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# taz.de -- Lesungen über Erinnerungsarbeit: Mit den Stimmen der Vergangenheit
> Die Gegenwart braucht die Erinnerung. Aber wie sie gelingt? In den
> Münchner Kammerspielen lasen drei Frauen aus Erinnerungen an
> Konzentrationslager.
Bild: Konzentrationslager Auschwitz Birkenau
Am Anfang soll hier das Ende stehen: „Geduld, Leidenschaft und Strenge“
sind nötig, um sich auf die Erinnerung einzulassen. Es sind die letzten
Worte, die an diesem Abend in München vorgelesen werden. Und sie hallen
nach. Der Abend ist überschrieben mit „Ist das ein Mensch?“, einem
Buchtitel von [1][Primo Levi]. Drei Persönlichkeiten der Gegenwart werden
mit Erzählern der Zeitgeschichte in einen Dialog gesetzt, der Raum und Zeit
überspannt. Autorin Carolin Emcke, Schauspielerin Maryam Zaree und
Journalistin Lena Gorelik lesen Texte von Primo Levi, Jean Améry, Ruth
Klüger, Charlotte Delbo, Imre Kertész und Jorge Semprún.
Die Veranstaltung ist Teil des [2][Festivals „Erinnerung als Arbeit an der
Gegenwart“ an den Münchner Kammerspielen]. Es konfrontiert bis Mitte
Dezember mit Historie und Gegenwart unterschiedlicher Faschismen. Und geht
der Frage nach, welche Formen der künstlerischen Umsetzung ein Theater
wählen kann, um etwa an Verbrechen zu erinnern, wie sie sich im November
1938 in Nazi-Deutschland zutrugen.
Die drei Vorleserinnen sind Profis der Erinnerungsarbeit. Carolin Emcke
beschreibt in der [3][Essaysammlung „Weil es sagbar ist“] die Versuche von
Inhaftierten in Konzentrationslagern, inmitten irrationaler Verbrechen
menschliche Würde zu bewahren. Lena Goreliks Eltern sind russische Juden,
die Anfang der neunziger Jahre mit ihrer damals elfjährigen Tochter nach
Deutschland emigrieren und zunächst in einer Flüchtlingsbaracke landen. In
dem Roman „Wer wir sind“ schreibt sie 2021 darüber.
Maryam Zaree ist in Teheran geboren, im Evin-Gefängnis. Ihrer Mutter
gelingt die Flucht vor dem iranischen Mullah-Regime nach Frankfurt am Main.
Zaree wusste lange nichts über die Umstände ihrer Geburt. 2019
[4][präsentierte sie als Regisseurin den Film „Born in Evin“] als
Auseinandersetzung mit ihrer Biografie.
## Der Handlungsspielraum? Zuhören
Die Lesung in München verzichtet nun auf jede theatralische Überhöhung. Sie
fordert die Zuschauer dadurch maximal heraus. Die Bühne ist schwarz. Die
Buchtitel werden eingeblendet, die Texte sind gefühlvoll, sachlich und
hart. Im Bühnenraum ist es kalt, die Heizung ist heruntergedimmt. Noch
kälter wird es, wenn wir die Berichte über erlittene Erniedrigungen,
Schmerzen und Demütigungen vernehmen.
[5][Carolin Emcke] schickt dem Abend eine Triggerwarnung voraus. Denn es
wird heftig. Die ersten Ränge sind mit Schulklassen besetzt, diese Art von
Ansage kennen sie aus sozialen Medien. Köpfe senken sich. Augen klappen zu.
Weiterscrollen oder zurückklicken, um eine Stelle besser zu verstehen, das
klappt nicht, so der „Feed“ auf einer Bühne stattfindet. Hörbücher und
Podcasts sind heute ein Nebenbeimedium. Hier aber wird jetzt eineinhalb
Stunden lang ruhig vorgelesen, das Wort per Blickwechsel übergeben.
Die Hände liegen auf den Knien. Die Knie stoßen an den Vordersitz. Der
Handlungsspielraum ist zu beiden Seiten maximal begrenzt. Links fließen
Tränen. Rechts wird eine Maske geradegerückt. Jemand verschluckt sich.
Carolin Emcke klettert von der Bühne, reicht ihr Wasserglas ins Publikum.
Erinnerung sei Arbeit, das hatte sie zu Beginn gesagt. Es ist Arbeit, wenn
sich die Auseinandersetzung mit einer unbekannten Geschichte nicht durch
Paralleltätigkeiten verwässern lässt und sich im Kopf Schreckensbilder
aufzutürmen beginnen.
Viele glauben, dass wir nicht erst in der Pandemie das echte Zuhören
verlernt haben.
In der gewollt monotonen Art des Lesens zerfällt der kollektive Schrecken
in Einzelstimmen. Manchmal mischt sich das Monströse mit dem Vorstellbaren,
oft aber auch nicht.
Die 11-jährige Ruth Klüger, so schrieb sie später, möchte sich in einem
Selektionsverfahren, bei dem arbeitsfähige Frauen zwischen 15 und 45
ausgewählt werden, aus Renitenz zunächst partout nicht älter machen, wie es
ihre Mutter ihr aufträgt – womit die sie aber rettet. Jean Améry dagegen
beschreibt den Klang seiner berstenden Schultergelenke neben seinen Ohren,
als er an einem Haken unter die Decke gezogen wird. Klar wird: Die
Erinnerung überlebt in solchen Begegnungen. Die Zeit heilt niemals alle
Wunden. Aber die Haltung, nicht die Hoffnung, sie stirbt zuletzt.
14 Nov 2022
## LINKS
[1] /Primo-Levi-warnte-vor-neuem-Faschismus/!5609969
[2] https://www.muenchner-kammerspiele.de/de/mk-forscht/1194-erinnerung-als-arb…
[3] /Neues-Buch-von-Carolin-Emcke/!5346942
[4] /Berlinale-Born-in-Evin/!5568974
[5] /Gegenwart-und-Zukunft-queerer-Kaempfe/!vn5865081
## AUTOREN
Johanna Schmeller
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