# taz.de -- Gedenkstunde für Opfer des Holocaust: Späte Erinnerung an Queere | |
> Erstmals wird der Bundestag bei der Holocaust-Gedenkveranstaltung der | |
> LGBTIQ+ gedenken. Historiker:innen sehen das als großen Fortschritt. | |
Bild: Bundestagspräsidentin Bas (SPD) bei einem Besuch der Gedenkstätte der N… | |
BERLIN taz | Die Hamburgerin Mary Pünjer war 36 Jahre alt und verheiratet, | |
als sie 1940 verhaftet wurde. Die Jüdin habe sich in lesbischen Lokalen | |
herumgetrieben und Zärtlichkeiten mit einer Frau ausgetauscht, lautete der | |
Vorwurf. Weil sie „asozial“ sei, kam Pünjer zunächst in das KZ Fuhlsbütt… | |
und einige Monate darauf in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Als | |
„Asoziale“ musste sie dort einen schwarzen Winkel an der Häftlingskleidung | |
tragen, aber es wurde auch vermerkt, dass sie eine „Lesbe“ sei. Am 28. Mai | |
1942 wurde Mary Pünjer in der Tötungsanstalt Bernburg ermordet. | |
Karl Gorath wurde als 26-Jähriger wegen homosexueller Handlungen | |
denunziert, aufgrund des Paragrafen 175 festgenommen und 1939 wegen | |
„widernatürlicher Unzucht“ verurteilt. Nach Verbüßung seiner Haftstrafen | |
lieferten ihn die Nazis in das KZ Neuengamme ein, später kam er nach | |
Auschwitz und in das KZ Mauthausen. 1945 wurde er befreit. | |
Das Leben von Pünjer und Gorath steht am Freitag im Mittelpunkt einer | |
Gedenkfeier des Bundestags anlässlich des Internationalen | |
Holocaust-Gedenktages. Die Schauspieler:innen Jannik Schümann und Maren | |
Kroymann werden über sie sprechen. Zuvor wird die Überlebende Rozette Kats | |
die Gedenkrede halten. Die 1942 geborene Jüdin überlebte in Amsterdam, weil | |
ihre Eltern sie zu christlichen Pflegeltern gegeben hatten. | |
„Gut, wenn auch zu spät“: So bezeichnet die in Großbritannien lehrende | |
[1][Historikerin Anna Hájková] die aus ihrer Sicht überfällige Erinnerung | |
an die queeren Opfer der Nazis. Für diese „emanzipatorische Geste“ hätten | |
viele Menschen jahrelang gekämpft, sagt die Historikerin Hájková, die seit | |
Langem über die queere Holocaust-Geschichte forscht. Die Berliner | |
Historikerin Claudia Schoppmann, Doyenne der Forschung über lesbische | |
Frauen in der NS-Zeit, stimmt ihr zu: „Das ist ein großer Fortschritt.“ | |
Das Gedenken an die queeren Opfer des Nationalsozialismus geht maßgeblich | |
auf die Initiative des Historikers und taz-Autors Lutz van Dijk zurück. | |
2018 richtete er [2][eine Petition an das Präsidium des Deutschen | |
Bundestags], die queere Vertreter:innen, Wissenschaftler:innen und | |
Holocaust-Überlebende unterschrieben. Zu letzteren gehört auch Rozette Kats | |
aus den Niederlanden. | |
## Bundesregierung will queere Erinnerungskultur stärken | |
„Uns war von Anfang an wichtig, dass hier nicht nur sogenannte ‚Betroffene�… | |
ihr Recht auf korrektes und differenziertes Erinnern einfordern, sondern | |
dies gemeinsam mit anderen Opfergruppen wie Jüd*innen oder Roma und Sinti | |
geschieht“, sagt van Dijk. Seit 2011 wurde einzelner Opfergruppen gedacht, | |
allerdings lehnte der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) | |
es ab, die Gedenkstunde auf das Leid der queeren Opfer zu begrenzen. Erst | |
mit der aktuellen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) wird das Vorhaben | |
nun umgesetzt. Am Mittwoch legte Bas [3][bereits zwei Kränze] an der | |
Gedenktafel „Rosa Winkel“ am Berliner Nollendorfplatz nieder. | |
„Das ist jetzt zum allerersten Mal, dass wir überhaupt eine Erwähnung | |
finden in diesem historischen Akt. Das ist ein gutes Zeichen“, sagt Ina | |
Roenthal, Vorstand und Geschäftsführerin vom Lesbenring. „Es setzt ein | |
deutliches Signal, dass queere Kultur ein Teil unserer Gesellschaft ist und | |
nicht ein Minderheitenproblem. Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, | |
queerer Opfer zu gedenken, weil der Nationalsozialismus in seinen | |
Strukturen so viele getroffen hat.“ Rosenthal selbst hatte nie Zweifel, | |
dass auch queere Frauen von der Verfolgung der Nazis betroffen waren: „Ich | |
persönlich komme aus einer jüdischen Frauenfamilie, die immer politisch | |
aktiv war. Wir nehmen die Täterperspektive ein, wenn wir so tun, als seien | |
lesbische Frauen nicht aufs Massivste diskriminiert worden wären.“ | |
Die Bundesregierung hat in ihrem [4][ressortübergreifenden Aktionsplan | |
„Queer leben“] festgelegt, dass die queere Erinnerungskultur gestärkt | |
werden soll. Als Maßnahmen schlägt sie „die Förderung von | |
Forschungsvorhaben zur Unterstützung der historischen Aufarbeitung der | |
strafrechtlichen Verfolgung und staatlichen Diskriminierung von LSBTIQ*“ | |
sowie „die Förderung von Forschung in Gedenkstätten zu LSBTIQ*“ vor. Seit | |
Mitte Januar wird der Aktionsplan umgesetzt, Organisationen können ihre | |
Vorhaben einreichen. Die Linke reichte zudem [5][einen Antrag ein], der | |
bemängelt, dass die „Anerkennung des Unrechts durch den Gesetzgeber, das | |
allen queeren NS-Opfern nach 1945 in beiden deutschen Staaten widerfahren | |
ist, fehlt“. Am Donnerstagabend wird darüber diskutiert. | |
Hinter der Ehrung verbergen sich historische Untiefen und Streit. Dass | |
schwule Männer unter den Nazis mithilfe des verschärften Paragrafen 175 – | |
selbst Streicheln war schon eine Straftat – verfolgt wurden, gilt | |
inzwischen als unstrittig. Bis zu 15.000 von ihnen kamen – häufig nach | |
Verbüßung einer Haftstrafe – in Konzentrationslager und mussten dort einen | |
rosa Winkel tragen, viele von ihnen wurden ermordet. Etwa 80.000 Männer | |
waren aktenkundig. Lesbische Liebe hingegen sei nicht verboten und | |
entsprechend verfolgt worden, wird argumentiert. | |
Tatsächlich, so die neuere Forschung, sind aber auch Lesben verfolgt | |
worden. Ihre sexuelle Präferenz galt als „verwerflich“ und entsprach nicht | |
dem „gesunden Volksempfinden“, sagt die Historikerin Schoppmann. Ebenso wie | |
schwule wurden lesbische Treffpunkte nach 1933 geschlossen oder polizeilich | |
überwacht. Bei der Gestapo gingen Denunziationen wegen lesbischem | |
Verhaltens ein, doch die Geheimpolizei musste bedauernd feststellen, dass | |
eine strafrechtliche Verfolgung dieser Beziehungen nicht vorgesehen war. | |
## Auch Lesben wurden Opfer der Nazis | |
Freiräume verschwanden. Die Angst ging um. Lesben ließen sich plötzlich die | |
Haare länger wachsen, um weniger aufzufallen. Viele von ihnen heirateten | |
einen Mann. Die große Mehrzahl von ihnen konnte die NS-Zeit so möglichst | |
unauffällig überstehen – im Gegensatz zu Jüd:innen. Das gilt auch für | |
homosexuelle Männer. | |
Doch auch Lesben wurden Opfer der Nazis – aufgrund einer | |
Mehrfachverfolgung. Schoppmann nennt Beispiele: Lesben kamen in Haft weil | |
sie, wie Mary Pünjer, [6][zudem angeblich „asozial“ oder jüdischer Herkun… | |
waren]. Ihnen wurde, wie Else Conrad, die in Berlin mehrere Lesben-Lokale | |
geführt hatte, vorgeworfen, den „Führer“ beleidigt zu haben, was ihr | |
aufgrund des Heimtückegesetzes eine Inhaftierung im KZ Moringen einbrachte. | |
Die Historikerin Anna Hájková erinnert an die lesbische Musikerin Ilse | |
Totzke, die wegen ihrer Kontakte zu Jüdinnen und ihrem unangepassten | |
Verhalten zunächst ins Visier der Gestapo geriet, bis sie wegen der | |
Unterstützung der Flucht einer Jüdin in die Schweiz ins KZ Auschwitz und KZ | |
Ravensbrück deportiert wurde. | |
Dass Karl Gorath aufgrund seiner sexuellen Orientierung ein Opfer der Nazis | |
wurde, lässt sich nicht bestreiten. Aber starb Mary Pünjer, weil sie | |
„asozial“ war, weil sie als Jüdin galt oder aufgrund ihrer Liebe zu Frauen? | |
Das kann man nicht so eindeutig beantworten. Es gab keinen entsprechenden | |
Paragrafen, der Frauen lesbische Beziehungen verbot. „Die Verfolgung von | |
Männern war qualitativ und quantitativ eine andere als die von Frauen“, | |
sagt Claudia Schoppmann. | |
Über Jahrzehnte führte die Auseinandersetzung mit dem Thema ein | |
Schattendasein. „Es gibt keine systematische Forschung“, beklagt Anna | |
Hájková. Besonders schlecht untersucht ist die [7][Verfolgung von trans], | |
inter und nicht-binären Menschen: „Es sieht so aus, als wenn trans Menschen | |
nochmal verschärft verfolgt wurden“, sagt Nora Eckert, Vorständin bei | |
TransInterQueer*. Schon während der Weimarer Republik wurden sogenannte | |
„Transvestiten“ namentlich erfasst und daher potenziell verfolgbar. „Trans | |
Menschen wurde oft unterstellt, sie würden Homosexualität verschleiern. In | |
der NS-Zeit führte das zu härteren Gefängnisstrafen bis hin zur | |
Einlieferung ins KZ“, sagt Eckert. | |
Die Historikerin Hájková macht darauf aufmerksam, dass die Pein von | |
Schwulen und Lesben in den Konzentrationslagern nicht nur von den Wachmann- | |
und frauschaften ausging. Sie waren auch den queerfeindlichen Vorurteilen | |
von Mitgefangenen ausgesetzt. In Überlebensberichten spiegeln sich diese | |
Vorurteile, wenn homosexuelle Handlungen als ekelerregend beschrieben | |
wurden, schreibt Hájková in ihrem Buch „Menschen ohne Geschichte sind | |
Staub. Homophobie und Holocaust“. Sie zitiert darin eine | |
Ravensbrück-Überlebende, die über gleichgeschlechtliche Handlungen von | |
Mitgefangenen schrieb: „Gott, sind das Menschen. Sind das noch Menschen?“ | |
Entsprechend unterbelichtet blieb nach dem Krieg die Auseinandersetzung mit | |
diesen Verfolgten. | |
## Junge Bundesrepublik übernahm das schwulenfeindliche Strafrecht | |
Bei den Schwulen sorgte der berüchtigte Paragraf 175 dafür, dass ihre | |
Leidensgeschichte über Jahrzehnte unbeschrieben blieb. Die junge | |
Bundesrepublik übernahm das schwulenfeindliche Strafrecht in seiner von den | |
Nazis verschärften Form, auch das Bundesverfassungsgericht billigte in den | |
1950er Jahren diese Gesetzgebung. Wer über die Verfolgung unter den Nazis | |
berichtete, lief Gefahr, wieder ins Visier der Strafverfolgungsbehörden zu | |
geraten. | |
Karl Gorath wurde 1946, nur zwei Jahre nach seiner Befreiung aus dem KZ, | |
erneut verurteilt – von dem Richter, der ihn in der NS-Zeit schon einmal | |
hinter Gitter gebracht hatte. Fünf Jahre Zuchthaus musste er absitzen: | |
„Mein Verteidiger hatte noch beantragt, die Haftstrafe um die Zeit meiner | |
KZ-Haft zu kürzen. Selbst das ist abgelehnt worden“, [8][erzählte Gorath in | |
einem Interview mit der taz 1998]. Gorath starb im März 2003. Nur neun | |
Jahre zuvor war der [9][Paragraf 175] abgeschafft worden. | |
Auch deswegen wird Klaus Schirdewahn bei der Gedenkfeier im Bundestag das | |
letzte Wort haben. Der Mannheimer, Jahrgang 1947, wurde noch 1964 nach dem | |
Paragrafen 175 verurteilt. Bis heute engagiert er sich für die Rechte von | |
Lesben und Schwulen. | |
26 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Feminismus-und-Trans-Frauen/!5722581 | |
[2] https://mh-stiftung.de/wp-content/uploads/nwsl-petition-lutz-van-dijk.pdf | |
[3] https://www.queer.de/detail.php?article_id=44475 | |
[4] /Aktionsplan-fuer-sexuelle-Vielfalt/!5896128 | |
[5] https://www.queer.de/detail.php?article_id=44467 | |
[6] /Opfer-des-NS-Regime/!5906113 | |
[7] https://academic.oup.com/past/advance-article/doi/10.1093/pastj/gtac018/671… | |
[8] http://www.joerg-hutter.de/karl_b_.htm | |
[9] /Abschaffung-des-Paragrafen-175/!5599062 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
Nicole Opitz | |
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