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# taz.de -- Geschichtsaufklärung auf Tiktok: Holocaust in 50 Sekunden
> Die Arolsen Archives öffnen ihre Dokumente und zeigen Artefakte
> nationalsozialistischer Verfolgung auch auf Tiktok. Kann das
> funktionieren?
Bild: Unterlagen zu verfolgten Personen in KZs und Gestapogefängnissen lagern …
Das Video dauert exakt 50 Sekunden. Zu sehen ist eine bunte Zeichnung auf
gebräuntem Papier. Das Bild zeigt ein geöffnetes Fenster, aus dem ein
Mensch hinausschaut. Unten rechts ist eine Sonnenblume zu sehen. Es ist ein
Bild des Sommers und des Friedens.
Doch das gebräunte Papier stammt aus einem deutschen Konzentrationslager
und der Mensch, der darauf seine Grüße und das Bild hinterlassen hat, war
ein Gefangener. „Weihnachtspost aus dem KZ“ ist das Video betitelt. Eine
Sprecherin erzählt knapp und sachlich, wie es dazu kam, dass
[1][KZ-Häftlinge solche Post verschicken durften], dass sie dafür ihr Essen
gegen Buntstifte eintauschen mussten und dass ihre Nachrichten von der SS
streng zensiert wurden. Nach 50 Sekunden endet das Video und beginnt
automatisch von vorn.
Dies ist der Versuch, junge Menschen zu erreichen, die sich weder für
ausführliche Fernsehdokumentationen begeistern lassen noch zu einem Buch
über das KZ-System greifen würden. Die Arolsen Archives in der hessischen
Kleinstadt Bad Arolsen verwalten etwa 30 Millionen Akten, die Auskunft über
17,5 Millionen Menschen geben, die während der NS-Zeit in welcher Form auch
immer verfolgt, gequält, ermordet, vertrieben oder denen auf andere Weise
Gewalt angetan wurde.
Die Institution, früher unter dem Namen Internationaler Suchdienst
firmierend, war über Jahrzehnte verschlossen wie eine Auster – selbst
Überlebende und Historiker kamen kaum an die Dokumente heran, die dort
verwahrt wurden.
## Eine Plattform für junge Menschen
Aber jetzt vollzieht das Dokumentationszentrum eine Kehrtwende. Denn das zu
Beginn beschriebene Video ist wie Dutzende andere ausgerechnet bei Tiktok
zu sehen, jener mehr als umstrittenen chinesischen sozialen Plattform, der
ein laxer Umgang mit dem Datenschutz nachgesagt wird und die als
Sammelplatz für rechte Einstellungen gilt. Die aber auch [2][zentrales
Medium für Jugendliche] ist, von denen rund zwei Drittel dort angemeldet
sind.
„Ein Abwägen“ nennt Anke Münster von den Arolsen Archives den Versuch, auf
diese Weise junge Menschen an das Thema heranzuführen. Die Videos würden
von einem kleinen Team produziert, etwa zwei bis drei gingen pro Woche ins
Netz. Natürlich müsse man Geschichte in den kurzen Schnipseln verkürzen.
Doch dem Archiv sei es besonders wichtig, dass das Dargestellte „historisch
korrekt“ bleibe. „Ein Archiv hat nur dann einen Wert, wenn es in der
Gesellschaft wahrgenommen wird“, sagt Münster.
Das wird es bei Tiktok. Das Video mit den Weihnachtsbriefen habe schon rund
15.000 Aufrufe erhalten. Ziel sei ein „langsames Wachstum“, sagt Münster.
Ein Vorteil von Tiktok sei, „dass man ohne viele Follower viel Reichweite
erzielen kann. Das möchten wir gerne nutzen.“ Gerade dort könne man
Jugendliche erreichen, man sei aber auch bei Facebook unterwegs.
## Geschichten, bei denen Jugendliche zu Hilfe kommen
Dazu nutzen die Arolsen Archives den eigenen wertvollen Fundus. Da werden
kleine Geschichten erzählt, die um ein Objekt kreisen, das dort archiviert
ist. Das ist etwa der Ehering von Karl Bruckmann, der dort verwahrt wird.
Er musste bei seiner Einlieferung ins KZ Sachsenhausen den Ring abgeben.
Viermal hat Bruckmann versucht, aus der Haft auszubrechen, beim letzten Mal
gelang es ihm.
Doch was aus ihm geworden ist, weiß man nicht, trotz der fünf Kinder in
seiner Familie. Jetzt bittet eine weibliche Stimme die Jugendlichen darum,
doch dabei zu helfen, Nachkommen des Verfolgten zu finden, damit der Ring
an sie gegeben werden kann.
Es sind Geschichten wie diese, die eine lange zurückliegende Zeit lebendig
und greifbar machen können, auch wenn das Video nur eine Minute und 25
Sekunden dauert. Das Interesse am Thema sei bei den jungen Leuten hoch,
sagt Münster, man müsse es aber auf eine andere als die gewohnte Weise
bedienen.
30 Millionen Dokumente hat das Archiv inzwischen online gestellt, sagt
Münster. [3][Da ist der Weg zu Facebook und Tiktok nur konsequent].
Tatsächlich zeigen die Videos nur einen winzigen Ausschnitt aus der
Verfolgungsgeschichte des NS-Regimes. Bewusst verzichtet man auf unnötige
Dramatisierungen und bleibt im Ton betont sachlich – ganz im Gegensatz zu
dem, was auf der Plattform sonst häufig zu sehen ist.
18 Jan 2023
## LINKS
[1] /Briefe-aus-dem-Konzentrationslager/!5656140
[2] /Wie-Gen-Z-ueber-Millennials-denkt/!5901507
[3] /Historikerin-ueber-TikTok-in-Gedenkstaette/!5868344
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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TikTok
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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