# taz.de -- Schau zu vergessenen Fotografinnen: Zwei Schwestern aus Frankfurt | |
> Sie liebten ihren Beruf und waren weltbekannt. Eine Schau in Hessens | |
> Metropole zeigt die von den Nazis verfolgten Fotografinnen Nini und Carry | |
> Hess. | |
Bild: Nini & Carry Hess: Frauenporträt („Ärztin“), 1920–1930, Berlinisc… | |
Dass Frauen in der männerdominierten Fotogeschichte eine eigene, die | |
Bildsprache prägende Stellung einnahmen, belegte vor Kurzem die im New | |
Yorker Metropolitan Museum of Art gezeigte Ausstellung „The New Woman | |
Behind the Camera“. In London hob die Four Courners Gallery in ihrer | |
Ausstellung „Another Eye“ den Beitrag von 21 aus Deutschland und Österreich | |
geflohenen Fotografinnen für die britische Bildpublizistik und | |
Fotogeschichte hervor. | |
Auch in Deutschland gibt es Wiederentdeckungen einst bekannter und | |
vielbeachteter Fotografinnen, deren Leben und Werk auf Grund unserer | |
Geschichte und ihrer Akteure verdrängt und vergessen wurden. Ein trauriger | |
Befund, der bislang auch für die Schwestern Nini und Carry Hess galt. | |
Das Museum Giersch der Goethe-Universität Frankfurt am Main durchbricht mit | |
einer ersten komplexen Retrospektive zu den beiden Schwestern dieses | |
bleierne Verschweigen. Dass die Mainmetropole der richtige Ort für diese | |
von dem Literaturwissenschaftler Eckhardt Köhn und der Kunsthistorikerin | |
Susanne Wartenberg kuratierte Präsentation ist, liegt nahe, war Frankfurt | |
doch der Geburtsort von Stefanie „Nini“ (1884–1943?) und Cornelia „Carr… | |
Hess (1889–1957). | |
Sie wuchsen in einem großbürgerlichen jüdischen Elternhaus auf. Noch vor | |
dem Ersten Weltkrieg eröffneten sie 1913 unter ihren veränderten, modern | |
und dynamisch klingenden Vornamen ihre „Werkstätte für die Lichtbildkunst“ | |
in Frankfurts Börsenstraße. | |
## Anlaufstelle für Wissenschaftler und Künstler | |
Ihr am Rathenauplatz gelegenes Atelier wurde schnell zu einer bekannten | |
Anlaufstelle für Wissenschaftler und Künstler, nicht nur des Frankfurter | |
Kulturlebens. In einem Nachruf auf Carry Hess im New Yorker Aufbau hieß es | |
rückblickend: „Das Atelier genoss einmal Weltruf. Wer durch Frankfurt kam, | |
mit Rang und Namen, saß bald vor ihrer Linse. So entstanden Aufnahmen, die | |
man heute als klassische Porträts der Lichtbildkunst bezeichnen kann.“ | |
Zu den Porträtierten zählten unter anderem Max Beckmann, Elisabeth Bergner, | |
Alfred Döblin, Kasimir Edschmid, Leonhard Frank, Carl Gustav Jung, Gustav | |
Landauer, Katia und Thomas Mann, Anna Pawlowa, Hans Poelzig, Albert | |
Schweitzer, Margarete Susman, Mary Wigman, Carl Zuckmayer. | |
Beide Schwestern beteiligten sich 1926 an der „Deutschen Photographischen | |
Ausstellung“ in Frankfurt am Main, der ersten nationalen Fotoausstellung | |
nach dem Ersten Weltkrieg. In ihrer Heimatstadt waren Nini und Carry Hess | |
bestens vernetzt, nicht nur in der Musik- wie Theaterszene, sondern auch | |
mit wichtigen Personen der Lokalpresse. | |
Schon 1925 urteilte Bernhard Diebold, Redakteur der Frankfurter Zeitung und | |
einer der angesehensten Kritiker der Weimarer Republik, zu den Fotografien | |
der Schwestern: „In den hier gezeigten ‚Bildnis-Aufnahmen‘ … erkennt man | |
die feinfühlige Einstellung auf den ruhigsten Moment im Gesicht und Haltung | |
eines Menschen. Diese Leute sind nicht ‚gestellt‘, sondern in ihrem | |
typischen Augenblick ‚erlauert‘ … Erstaunlich, daß es Frauen sind, die d… | |
Dekorative und das Scheinkünstlerische des Lichtbilds mit ihrem starken | |
realistischen Empfinden zu überwinden suchen. Sie nutzen die Maschine nicht | |
zu vagen Zauberkünsten und nicht zu bloß mechanischer Kopie. Sie suchen auf | |
geradem Weg zwischen Bildnerei und Technik den Stil des Lichtbilds.“ | |
## Beeindruckende Rollenporträts | |
Neben der Porträtfotografie zählen beeindruckende Aufnahmen aus Theater | |
und Ausdruckstanz zum Oeuvre der Fotografinnen. Sie schufen beeindruckende | |
Rollenporträts, in denen sie nicht die Pose, sondern den Charakter der | |
Rolle festzuhalten suchten. Besondere Beachtung verdienen die Fotografien, | |
die Nini und Carry Hess vom Moskauer Künstlertheater „Habima“, einer | |
jüdischen Theatertruppe, erstellten. Ihre kontrastreichen Fotografien | |
illustrierten das 1928 von Bernhard Diebold textlich begleitete Fotobuch | |
„Habima. Das hebräische Theater“. | |
Die Aufnahmen zeigten die Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne, als | |
Ganzfigur, im Brustbild oder Porträt, betonten durch Licht und Schatten | |
deren Gestik und Mimik. Fotos von Nini und Carry Hess fanden weit über | |
Frankfurt hinaus vielfache Nutzung in der illustrierten Presse und auf | |
deren Titelblättern, aber auch in Fotobüchern wie „Menschen der Zeit“, | |
Fachzeitschriften wie Das Atelier des Photographen oder Jahrbüchern wie | |
„Das Deutsche Lichtbild“. | |
Hervorgehoben sei das 1930 erschienene Buch „Das Frauengesicht der | |
Gegenwart“ von Lothar Brieger, das zahlreiche Porträtaufnahmen von Nini und | |
Carry Hess enthielt. In einem 1926 erschienenen Artikel „Wenn ich | |
photographiere“ hatte Carry Hess beschrieben, mit welch psychologischer | |
Einfühlung sie ihren höchst unterschiedlichen Kunden zu begegnen verstand, | |
um zu bekennen: „Ich liebe meinen Beruf, weil er mir ständig neue Anregung | |
gibt, indem er mich täglich von neuem dem Problem ‚Mensch‘ in jeder Fasson | |
gegenüberstellt.“ | |
## 1933 nach Frankreich emigriert | |
Die Machtübertragung an die Nationalsozialisten setzte dieser Passion ein | |
jähes Ende. Carry Hess emigrierte schon 1933 nach Frankreich. Ihre | |
Bemühungen, in Paris ihre Arbeit als Fotografin fortzusetzen und eine | |
Existenz auch für ihre Schwester zu schaffen, blieben erfolglos. | |
Nach dem Einmarsch deutscher Truppen wurde sie wie andere deutsche | |
Emigrantinnen im Lager Gurs interniert. Über das Kriegsende hinaus lebte | |
sie unter schwierigsten Bedingungen in Südfrankreich, seit 1949 ohne festes | |
Einkommen und gesundheitlich schwer beeinträchtigt wieder in einer winzigen | |
Wohnung in Paris. | |
Erst 1955 führten ihre Wiedergutmachungsanträge und Widerspruchsverfahren | |
zur Bewilligung einer kleinen Rente sowie einer einmaligen | |
Ausgleichszahlung. Zu spät, um ihr eine sorgenfreie Existenz zu | |
ermöglichen. Carry Hess starb im August 1957 im schweizerischen Chur. | |
Ihre Schwester Nini, die bei ihrer Mutter in Frankfurt geblieben war, hatte | |
sich vergeblich um Auswanderung bemüht. Sie musste erleben, dass SA-Männer | |
während des Novemberpogroms das Atelier, Bild- und Negativarchiv | |
zerstörten und Kameras stahlen. Ihre 83-jährige Mutter wurde im September | |
1942 [1][nach Theresienstadt verschleppt]; im Theresienstädter Gedenkbuch | |
wird ihr Tod für den 6. 1. 1943 angegeben. Zu ihrer Tochter Nini fehlt ab | |
März 1942 jede Spur, es ist zu vermuten, dass auch sie deportiert und | |
ermordet wurde. | |
## Akribischer Sammler und Rechercheur | |
Angesichts der vollständigen Zerstörung von Atelier und Archiv, der | |
Ermordung von Nini und des frühen Todes von Carry Hess waren umfangreiche | |
Archivrecherchen, Ankäufe von Büchern und Zeitschriften notwendig, um die | |
Biografien und Arbeitsschwerpunkte der beiden Schwestern rekonstruieren zu | |
können. | |
Es darf als Glücksfall betrachtet werden, dass der emeritierte | |
Literaturwissenschaftler Eckhardt Köhn nicht allein der akademischen | |
Fußnote verpflichtet, sondern auch ein akribischer Sammler und Rechercheur | |
ist. In Zusammenarbeit mit Susanne Wartenberg entstand eine überaus | |
sehenswerte Ausstellung zu den fotografierenden Geschwistern, in der 120 | |
Originalfotografien von 27 Leihgebern präsentiert werden. Bislang | |
erinnerten in Frankfurt Gedenkblöcke am Gedenkort Neuer Börneplatz sowie | |
Stolpersteine vor der letzten frei gewählten Adresse an Nini und Carry | |
Hess. | |
Die aktuelle Ausstellung sowie das ansprechend gestaltete, mit dem | |
Deutschen Fotobuchpreis 2021/22 prämierte Katalogbuch, das mit einer | |
erstaunlichen Fülle von Fotografien, Druckbelegen aus Büchern und | |
Zeitschriften, Schreiben an Behördenvertreter, Dokumenten aus der Akte des | |
Frankfurter Oberfinanzpräsidenten aufwartet, verleihen den beiden | |
Fotokünstlerinnen eine würdige, bleibende Erinnerung. | |
18 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Holocaust-Gedenktag/!5827463 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Weinke | |
## TAGS | |
NS-Verfolgte | |
Jüdinnen | |
Fotografie | |
Podcast „Vorgelesen“ | |
Frankfurt am Main | |
Kolumne Südlicht | |
Bildende Kunst | |
Frauen | |
Fotografie | |
Denise Scott Brown | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Lesungen über Erinnerungsarbeit: Mit den Stimmen der Vergangenheit | |
Die Gegenwart braucht die Erinnerung. Aber wie sie gelingt? In den Münchner | |
Kammerspielen lasen drei Frauen aus Erinnerungen an Konzentrationslager. | |
Atelier im Fokus einer Ausstellung: Wer steht da eigentlich im Atelier? | |
Hierarchiefreies Nebeneinander ohne Vorwarnung: Die Whitechapel Gallery in | |
London stellt das Atelier als Ort der Kunstproduktion vor. | |
Wiederentdeckung einer Fotografin: Fester Blick, ohne Retusche | |
2015 tauchte der Nachlass der einst erfolgreichen Fotografin Gerty Simon | |
auf. Nun sind ihre Werke in der Berliner Liebermann-Villa zu sehen. | |
Frauen in der Fotografie: Eine Fotografin für die Queen | |
Das Metropolitan Museum of Art richtet mit Fotografinnen aus der Zeit | |
zwischen 1920 und 1950 die Retrospektive „The New Woman Behind the Camera“ | |
aus. | |
Ausstellung zu Denise Scott Brown: Bummel durch die Fake Street | |
In einer Wiener Schau kann man die Architektin, Fotografin und Autorin | |
Denise Scott Brown entdecken. Postmodernen Ironikern dürfte sie gefallen. |