaare versuchen die finanziellen Teilzeitjob-Einbußen mit | |
dem [11][Ehegattensplitting] aufzufangen. [12][Dieses Steuermodell erhöht | |
das Familieneinkommen signifikant], wenn die Einkommensunterschiede | |
zwischen Mann und Frau hoch sind – und mag dadurch zunächst gerecht wirken. | |
Warum sollte eine Frau, die trotz geringer Erwerbsarbeit auf ein | |
vordergründig ausgewogenes Familieneinkommen blickt, sich bemüßigt fühlen, | |
dieses Lebensmodell aufzugeben? | |
Ganz einfach: Weil ein großer Einkommensunterschied zwischen | |
Partner:innen ein Machtgefälle innerhalb der Beziehung erzeugen kann. | |
Der Historiker und Finanzexperte [13][Nikolaus Braun] erzählt in seinem | |
neuen Buch „Geld oder Leben“ unter anderem davon, wie Männer mit „ihrem | |
Geld ihre Familien tyrannisieren“. Außerdem kann sich keine Frau sicher | |
sein, dass der aktuelle Lebensentwurf bis in alle Ewigkeit hält. Das | |
Statistische Bundesamt hat im Jahr 2021 eine [14][Scheidungsrate von rund | |
40 Prozent] ermittelt. | |
Auf drei Hochzeiten folgt damit rechnerisch eine Scheidung. Auf der | |
sozialen Verliererseite stehen dann in der Regel die Frauen. Die Frage, ob | |
Feminismus überflüssig ist, beantwortet sich von selbst. | |
27 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.uni-marburg.de/de/fb03/soziologie/fachgebiete/soz_wirt_2/prof-d… | |
[2] https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dime… | |
[3] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Geburten… | |
[4] https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/ost-thueringen/gera/gewollt-kinde… | |
[5] https://media.odgersberndtson.de/OB-ManagerBarometer-2022.pdf | |
[6] /Frauen-an-Unternehmensspitzen/!5770044 | |
[7] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/03/PD22_N012_12.h… | |
[8] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2022/oktob… | |
[9] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/03/PD23_N015_12_6… | |
[10] /Equal-Pay-Day/!5757438 | |
[11] /Arbeitskraeftemangel-und-Besteuerung/!5883968 | |
[12] /Streit-ums-Ehegattensplitting/!5887939 | |
[13] https://www.youtube.com/watch?v=j9QxbNlowyM | |
[14] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Eheschl… | |
## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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